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Das dritte Schild

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14.04.2002
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Das dritte Schild

Mit verzerrtem Mund und einem Schimmer des Wahnsinns in den Augen nimmt er Anlauf und wuchtet seinen Kopf gegen die weiß geflieste Wand. Kraftlos sackt er zusammen und bleibt auf dem Boden sitzen. Über seine Schläfen bahnen sich dünne, rote Rinnsale ihren Weg.

Irena wendet sich ab. Wenn der Tag schon so beginnt, wie wird er dann erst enden, fragt sie sich.
„Das macht er schon den ganzen Morgen“, erklärt Dr. Kemmer. „Anlauf nehmen, mit dem Kopf gegen die Wand donnern, zusammengekauert auf dem Boden sitzen, sich für die nächste Attacke erholen. Und wieder …“
„O, bitte, hören Sie auf!“ Irena verdunkelte das Sichtfenster. „Was soll ich denn machen?“
„Lassen Sie es nicht zu, Irena!“, beschwört Kemmer. „Wie weit wollen Sie noch gehen? Reicht Ihnen das nicht?“ Völlig unerwartet schaltet er die Verdunkelung des Sichtfensters aus. Bevor Irena den Blick abwenden kann, sieht sie, wie Joe mit dem Kopf gegen die Wand donnert.
„Wir hatten doch eine Abmachung, Irena. Haben Sie das vergessen? Überlegen Sie sich endlich, was wir mit ihm tun!“ Dr. Kemmers Stimme klingt gepresst.
„Ich weiß es noch nicht.“ Irena versucht ruhig zu wirken. „Er wird es noch aushalten müssen, bis ich mir darüber im Klaren bin. Vielleicht versuchen wir den Vorgang noch einmal, vielleicht verpassen wir ihm Memo-min und lassen ihn laufen ... Ich weiß es nicht.“ Sie stellt die Verdunkelung wieder an und wendet sich zum Gehen. Doch Kemmer packt sie am Arm und reißt sie herum.
„Sie sind eine Bestie, Irena. Hat Ihnen das schon jemand gesagt?“
Es gibt Augenblicke, da hasst sie sich dafür, ihr Leben der Wissenschaft verschrieben zu haben. Dr. Irena Narin löst sich aus der Umklammerung. „Das Fenster bleibt geschlossen und lassen Sie ihn endlich ruhig stellen, damit er sich nicht verletzen kann. Das hätten Sie schon längst tun sollen!“ Sie funkelt Dr. Kemmer an. „Irgendwann wird er damit aufhören, glauben Sie mir!“ Damit macht sie kehrt und verlässt die Station. Sie wendet ihren Schritt der Allee zu, die sie über das Firmengelände zum Collector-Raum führt.

***
Im hintersten Winkel eines vergammelten Cafés hatte sie ihn entdeckt. Irena hat ein feines Gespür. Eine Art sechsten Sinn. Manche würden es eine Gabe nennen. Sie nennt es einfach ihr „Kribbeln im Nacken“.
Sie hatte seine Blicke ignoriert. In dem Wissen, dass er kein Mann war, der ignoriert werden wollte. Sie hatte Recht behalten. Schon einige Minuten später tranken sie gemeinsam mit zwei Strohhalmen aus einem Cocktailglas, scherzten und lachten miteinander und verließen Seite an Seite das Lokal.
Martin hieß er. Als sie sich vor ihrem Haustor küssten, fragte sie, ob er noch mit hoch kommen wollte.
„Meine Frau wird nicht begeistert sein, wenn ich zu spät nach Hause komme.“
Sie lachte. „Du bist verheiratet?“
Er nickte. „Macht es dir etwas aus?“
„Hast du gar kein Gewissen?“, fragte sie in scherzhaft mahnendem Ton. Die Antwort darauf hatte ihr das Kribbeln im Nacken bereits im Café verraten.

