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Das Geschäft mit den Touristen

jbk

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17.06.2003
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Das Geschäft mit den Touristen

Bald ist es wieder soweit: Mit den Touristen kommt das Geld. Jeden Sommer überschwemmen sie unsere Stadt, saufen besinnungslos bis nichts mehr geht, torkeln durch die Straßen oder pennen am Strand.
Dann ist meine Stunde gekommen. Dann beginnt meine Arbeitszeit.
Ich bin Taschendieb. Zusammen mit meinem dreizehnjährigen Sohn gehe ich am frühen Morgen auf die Jagd. Es ist recht einfach zu erkennen, wer von ihnen hilflos ist und Geld hat. Ich schaue mir ihre Klamotten an, besonders die Schuhe. Wenn sie dann auch noch alleine durch die Straßen schwanken, dann greife ich zu.
Hier in Lloret de Mar sind viele Deutsche. Sie lassen hier nach ihrem Abitur oder in den Ferien die Sau raus. Saufen bis zum Umfallen, schnupfen und schmeißen, was sie kriegen können. Früher habe ich mich aufgeregt, habe sie respektlos gefunden. Heute sind sie anders: Heute sind sie Fundgruben!
Wenn dann einer durch die Gassen schunkelt, Sportschuhe und Hemd trägt, werde ich angerufen. Ein Freund sichtet meine Beute, beschreibt sie, sagt mir, woher sie geht. Wenn sie dann in eine Seitenstraße einbiegt, um Richtung Hotel zu kommen, schlägt meine Stunde. Wie zufällig komme ich dann aus einer anderen Gasse, zusammen mit meinem Sohn. Wir tun so, als wären wir ebenfalls betrunken oder hätten ebenfalls Drogen genommen. Letzteres brauche ich gar nicht zu spielen. Ich selber schnupfe seit drei Jahren Koks. Auch hier ist Koks nicht billig, auch hier brauche ich um die 100€ pro Tag. Das sind ungefähr vier Touristen. Jeder von ihnen hat etwas Wertvolles bei sich: Bargeld oder Diskokarten, Uhren, Ketten – was auch immer. Mit den richtigen Verbindungen wird man das hier schnell los. Und wenig später kann man es in einem der vielen Läden wieder kaufen. So wird doppelt verdient. Ich stehle und verkaufe es. Im Laden wird es dann wieder verkauft – vielleicht sogar an denselben Typen, von dem ich es gestohlen habe.
Wir jedenfalls reden mit dem Typen. Wenn sie Drogen genommen haben, sind sie meist sehr redselig und leichtgläubig. Meistens fragen sie, ob ich noch was hätte. Dann bejahe ich und mein Sohn klopft dem Typen auf die Schulter.
Dann muss es sehr schnell gehen: Er hebelt ihn mit einem geschickten Griff aus, sodass der Typ nur noch mit einem Bein auf dem Boden steht. Im gleichen Moment tastet mein Sohn dann dessen Taschen ab, sucht ein Portemonnaie. Danach wird das Handgelenk nach einer Uhr untersucht. Das alles dauert ca. fünf Sekunden.
So machen wir das Morgen für Morgen. So verdienen wir unser Geld.
Ich habe Gründe dazu, es so zu machen: All die ehrlichen Verkäufer sind nur scheinheilig. Auch sie sind verstrickt in unsere Machenschaften. Wir bilden ein Netzwerk aus Angebot und Nachfrage. Ich und mein Sohn sind die Schattenseite des Lichtes oder wie wir es sagen: Das Licht der Schattenseite!
Es ist oft zu einfach mit den Touristen. Die Polizei ist auch nur vordergründig auf Streife unterwegs. Meist fahren sie immer die gleichen Wege, an denen mein Informant steht. So haben wir genug Zeit, uns zurück zu ziehen. Nach zehn Minuten ist es dann vorbei und wir können von vorne anfangen. So kommen wir auf unsere Quote: vier bis fünf Touris pro Nacht.
Bald ist wieder Sommer. Bald ist es wieder soweit.
Ich freue mich auf Sie!
Ehrlich!

 

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