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Das Haus der Einsamkeit

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21.07.2004
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Das Haus der Einsamkeit

Lauwarme Regentropfen trommelten auf das volle Blätterdach der stämmigen alten Eiche, unter deren knorrigen Gestalt ich vor dem sintflutartigen Guss Schutz suchte. Obwohl das eigentlich nutzlos war, denn meine Kleidung triefte vor Nässe, und Tropfen für Tropfen perlte das Wasser aus meinem Haar über die Stirn, sammelte sich an der Nasenspitze, um von dort aus Sekunde für Sekunde abzutropfen. Ich machte mir den Spaß, dabei auf die Uhr zu schauen und staunte, welch Zeitgefühl diese klaren, feuchten Gebilde besaßen. Beinahe sekundengenau ließen sie sich zu Boden fallen. Ab und an schaute ich zum Himmel, um mich zu erkundigen, ob dies nur ein kurzer Schauer war oder ob es sich geradewegs einregnete. Aber am Horizont erblickte ich ein klaffendes Loch in der grauroten Wolkenwand, durch das sich der blaue Himmel kämpfte und Sonnenstrahlen stachen wie Speere hindurch zum Boden. Ein phantastischer Anblick, an dem ich mich stundenlang hätte ergötzen können. Mir machte es nichts aus, triefendnass am rauen Stamm der alten Eiche zu lehnen und zu warten, bis Mutter Natur die Erde mit dem wichtigen Element ausreichend versorgt hatte. Ich liebte es, ja – ich lechzte geradezu danach, denn so spürte ich wenigstens, dass ich lebte. Wenn der Regen sanft über meine Haut perlte, der Wind mir über mein Haar strich und ich den würzigen Geruch von Harz, feuchter Erde - den Geruch des Lebens wahrnehmen konnte. Sooft es ging zog es mich hierher hinaus.

Seit drei Jahren lebte ich nun in der Stadt, die Stadt, die vor lauter pulsierendem Leben keine Ruhe fand, die ihre Menschen zwischen Hochhäusern schluckte und wieder ausspuckte. Wie Ameisen krauchten sie zwischen Beton, Leuchtreklamen und dem Lärm der Autos und Straßenbahnen, vegetierten in ihrer Sterilität und fanden nie Ruhe. Selbst des Nachts, wenn die Dunkelheit sich wie ein schwarzer Schleier über die City legte, fanden die Menschen keine Stille. Sie kamen aus ihren sicheren Bauten gekrochen, um zueinander zu finden, ihre Einsamkeit zu bekämpfen, trafen sich in Bars und Spielotheken, standen nah beieinander und doch war jeder für sich allein.

Ihre Oberflächlichkeit zwang sie in ihre Einsamkeit. Ihr Glitter und Glimmer, schöne Frauen mit teurem Schmuck, solvente Herren in Armani- oder Gucci-Anzügen. Man schaute aufs Label, aber nur selten sah man den Menschen, der es trug. Sie nippten teure Drinks und Champagner, unterhielten sich über Aktien und führten andere, menschlich uninteressante Gespräche, die ihnen zumindest für den Augenblick das Gefühl gaben, der Einsamkeit entkommen zu sein. Jedoch, wenn die Sonne am Horizont leise den nächsten Tag ankündigte, mussten sie einsehen, dass ihre teure Hülle keinesfalls dazu beitrug, eine tiefsitzende innere Sehnsucht zu befriedigen. Die nach menschlicher Nähe, jene, die dem Menschen angeboren war und ihm zu einem sozialen Wesen machte. Die Sehnsucht, die unbefriedigt blieb, weil der Mensch mit seinem Streben nach Wohlstand und Sicherheit verlernte, ein Mensch zu sein und an dieser Stelle die Oberflächlichkeit setzte. In dieser Stadt standen mehr Mauern als es Häuser gab. Die Mauern, undurchdringlich, die den einen von dem anderen trennt. Kalt, feucht, hart und spröde. Jene Wände, die das Dach eines ganz besonderen Hauses trugen – dem Haus der Einsamkeit.

Ich floh, sooft es ging, vor den kalten Wänden dieses Hauses, auf dass sie mich nicht umschlossen, nicht einsperrten, stumpfsinnig und unmenschlich machen konnten. Ich wollte spüren, dass ich lebe, ein Teil dieser Erde war. Ich zog es vor, die mentale Einsamkeit der Stadt gegen die physische Einsamkeit der Wildnis von Sorbey einzutauschen. Hier konnte ich sicher sein, keiner Seele zu begegnen, deren Anwesenheit zwar rein körperlich wahrnehmbar war, aber deren Inneres von unmenschlicher Sprachlosigkeit zeugte.

