Was ist neu

Das Dunkle

Mitglied
Beitritt
01.12.2003
Beiträge
8
Zuletzt bearbeitet:

Das Dunkle

Sie liegt friedlich da, nicht mal zugedeckt. Mit scheuer Neugier betrachte ich sie. Ich näher mich ihr zögerlich und berühre vorsichtig ihren Arm. Mit dem gleichen Ausdruck mit dem ich früher als Kind Hunde sah: fasziniert und zugleich mit respektvoller Zurückhaltung. Die Haut ist weich und kalt. Ich ziehe meine Hand wieder zurück. Ihr Kopf ist leicht auf die Seite gelegt, der Mund halb geöffnet, die Augen geschlossen. Ihre Hände sind auf dem Bauch gefaltet.
Nun ist es also vorbei. Ich fühle mehr Erleichterung als Trauer. Hinter mir ringen zwei Töchter mit der Erkenntnis, dass ihre Mutter ihnen nicht mehr in die Augen sehen wird. Eine dieser Töchter ist meine Mutter.

Schlüssel umdrehen, Wohnungstür öffnen. Meine Mutter telefoniert mit geröteten Augen. In der Küche der halb ausgeräumte Einkaufskorb. Die Zeit eingefrohren, den Alltag in die Ecke gestellt weil er keine Rolle mehr spielt. Ich denke kurz: Ist der Tod Schuld wenn die Milch schlecht wird? Oder der Schmerz? Aus dem Hörer in ihrer Hand hallt das stumme Klagen. Ich nehm sie in den Arm, halte sie fest - Sie löst sich auf, weint in meinen Pullover, durch ihn durch, in mich hinein. Ich nehme ihre Trauer auf und verstaue sie in der äußeren Ruhe. Doch ich kann sie nicht halten. Also füll ich sie in Tränen und lasse sie wieder frei.
Die Ruhe kommt erst mit der Zeit. Wenige Worte. Ich lasse sie reden, frage nach. Dann fahre ich sie.

"Komisches Gefühl - so ganz ohne Eltern. Man fühlt sich verlassen und allein wenn da niemand mehr ist." Sie guckt abwesend aus dem Fenster. Die Landschaft fliegt an uns vorbei. Ich bemühe mich um eine feste Stimme. "Du hast schließlich immer noch uns!" Sie dreht ihren Kopf zu mir. Ein kurzer Blick, ein quälendes Lächeln aus erschöpften Augen. "Ja, das stimmt."

Dann bin ich in dem Raum und sehe meine Großmutter. Bleicher als sonst, kalt, leblos. Der Arzt konnte die Todesursache nicht feststellen.
Doch ich weiss den Grund. Ihre Seele ist Stück für Stück gestorben, wenn es sowas wie "Seele" gibt. Es scheint, als ob ihr Körper erst jetzt gemerkt hat, dass er nur noch die leere Hülle von etwas war, was schon längst nicht mehr existierte, was mit ihrem letzten Lächeln fortgegangen ist. Wie jemand der läuft und läuft und läuft, plötzlich stehen bleibt und merkt, dass er gar keine Beine mehr hat.
Ich hatte es gesehen nach ihrem letzten Schlaganfall: Wie die verbliebenen Spuren dessen, was einmal ein warmherziger, intelligenter Mensch gewesen war, ihren Körper verlassen hatten. Sie hatten Platz für etwas anderes gemacht, etwas Dunklem von dem ich noch nichts wusste. Damals hatte ich Abschied genommen, meinen persöhnlichen kleinen Abschied. Für mich war sie damals gestorben, in diesem Krankenhauszimmer. Damals hatte ich meine Tränen schon vergossen.

Ja, das Dunkle. Erst war nur eine Leere geblieben, aber die wurde abgelöst. Es kam und niemand war darauf vorbereitet. Es konnte nicht sprechen, aber es konnte verfluchen. Es konnte nicht lieben, aber es konnte verletzten. Es gab Tage, da sah man Funken der alten Wärme in den Augen aufblitzen und musste feststellen, dass es nur die Blitze eines tobenden Gewitters waren. Das Dunkle wollte nicht das Dunkle sein. Sein Dasein bestand allein aus dem Unwillen das zu sein was es war. Ein Karussel das sich im Kreis dreht, immer wieder, mit nur einem Passagier. Verzweifelt stemmte es sich mit der verbliebenen Kraft gegen das längst besiegelte Schicksal in einem nutzlosen Körper gefangen zu sein. Ohne Rücksicht. Wochenlang. Bis zu diesem Tag.

Mein Blick wandert von ihr weg und bleibt auf einem Bild hängen, welches auf der Komode neben dem Bett steht. Auf dem Foto sind meine Großeltern abgebildet. Das Foto ist schon etwas älter. Ihre Haare sind noch nicht ergraut. Sie müssen so um die 50 sein und stehen in einem Garten. Im Hintergrund kann man grüne Bäume und Hecken erkennen. Die Sonne scheint und beide sind sommerlich gekleidet. ich kann die Vögel im Hintergrund zwitschern hören. Mein Opa hält meine Oma im Arm. Sie lachen strahlend in die Kamera und ich weiss: Sie sind glücklich. Ich denke: Ich werde sie vermissen.

 

Hallo Reiskorn!

Herzlich willkommen!

Zur Geschichte: Liest sich größtenteils flüssig und angenehm, größere Holperstellen sind mir erstmal nicht aufgefallen. Inhaltlich unspektakulär, aber teilweise berührend. Alltag, Tod eines geliebten Menschen, Trost anderer. Kommt gut rüber, recht sensibel geschrieben.
Der Schluss, Blick aufs Foto der glücklichen Zeit, erscheint mir gelungen und rundet die Geschichte ab.

schöne Grüße
Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

Ja, ungefähr das wollte ich auch rüberbringen. Danke für deine Kritik. :-)
Ich persöhnlich finde den Titel etwas schlecht gewählt. ("Komprimiert") Konnte das hinterher aber nur noch im Text ändern.

edit: Komisch. Mittlerweile hat sich der Titel auch in der Rubrik geändert. Mir solls recht sein.

Gibte es noch andere Meinungen? Würde mich freuen. :-)

Reiskorn

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom