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Das ganze Leben

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01.03.2004
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Das ganze Leben

Ich bin viel zu sensibel für den Job. Schon meine Mutter hat immer gesagt „Franz, du bist so empfindsam! Du solltest einen Beruf wählen, welcher sich mit den schönen Künsten beschäftigt. Die Malerei oder Klavierspielen. Das wäre das Richtige für deine zarte Seele!“ Sie hat mir sanft über den Kopf gestrichen, wenn sie dies sagte und das tat sie oft. Ich war ein blasses, dünnes Kind und ich verwandelte mich mit der Zeit in einen ebensolchen Mann, nur den Beruf, den verfehlte ich. Ich bin viel zu sensibel für den Job. Meist muß ich dabei weinen, manchmal auch erst anschließend, aber Tränen fliessen immer. Das Leben von Menschen zu beenden in seiner letzten Konsequenz ist mein Beruf . Das ist schwer. Es tut weh. Selbst mir, wo es doch Fremde für mich sind. Mutter meinte oft, mir würden die Dinge eben näher gehen als den meisten Menschen, da hatte sie wohl recht, deshalb lese ich auch keine Zeitung, schaue selten nur die Nachrichten. Diese ganzen Toten. Das halte ich nicht aus. Zu sehr hämmeren sich die Bilder der Verzweifelten in mein Hirn. Schreiende Kinder auf den Armen ihrer Mütter, Verstümmelte im Strassendreck. Nein, ich versuche meine Freizeit so angenehm und friedlich wie möglich zu gestalten, wo ich doch schon an meiner Arbeit knallhart und entschlossen sein muß.

Gern sitze ich im Park im besten Zirn auf einer gepflegten Bank und lese Balzac oder Proust. Ich beobachte die Damen und erfreue mich daran, daß diesen Sommer die süßen Pünktchenkleider wieder Mode sind. Sie hüpfen so freundlich bein Gehen, als wollte mir ihr Saum zuwinken. Wenn es nach mir ginge, wäre der Himmel jeden Tag strahlendblau und die Mädchen auf der Schaukel würden immer lachen, während sie höher und höher fliegen. Meine Wohnung halte ich penibel sauber. Ich genieße es sehr im Glanz zu leben. Montags werden die Küchenschränke ausgeräumt und fein säuberlich die Zwischenböden gesäubert, anschließend räume ich vorsichtig Stück für Stück wieder ein. Meine Lieblingstassen sind Erbstücke von meiner Mutter. Echtes Meissnerporzellan in blau und weiß. Dienstags wasche ich die Buntwäsche. Mittwochs ist Kochwäschentag. Donnerstags ist das Wischen der Böden dran. Freitags bringe ich meine Anzüge in die Reinigung. Ich mag diesen Stärkegeruch sehr gerne, die Ordnung der Kleidungsstücke unter ihrem Plastikschutz an den Stangen, außerdem ist die Angestellte immer für ein kurzes, munteres Schwätzchen zu haben. Samstags gönne ich mir Besonnenheit und schreibe Briefe an alte Freunde. Ich verwende dafür feinstes Büttenpapier und einen echten Montblanc- Füller, welcher meinem Vater gehört hat. In diesen Briefen teile ich meinen Freunden meine Beobachtungen mit. Über meine Arbeit würde ich niemals schreiben, viel zu traurig, aber ein schönes, klassisches Konzert schildere ich gern in allen Einzelheiten. Sonntags gehe ich auswärts in einem kleinem Café frühstücken.