Mein Blick schweifte über das Tal zu meiner rechten Seite, an dessen tiefstem Punkt ich einen kleinen, klaren Bach entdeckte, der aus dem Berg zu entspringen schien und sich durch das Tal hindurch schlängelte, um in einem klaren See zu münden. Zur linken des Sees stieg das Gelände wieder leicht an, ein sanfter Hügel satten Grüns, auf dem etwa zur Hälfte der undurchdringlich scheinende Fichtenwald begann. Dahin wollte ich, sobald der Regen etwas nachließ. Er zog mich an. Ich wusste nicht warum, woher dieses Gefühl kam oder ob ich es mir vielleicht auch nur einbildete. Aber ich meinte zu wissen, dass inmitten dieser scheinbar undurchdringlichen Wand etwas existierte, was ich unbedingt sehen sollte. Nicht wollte. Sollte. Es zog und zerrte, als habe es mich mit irgendetwas gekrallte, hielt mich fest und zog mich zu sich heran. Es war kein beängstigendes Gefühl, auch wenn ich nicht wusste, was mich zwischen den nadligen Fängen der Bäume erwartete.

Ich saß noch eine Zeitlang da, beobachtete das Treiben der Wolken und als es heller wurde, der Regen nachließ und die Sonne hier und da ihre Strahlen durch die nun teilweise aufgebrochene Wolkendecke stieß, machte ich mich auf dem Weg zum Fichtenwald.

Ich ging etwa zwei, drei Stunden, so glaubte ich. Doch sah ich dann auf die Uhr, bemerkte ich, dass ich vielleicht zwanzig Minuten unterwegs war. Ich besaß ansonsten ein ausgezeichnetes Zeitgefühl, konnte mich auf meine innere Uhr verlassen, ohne jemals zu spät zu kommen. Aber hier und jetzt war alles anders. Leicht, ja leicht. Ich ermüdete nicht, das Laufen strengte mich nicht an. Als wolle mir jemand behilflich sein. Bisweilen hatte ich jedoch das Gefühl, je weiter ich auch lief, der Wald schien nicht näher zu kommen. Als lief ich auf der Stelle. Unermüdlich und leicht. Ab und an blieb ich stehen, legte meine Hand an die Augen, damit die Sonne, die nun tiefer stand, mich nicht blendete. Der Wald waberte. Wie heißer Asphalt bei Hitze irisierte, so "lebte" der Wald vor meinen Augen. Er schien nun unklar in seinen Konturen und ich bildete mir ein, nun einen Pfad zu erkennen, den ich vorher nie bemerkte. Der Wald "zog" wie nie zuvor und "schrie" nach mir, damit ich mit ihm eintauche wie in das Wasser eines klaren Bergsees. Und ich sehnte mich regelrecht danach, in seiner Dunkelheit verschwinden zu können, so als verschlucke er mich und zieht mich weit fort von der Unbarmherzigkeit und Leere, die mich teilweise umgab.

Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht oder überrascht war, oder was ich zu finden glaubte, als ich mich auf dem Weg zum Wald gemacht, den kleinen Trampelpfad entlang ging und nach nicht messbarer Zeit auf eine kleine Lichtung stieß. Wie eine Oase in der Wüste breitete sich vor mir aus der Dunkelheit des Waldes diese Schneise aus, über der die Sonne strahlte, nur für sie allein und dem Haus, das sich in ihrer Mitte befand. Ich hatte das Gefühl den halben Tag unterwegs gewesen zu sein. Meine Uhr sagte mir jedoch, dass ich lediglich eine halbe Stunde für den Weg hierher gebraucht habe. Ein wohliges, entspanntes Gefühl kam über mich, ich fühlte mich frisch und ausgeruht, als hätte ich geschlafen.

"Antoine" stand in grüner Farbe auf einem Brett, das über der Eingangstür des Hauses befestigt war. Das Haus war erstaunlich groß. Vielleicht habe ich aber auch nur nicht erwartet, dass ich hier ein Haus finden würde. Es bestand ganz und gar aus Holz, zählte zwei Etagen, an dessen oberen mittleren Fenstern ein kleiner Balkon hervorragte. Von einem Garten voll duftender Kräuter und Blumen umgeben, der gepflegt und gehegt anzusehen war, wirkte das Haus freundlich und einladend. War es das, was mich hierher zog, an mir zerrte? Und welch´ nie gekannte Ruhe breitete sich in mir aus... Eine Art Seelenfrieden, so glaubte ich. Mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür, als wolle das Haus sagen, ich solle doch näher kommen und eintreten. Und ich tat es.

Ich betrat eine große Vorhalle, die mich erstaunen ließ. Nie hätte ich geglaubt, Räumlichkeiten in derartigem Ausmaß hier zu finden. Denn, auch wenn das Haus von außen her recht groß schien, übertraf das Innere doch all meine Erwartungen. Es roch nach Zimt und Vanille, ein bisschen erinnerte dieser Geruch an meine Kindheit, an Weihnachten. Sogleich fühlte ich mich geborgen und heimisch, als sei ich in diesen Räumen aufgewachsen. Ein lange vermisstes Gefühl, dass sich da in meinem Herzen wiederfand.