***
Irena öffnet die Türe zum Collector-Raum, der am anderen Ende des Firmengeländes in einer geschützten Abteilung liegt.
Seit drei Wochen fährt sie tagtäglich diese Strecke. Für das neue Projekt der Firma. Für eine weitere große Errungenschaft. Schmutzige Geschäfte für ihre Bosse, deren Gesichter sie nur aus der Firmenbroschüre kennt.
Aber sie hat dieses Projekt übernommen und bürgt dafür. Deshalb verfolgt sie seinen Verlauf mit regem Interesse. Schließlich wählt sie persönlich die Probanden aus. Sie fühlt, wer dafür in Frage kommt. Kein anderer hätte die Fähigkeiten dazu. Nicht für dieses Projekt. Nicht für die Erforschung des menschlichen Gewissens.
„Tag, Peters!“ Irena nickt dem jungen Arzt am Computer freundlich zu und betrachtet dann die Statistiken, die bunt auf dem Monitor erscheinen.
„Wie sieht der Bericht aus?“, fragt sie.
„Keine Auffälligkeiten. Technisch und medizinisch alles in Ordnung.“
An der Glaswand, die einen Teil des Raumes abtrennt, ist ein Drehschalter, mit dem Irena die Verdunkelung öffnet. Durchscheinende Gefäße kommen zum Vorschein, gerade so groß, dass sie ein Gehirn fassen können. Von abgeschirmten Neonlampen in diffuses Licht gesetzt.

***
Schon beim Betreten des Delikatessenladens hatte sich Irenas sechster Sinn bemerkbar gemacht. Sie nahm den Einkaufswagen und schob ihn durch die Gänge, immer ihrem Gespür nach. Am Kühlregal machte sie Halt. Sie blickte sich um, als würde sie nach dem richtigen Produkt suchen, während es in ihrem Nacken schon unerträglich kribbelte. Dann legte sie die Hand um den Hals der Milchflasche, zeitgleich mit dem Mann, den sie zuerst nur im Augenwinkel wahrnahm. Irena war nicht erschrocken. Sie hatte es gespürt, es musste zu dieser Begegnung kommen.
„Verzeihung“, sagte er mit einem Blick, der ihr gesamtes Gesicht abtastete und an ihren Augen hängen blieb.
„Bitte“, antwortete Irena kühl und ließ die Finger langsam über den Flaschenhals gleiten.
„Darf ich Sie an die Bar einladen?“, fragte er, als sich Irena abwenden wollte.
„An die Fruchtsaftbar, gleich hier.“ Er deutete mit der Milchflasche in der Hand zum anderen Ende des Geschäfts.
„O, gerne.“ Irena setzte ein verlegenes Lächeln auf. „Fruchtsaftbar. Fast ein Zungenbrecher, nicht?“ Nebeneinander schoben sie ihre Einkaufswagen zur Bar.
Leo hieß er. Er bestellte einen Fruchtcocktail aus dunklen Beeren. Gemeinsam schlürften sie mit zwei Strohhalmen aus dem selben Glas. Gemeinsam verließen sie den Laden Richtung Irenas Wohnung. Seinen Einkaufswagen ließ Leo an der Fruchtsaftbar einfach stehen.
„Du hast die Milch vergessen!“, bemerkte er, als sie um die Ecke waren.
„Tatsächlich!“, antwortete sie. „Dann muss ich noch einmal…“
Er zwinkerte ihr zu und unter seinem halb geöffneten Mantel blitzte das Glas der Milchflasche hervor.
„Hast du gar kein Gewissen?“, fragte sie. Dann wuschelte sie ihm das Haar. „Na, da hab ich ja einen feinen Fang gemacht…“