Sie sehen, mein Leben ist sehr beschaulich. Mein Alltag äußerst geordnet. Nie erlaube ich mir eine Abweichung von meinem gewohnten Rhythmus. Wenn nur meine Arbeit nicht wäre. Sie mich zumindest nicht so mitnehmen würde. Die Aufträge erreichen mich meist telefonisch. Erschreckenderweise sind sie größtenteils von den Kindern der Opfer. Den erwachsenen Kindern, denen die Alten lästig geworden sind, mit denen sie sich nicht mehr abmühen möchten. Oft leben sie ohnehin weit weg in anderen Städten. Ihre Stimmen am Telefon bemühen sich gedrückt zu klingen, während im Hintergrund ihre Kinder toben. „ Schauen Sie, was sie tun können! Ich bin Ihnen zu dank verpflichtet!“ Ich mag ihre Stimmen nicht. Diese aufgesetzt Gequälte hinter dem sich meines Erachtens die Abgebrühtheit und Gleichgültigkeit verbirgt. Es geht schließlich um ein Leben , aber das will wohl nicht in ihren Kopf. Mir zieht es das Herz zusammen überhaupt einen Auftrag zu bekommen, aber ich wüßte auch nicht, wovon ich sonst leben sollte. Wenn ich die Adresse der betreffenden Person erhalten habe, schlüpfe ich in meinen grauen Anzug und mache mich zu Fuß auf den Weg. Ich finde, diesen Fußmarsch bin ich der Person schuldig, damit erweise ich ihr Respekt und auch damit, daß ich immer meine grauen Lederhandschuhe trage, wenn ich meine Arbeit verrichte. Auf dem Weg zu meinem „Kunden“ denke ich darüber nach, was für ein Leben dieser Mensch wohl hatte, ob er auch gern Briefe geschrieben hat, viel gelacht hat oder mit Vorliebe sein Auto polierte. Ein Leben ist so vielseitig, viel zu schade, um seine „Säuberung“ anderen zu überlassen.

Es ist Donnerstag, als der nächste Auftrag hereinschneit mitten in mein Bodenwischen. „Stieglitzer Strasse 2 bei Knauff. Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte.“ Diesmal klang die Stimme schon beinah heiter erfreut, ich könnte schreien, lasse den Putzeimer samt Mopp gegen meine Gewohnheit mitten im Raum stehen, schlüpfe in meinen grauen Anzug und greife im Gehen nach den Handschuhen auf der Flurkommode. Es ist nicht weit bis dorthin, nur 15 Minuten Fußweg. Alles sieht beschaulich aus. Die Bürgersteige ausnahmsweise ohne Schokoladenpapier und Hundescheisse. Der leichte Wind spielt mit den Bäumen und meine Beine fühlen sich bleiern an. Wieder schwirrt ein imaginäres Leben in Bruchstücken durch meinen Kopf. All diese guten Momente und die schlechten. Ich bin mir bewußt, daß ich auf dem Weg zu einem schlechten bin. Dem schlechtesten überhaupt. Meine Mutter hätte ich dies nie angetan. Unterwegs entdecke ich eine der letzten gelben Telefonzellen, von dort rufe ich Egdar an. Edgar ist ein bulliger, großer Kerl. Mein Kompanion. Ich nenne ihm die Adresse, er soll in 5 Minuten dort sein. Auf Edgar ist Verlass. Er ist immer pünktlich, kann gut zupacken und ist auch nicht so weich wie ich.

Tatsächlich steht er schon vor dem Haus, als ich eintreffe. „Dann wollen wir mal!“ Ich muß schlucken, als wir die Treppen hinaufsteigen. Im 2. Stock liegt wie besprochen der Schlüssel unter der Fußmatte. Ein muffiger Geruch schlägt uns entgegen, als ich die Tür aufschließe. Edgar nennt dies den typischen Rentnergeruch, ich nenne ihn den Geruch eines ausgeatmeten Lebens. In der Wohnung rührt sich nichts, kein Laut. Wir durchschreiten die gesamte Dreizimmerwohnung, alte Mustertapeten mit Blumen, schwere Teppiche, viel Sperrmüll und hier und da eine schöne Antiquität. Plötzlich hören wir ein Geräusch auf dem Flur, dort steht eine alte Frau mit grauem Dutt und Küchenschürze. „Wer sind Sie?“ krächzt sie zwischen ihren schmalen Lippen hervor. Ich gehe auf sie zu, bevor sie lauter werden kann und sage „Darf ich mich vorstellen? Huber von Huber & Schmal. Nachlassverwalter. Traurig, das mit Frau Knauff.“