***
Langsam wandert sie von einem der Gefäße zum anderen. Drei waren notwendig, drei wurden von der Chefetage genehmigt. Mit scharfem Blick kontrolliert sie jedes einzelne. Auf jedem ist ein Schild angebracht. „Martin“, „Leo“ und auf dem letzten Schild steht „Joe“. Obwohl dieses Gefäß noch leer ist.
Darunter sind kleine Schaltpulte angebracht, deren Hebel verschiedenste Einstellungen zulassen. Von dort aus laufen kabelähnliche Verbindungen zu den Gefäßen.
„Sauerstoffzufuhr?“, fragt Irena ohne ihren Blick abzuwenden.
„Keine Auffälligkeiten.“ Peters klingt, als möchte er noch etwas nachsetzen. Irena dreht sich zu ihm um. Er würde keinen geeigneten Probanden für dieses Projekt abgeben, fällt ihr eben auf. Kein Kribbeln im Nacken. Im Gegensatz zu Kemmer. Seine Gegenwart jagt ihr regelrecht kalten Schauer unter den Haaransatz, was aber durchaus auch an seiner anstrengenden Art liegen kann, denkt sie amüsiert.
Dann sieht sie Peters aufmunternd an. „Wer nicht fragt, lernt nichts.“
Er tritt an ihre Seite und holt tief Luft, bevor er ansetzt. „Warum ist es unbedingt notwendig, für die Untersuchung die Gehirne aus dem Körper zu entfernen? Und“, er schluckt hörbar, „wo bleibt der ethische Aspekt, wenn man sie in diese Gefäße einlegt und mit dem Computer vernetzt, um sie zu erforschen?“
Irena lächelt. „Und ich überlege mir schon die ganze Zeit, warum sie das nicht schon eher gefragt haben. Sie sind noch jung, Peters. Nützen Sie die Zeit! Eines Tages werden Sie nicht mehr fragen, glauben Sie mir. Man stumpft ab. Aber ich will Ihnen einige Aspekte liefern, die Sie in den nächsten Stunden Ihres Dienstes durchdenken können: Gewissen lässt sich nicht in Worte fassen. Man findet es nur anhand der Reaktionen in den verschiedensten Hirnregionen. Chemische Vorgänge, Vernetzungen, Freisetzen von Energie, darin liegt die Lösung. Würden die hier angeschlossenen Gehirne aber in ihrer menschlichen Hülle stecken, könnten sie nicht alle Informationen weitergeben. Man kommt einfach nicht nah genug heran an den Ursprung, den Quell der Gedanken, die chemischen Prozesse und damit an das Gewissen selbst. So aber können die Daten eins zu eins abgelesen werden. Jede einzelne Aktivität in jeder noch so kleinen Hirnregion wird vom Computer gespeichert, wie sie wissen, und alle Viertelstunden neu ausgewertet. Es wäre unmöglich, diese Untersuchung am lebenden Menschen vorzunehmen. Die Probanden müssten wochenlang still liegen und hätten obendrein große Schmerzen auszuhalten. Wo bliebe da wohl der ethische Aspekt, Peters?“
Irena hat keine Ahnung, ob er sich damit zufrieden geben würde. Seiner gerunzelten Stirne nach zu urteilen hätte er noch eine Menge Fragen. Doch dazu bleibt keine Gelegenheit mehr. Aufdringlich laut schrillt Irenas Handy in der Tasche ihres weißen Mantels.

***
Die Bekanntschaft mit Joe war purer Zufall. Im „Saunaparadies“. Erst hatte sie gar nichts gespürt. Ihr sechster Sinn hatte sich nicht eingeschaltet. Nicht gleich. Als sie die Türe zur Saunakammer öffnete, saß er da. Auf der obersten Bank. Alleine. Das Handtuch locker um die Lenden geschlagen lächelte er sie an. Sie nickte bloß und fühlte, wie sie rot wurde. Zum Glück war das Licht gedämpft.
Sie setzte sich auf die unterste Stufe und fühlte ständig seinen Blick in ihrem Nacken. Joe wählte aus den ätherischen Ölen einen wunderbaren Duft aus, den er auf die heißen Briketts tropfen ließ. Vanille. Ihr Lieblingsduft. Er sorgte für den Aufguss und drehte das Handtuch über seinem Kopf so stark, dass all die Hitze in der Saunakammer auf Irena niederströmte. Sie konnte kaum atmen. Aber es war reinigend. Für Irenas Körper wie für ihre Seele.
Anschließend gingen sie gemeinsam an die Bar, tranken mit zwei Strohhalmen aus einem Cocktailglas. Dann fuhr Joe sie heim.

***
Als Irena den Anruf entgegennimmt, erkennt sie Kemmers aufgebrachte Stimme: „Hören Sie, Irena. Ich kann nicht mehr. Sie wissen, ich war von Anfang an gegen diese Sache. Dieses Projekt ist … mein Gott, wie soll ich es ausdrücken? Es ist … Mord! Ist Ihnen das schon in den Sinn gekommen? Wir morden. Um der Wissenschaft Ergebnisse zu liefern. Und wofür? Wofür, frage ich Sie!“
„Dr. Kemmer, beruhigen Sie sich, bitte!“
„Nein, ich werde mich nicht beruhigen. Ich werde aussteigen… “
„Dr. Kemmer!“
„Sie haben richtig gehört, ich werde aussteigen. Hören Sie, Irena ich kann das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.“
„Dr. Kemmer! Sie haben all das schon vorher gewusst, bevor sie sich dem Projekt verpflichtet haben. Und jetzt benehmen Sie sich um Himmels Willen wieder wie ein Erwachsener und machen sich an Ihre Arbeit!“
„Wie können Sie nur so gewissenlos sein? Und wenn wir schon dabei sind: Haben Sie sich überlegt, was Sie mit diesem Joe machen wollen? Sie können ihn nicht umbringen und wie die anderen einfach wegwerfen und sie können ihn auch nicht ewig gegen die Wand rennen lassen.“
„Ich weiß es noch nicht!“, fuhr Irena Dr. Kemmer an.
„Irena, haben Sie es noch immer nicht verstanden? Seit seinem Auftauchen ist das Projekt gefährdet. Man wird uns auf die Schliche kommen. Mir, Ihnen, der Firma. Sie können es nicht aufhalten.“
„Es ist alles gut getarnt, das wissen Sie.“
„Eines Tages wird man dahinter kommen, das wissen Sie so gut wie ich. Was wollen Sie dann machen?“
„Dasselbe wie schon so oft in der Geschichte der Menschheit. Man wird irgendeinen Irren finden, der diese Morde, wie Sie es nennen, gestehen wird. Es gibt immer einen Verrückten, der sich für so etwas freiwillig meldet, weil er als Serienkiller in die Geschichte eingehen will. Nichts ist also gefährdet, wenn Sie es nicht außer Kontrolle bringen. O, bitte, Dr. Kemmer! Es fehlt nur noch ein Proband, ein einziger, dann haben wir es geschafft.“
„Aber Joe ist nicht …“
„Die Sache mit Joe lassen Sie meine Sorge sein!“
Keine Antwort.
„Dr. Kemmer?“
Leises Schluchzen am anderen Ende der Leitung.
„Okay, Dr. Kemmer. Ich komme zu Ihnen auf die Station. Wir werden dann die ganze Sache in Ruhe besprechen. Wie geht es … wie geht es Joe übrigens?“
„Er schläft.“

***
Sie hätte Joe niemals als Probanden in Betracht ziehen dürfen. Mit ihm hat sich alles verändert. Zu spät hatte sie bemerkt, dass es nicht ihr sechster Sinn war, der sie auf Joe angesetzt hatte, sondern jener chemische Vorgang, der sich in jedem menschlichen Körper bei Verliebtheit einstellt. Doch als sie dieses Gefühl analysiert hatte, lag Joe schon narkotisiert auf dem OP-Tisch und Dr. Kemmer hatte den Vorgang des Ablebens bereits eingeleitet.
Von da an gab es kein Zurück mehr. Joes Kreislauf war herabgesenkt und seine Körperaktivitäten liefen auf Minimum. Gerade so viel, dass der Körper tot, sein Gehirn jedoch noch aktiv war.
Dann schien irgendetwas schief zu laufen. Völlig unerwartet. Joes Kreislauf wurde stabiler und er schlug plötzlich die Augen auf.
Niemand fand eine Erklärung dafür. Nicht einmal Dr. Kemmer.