Drei Stunden später ist die Wohnung ausgeräumt. Die brauchbaren Sachen hievten wir in Edgars Lieferwagen. Der Rest landete am Strassenrand. Ich habe wieder geweint. Entgegen meine Gewohneit bin ich zwei Tage später nochmal hingegangen. Der Sperrmüll war noch nicht dagewesen. Es regnete und da lag der Rest eines ganzen Lebens auf dem Asphalt. Zerpflückt von gierigen Händen nach Brauchbarem. Ein Schwarzweißfoto hatte sich aus einem Fotoalbum gelöst und schwamm gerade auf den Gulli zu. Ich bückte mich rasch und rettete es. Ein blondes, lachendes Mädchen auf einer Schlaukel zwischen zwei Bäumen. Ich nahm es mit in meine Wohnung und pinnte es an die Wohnzimmerwand zu den anderen vergessenen Leben. „Irgendwas bleibt immer“ dachte ich in diesem Moment.

 

Hi mia.mo

Gute Idee. Der Leser wird auf die falsche Fährte gesetzt. Obwohl, ich dachte schon, jetzt muss noch ein Clou am Ende kommen, denn wäre er tatsächlich ein Killer gewesen, wäre sein Gehabe etwas unglaubwürdig angekommen. Es riecht nicht nach Ironie oder Spott wie es von einem Killer kommen könnte (wenngleich dies doch ein wenig von der Autorin zu kommen scheint, die Ironie verfliegt dann aber im letzten Abschnitt), aber wenn es ehrlich gemeint ist, würde man sich fragen, was ihn wohl dazu treibt, diesen Job trotzdem zu machen. Aber die Wende kommt ja und die Lösung ist schön. Edgar ist kein eiskalter Mordgenosse, sondern einfach kräftig und gut zu gebrauchen beim Möbelpacken.

Im letzten Abschnitt verfällst Du in die Vergangenheitsform, das würde ich noch ausbessern.

Mich würde mal interessieren, in welche Gefühle Du für Deinen Prot hast. Findest Du ihn interessant, bedauernswert, liebenswert?

Ciao. franck

 

Hi Franck,
ich mag meinen Prot. Sehr sogar! Er hat zwar etwas sehr Eingefahrenes, Verschrobenes an sich ,dafür besitzt er jedoch Mitgefühl und das schätze ich an ihm.

Neulich haben wir telefoniert und er erzählte mir, daß er den Beruf an den Nagel gehängt hat und jetzt im Altenheim arbeitet. Er weint viel weniger und ist recht zufrieden, denn nun braucht er nicht mehr über das Leben der Menschen zu spekulieren. Er lässt es sich einfach erzählen.

Ich danke Dir für Deine Kritik und werde über den Schluß nochmal nachdenken.

Alles Liebe, mia

 

Hallo mia,
der Anfang hat mich neugierig gemacht und dann bin ich auch auf die falsche Fährte reingefallen. Es ist wirklich eine sensible Idee, die vielen Dinge, mit denen ein Mensch jahrzehnte lang gelebt hat, als "Das Leben von Menschen zu beenden in seiner letzten Konsequenz" zu bezeichnen! Deine Sprache ist flüssig zu lesen, ich bekomme eine gute Vorstellung von Deinem Prot. Den zweiten Abschnitt fand ich etwas zu lang, da ich endlich wissen wollte, was Dein Held denn nun beruflich macht. Das mit den hüpfenden Pünktchen ist sehr anschaulich, aber was will uns Deinen Prot damit sagen? Vielleicht fragst Du ihn mal, wenn Du wieder mit ihm telefonierst! ;)
Gruß Tamara

 

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