***
Irena hat die Station schon fast erreicht, da schlägt ihr Pieper an. Kemmer, bestimmt! Ein Blick sagt ihr, dass sie richtig liegt. Warum macht er jetzt bloß solchen Stress?
„Schnell, Irena, kommen Sie!“ Dr. Kemmers Sekretärin winkt schon von weitem. „Schnell! Es ist etwas mit Dr. Kemmer! Er ist…tot!“ Sie bricht in Tränen aus und wirft sich heftig schluchzend an Irenas Schulter.
„Was? Wo ist er?“, ruft Irena und schiebt die Sekretärin von sich.
„Es ist ganz eigenartig“, heult sie. „Er liegt auf dem OP-Tisch. Hat sich selbst an die Geräte gehängt. Ich hab nichts angefasst. Nichts! Er hat sich umgebracht, Irena!“, schluchzt sie.
„Machen Sie Meldung. Ich kümmere mich darum. Ach ja, lassen sie Joe eine Dosis Memo-min verabreichen und ihn auf eines der Krankenzimmer verlegen. Er soll sich an nichts mehr erinnern.“
Wie in Trance steuert Irena auf den OP-Raum zu. Etwas macht sie stutzig. Wie sollte sich Kemmer eigenhändig an die Geräte angeschlossen haben?
Die Bilder der vergangenen drei Wochen jagen wie tausend bunte Glassplitter durch ihren Kopf. Immer wenn sie sich fragt, was an der Sache falsch gelaufen ist, kommt sie zum selben Schluss: Sie hat einen riesigen Fehler gemacht, in dem Augenblick, als sie Joe begegnete. Sie hatte Gefühle ins Spiel gebracht. Nichts ist gefährlicher! Sie hat es vermasselt. Und das obwohl nur ein einziger Proband gefehlt hätte. Nur noch einer!
Irena beschleunigt ihren Schritt. Es gibt noch eine Möglichkeit, die Sache zu Ende zu bringen. Eine einzige. Und dafür wird Dr. Kemmer sorgen.
Irena stößt die Türe zum OP-Raum auf, während sie sich Einweghandschuhe überstreift. Sie hört das Piepsen der Geräte. Dr. Kemmer liegt auf dem OP-Tisch. Vergessen ist der Gedanken, wie er dorthin gekommen ist. Vergessen, die Frage, wie er sich an die Geräte angehängt haben soll. Nur das Projekt ist wichtig. Und ein positives Ergebnis. Die Firma kann auf sie zählen.
Irena schaltet den Computer ein. Ihr Nacken kribbelt.
„Bericht!“, verlangt sie mit bebenden Lippen.
„Organaktivitäten eingestellt, Kreislauf heruntergefahren…“, Irena registriert nicht alle Informationen, während sie sich auf die Operation vorbereitet. Nur die Wichtigste: „Gehirn aktiv.“
Es lebt! Noch!
Jetzt heißt es rasch handeln. Das Projekt muss gerettet werden. Kemmers Gehirn wird das dritte sein, um das menschliche Gewissen erforschen zu können.
Irena rasiert Kemmers Kopfhaar und setzt die Kreissäge an die Schädeldecke.

***
„Ich glaube, mein Kopf explodiert“, stellt Joe mit schwacher Stimme fest, als er endlich die Augen öffnet.
„Bleiben Sie liegen. Sie brauchen noch viel Ruhe.“
„Was ist los? Wo bin ich?“
„Sie sind im Krankenhaus. Schon einige Tage. Ein Unfall. Sie sind in der Saunakammer ausgerutscht und mit dem Kopf gegen den Ofen geprallt, aber Sie hatten Glück. Nur ein paar oberflächliche Verletzungen. Und eine mächtige Gehirnerschütterung.“
„Du meine Güte! Ich kann mich gar nicht erinnern!“
„Das ist ein Schutz der Natur. Sie streicht solche schrecklichen Erlebnisse aus unserem Gedächtnis. Wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen ein anderes Mal mehr darüber. Aber jetzt schlafen Sie noch ein bisschen.“
„Wer sind Sie?“
„Ihre Ärztin. Dr. Irena Narin. Sie sollten jetzt aber wirklich noch ein wenig schlafen …“

 

Hallo Barbara!

Eine Geschichte von dir in der SF-Rubrik? :eek: Na da bin ich mal gespannt ... :)

Die Erforschung des menschlichen Gewissens – ein inhaltlich schon mal ziemlich interessantes Thema für die Wissenschaft und die phantastische Literatur (Obwohl man etwas nicht Greifbares nur schwer erforschen kann, oder?). Dass dabei die Gehirne aus den menschlichen Körpern entfernt und mit Computer vernetzt werden müssen, ist grausam und spannend für eine Kurzgeschichte zugleich – welche Ergebnisse würden solche Nachforschungen nur liefern?
Gleichzeitig hätte ich mir vorstellen können, dass dadurch denkende Computer entstehen, die eine Übermacht gegen die menschliche Rasse entwickelt – mit oder ohne Gewissen –, aber das wäre eine andere Geschichte geworden. :D

Zurück zum "Dritten Schild":
Wenn ich das anhand der sich wiederholende Frage »Hast du denn kein Gewissen?« richtig verstanden habe, wählt deine Protagonistin Irena Menschen für ihre Untersuchungen aus, die vermutlich kein Gewissen haben – um herauszufinden, ob dem wirklich so ist?
Bei der dritten Person fehlt diese Frage jedoch – das geheime Projekt droht zu eskalieren. Die Gefühle, die sie für Joe empfindet, stehen im Widerspruch zum Gewissen. Gefühle vs. Gewissen also.

Dann ist auf einmal Dr. Kemmer tot – und das Projekt dadurch womöglich doch noch zu retten. Joes Erinnerungen werden einfach gelöscht (Wenn es denn so einfach wäre ...). Am Ende erinnert sich Joe wirklich an nichts mehr.

Insgesamt gefällt mir deine Kurzgeschichte recht gut, ein paar Fragen bleiben für mich aber noch unbeantwortet:
Woher hat Irena ihren sechsten Sinn, der es ihr ermöglicht, die Probanten auszuwählen?
Warum ist Dr. Kemmer tot? Wie konnte er sich selbst an die Geräten anhängen?

Sprachlich ist dein Stil wieder angenehm zu lesen.

„Dr. Kemmer! Sie haben all das schon vorher gewusst, bevor sie sich dem Projekt verpflichtet haben. Und jetzt benehmen Sie sich um Himmels Willen wieder wie ein Erwachsener und machen sich an Ihre Arbeit!“
„Wie können Sie nur so gewissenlos sein? Und wenn wir schon dabei sind: Haben Sie sich überlegt, was Sie mit diesem Joe machen wollen? Sie können ihn nicht umbringen und wie die anderen einfach wegwerfen und sie können ihn auch nicht ewig gegen die Wand rennen lassen
Sie

Viele Grüße,

Michael :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Bärbel :),

hm, da fehlen mir irgendwie die Schlusssteine des Gebäudes. Warum kann das Gewissen nur an losen Gehirnen erforscht werden? "Hey du, Gehirn, findest du Fremdgehen richtig?!" :dozey: Warum ausgerechnet drei Gehirne? Warum besitzt sie einen sechsten "Der ist aber unmoralisch"-Sinn?

Deine Geschiche steht da auf ziemlich wackeligen Füßen. Und erforscht wird letzten Endes auch nichts. Die Handlung beschreibt nur das Sammeln der Probanden. Vollkommen unglaubwürdig finde ich auch, dass die Frau dann einfach Ihren Kollegen als unmoralisches Gehirn zweckentfremdet, obwohl er ja moralische Bedenken geäußert hat. Hm, Hm, Hm.

Fazit: Mittelpächtig spannende Geschichte mit äußerst krudem Hintergrund. Hat mir nicht so gut gefallen.


Liebe Grüße

Dante

 

Hallo

vielen Dank fürs Lesen und eure Kritiken, die mich nachdenklich stimmen. Ihr habt beide vollkommen Recht, da sind einige wunde Punkte drinnen, die aufgearbeitet gehören. Schlimm, schlimm!
Ich weiß nicht, ob ich's in nächster Zeit schaffe, aber irgendwann sicher.

@ Michael

Ja, ist eher ungewöhnlich, dass ich hier poste, aber es hat mich gejuckt, auch mal was in die Richtung zu probieren. Nur heißts noch: Feil, feil - und das gewaltig.

@Tante :)

Die Denkfehler, die du aufgedeckt hast, gehören dringend überdacht. Danke!

Tja, ich danke euch und werde mir sobald es möglich ist, das Gehirn zermartern :)

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Barbara,
ich muß meinen Vorkritikern recht geben.
Da fehlt einiges an Klärung und der Schluß könnte schon einen Knaller gebrauchen.
ABER...! Ich finde deinen Stil super!
Ich fing an zu lesen und dachte: He, das gibt einen richtigen Profiroman.
Dafür mein Kompliment.

Kleinigkeiten:
............
Seiner gerunzelten Stirne nach
.............Ich glaube „Stirne“ schreibt man nicht. Liest sich komisch.

..............
Er sorgte für den Aufguss und drehte das Handtuch über seinem Kopf so stark,
................Ich dachte erst, er würde das Handtuch umwringen. Ich glaube aber du meinst wirbeln?

Die Überarbeitung würde sich absolut lohnen. Diese Geschichte hat m.E. das Zeug zu einem richtig guten Ding.

Liebe Grüße
Manfred

 

Danke, Dreimeier, auch für deine Kritik! Schade, dass der Stil allein nicht reicht ;)

Zum Handtuch:
Bei uns sagt man das so, also, zumindest kenn ich es in dieser Art. Aber es könnte auch mit wringen gedeutet werden, da hast du Recht. Wird ausgebessert. Wie auch die Stirne. Weiß gar nicht, warum man das bei uns sagt. Hm.

Vielen Dank! Ich werd mich beizeiten bemühen, Änderungen vorzunehmen und zu überarbeiten. Vielleicht gelingt dann noch, was du beim Anlesen erwartet hast: ein richtiger Profiroman ... *träum* ;)

Liebe Grüße
Barbara

 

Hallo Barbara

Was mir an deiner Geschichte neben dem ausgefeilten Stil ganz beesonders gut gefällt ist der ungewöhnliche Aufbau, der gelungene Mix aus Gegenwart und Rückblende.

Dazu gesellt sich, für mich überaus interessant, eine Art Strophen- und Versform. Damit meine ich die periodisch auftauschende Struktur und das wiederholte Betonen von Sätzen wie "zwei Strohhalmen aus einem Cocktailglas" oder "Hast du gar kein Gewissen?".

Das macht den Text zu einer interessanten Leseerfahrung.

Leider muss ich an dieser Stelle ein "Aber" einfügen, denn inhaltlich war ich nicht ganz so begeistert. Dante hat mit dem Wort "krude" den Nagelkopf so ziemlich mittig getroffen.

Viele Dinge werden nicht ganz klar oder von dir einfach verschwiegen. Auch bleibt die Person der Doktorin dem Leser die ganze Zeit über recht fern. Sie erscheint seltsam kalt und unbelebt. Eine Beantwortung der Frage "Wie schafft sie es so einfach über ihre Gefühle für Joe hinweg zukommen?" hätte da schon viel geholfen.

Auch andere Fragen, die zum Teil schon von meinen Vorrednern gestellt wurden, werden nicht beantwortet, was immer einen Schatten auf dem Gesamteindruck hinterlässt :)

mfg
Hagen

 

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