Von der runden Vorhalle aus führte der Weg in viele Zimmer, und schaute ich geradeaus, erstreckte sich eine breite, hölzerne Treppe hinauf in den zweiten Stock, ausgelegt mit rotem samtenen Teppich. Ich stieg hinauf und dort, in einem der unzähligen Zimmer, saß er dann vor dem Kamin in einem massiven, ledernen Ohrensessel, Pfeife rauchend und die Beine eingehüllt in eine karierte Wolldecke.

"Nun, du wirst müde sein, mein Freund.", sagte er mit tiefer, ruhiger Stimme. "Komm und sei mein Gast. Ich heiße ... Antoine."

Antoine. Der Hausherr, ein etwa siebzigjähriger, grauer Herr mit vollem Bart und gütig funkelnden blauen Augen. Eine Besonderheit fiel mir ins Auge, auch wenn sie vielleicht nebensächlich war. Er trug am Hals unter dem linken Ohr ein Muttermal. Nicht groß aber von außergewöhnlicher Form. Als strecke sich mir eine Hand entgegen, winzig klein, aber doch erkennbar. Vielleicht wäre mir dieses Mal nie aufgefallen, hätte es nicht diese spezielle Form gehabt. Und obwohl ich diesen Herrn zum ersten Mal in meinem Leben sah, war er mir vertraut wie nie ein Mensch zuvor. Als kannten wir uns schon eine Ewigkeit, hatten uns nur sehr lange Zeit nicht gesehen und waren nun glücklich, wieder zueinander zu finden.

Wir führten lange Gespräche, nächtelang, so glaubte ich. Dabei schien die Zeit in der Pension Antoine stillzustehen. Wir sprachen über die Einsamkeit der Menschen in den Städten, die nah beieinander lebten und doch jeder für sich so allein war und über deren Oberflächlichkeiten. Antoine sprach mir aus dem Herzen. Als könne er meine Gedanken lesen, wusste wie ich empfand und wie unwohl ich mich in der Stadt zwischen den kalten Wänden fühlte – zwischen den Wänden, die das Dach des ganz besonderen Hauses trugen.

Seitdem besuchte ich Antoine regelmäßig. So wie es meine Zeit erlaubte, fuhr ich zu meinem Freund, der für mich zu etwas ganz besonderen wurde und dessen Gesellschaft ich nie mehr missen wollte. Ich fühlte mich bei ihm geborgen und verstanden. Und ich war überzeugt, dass Antoine das Gleiche empfand. Durch ihn ertrug ich die Einsamkeit der Stadt mit dem guten Gefühl und der Vorfreude auf die nächsten Tage, die ich bei und mit Antoine verbringen würde.

Bis zu dem Tag, an dem ich vergeblich zum Haus Antoines fuhr.

An jenem schwarzen Tag fand ich anstatt meines guten, alten Freundes einen fremden Herrn. Ein Herr, steif in Anzug und Krawatte, mit einem Aktenkoffer unter dem Arm. Ich lief durchs Haus und suchte meinen vertrauten Freund. Jedoch fand ich ihn nirgends. Der Kamin im zweiten Stock war kalt und sauber, als hätte ihn nie jemand benutzt. Antoines Wolldecke lag säuberlich zusammengelegt auf dem großen Ohrensessel, und mich überkam eine dunkle Ahnung. Mein guter Freund schien für immer Abschied genommen zu haben. Von dieser Welt, von diesem wundervollen Haus und ... von mir. Unendliche Traurigkeit überkam mich und doch fühlte ich etwas, das für mich unerklärlich schien. Mir war, als sei Antoine nah bei mir, um mich herum. In den Erinnerungen an lange, wunderbare Nächte in diesem Haus. Ich glaubte, ihn zu fühlen.

Ich eilte hinaus zu dem steifen Herrn, dessen Mund wohl kein Lächeln kannte. Ich fragte nach Antoine und plötzlich verzog sich sein Gesicht doch zu einem Grienen. Aber es war eher herablassend und ungläubig.

"Antoine?" Er feixte und sah mich an, als sei ich verrückt.

"Guter Mann, Sie glauben doch wohl nicht an das Märchen von Antoine?"

"Märchen?"

"Wir wurden beauftragt, dieses Haus zu verkaufen. Fragen Sie mich bitte nicht von wem. Der Verkäufer selbst will anonym bleiben. Wir haben nur den Auftrag, sowie die Papiere vom Haus und Grundstück erhalten. Das Geld wird auf ein anonymes Nummernkonto überwiesen, abzüglich unserer Provision, und die ist mehr als großzügig. Immerhin 50%."

"Welches Märchen?", fragte ich abermals nach.

"Um das Haus ranken Geschichten wie Efeu um kalte Mauern. Dieser Antoine, dessen Nachname niemand kennt, soll das Haus vor Ewigkeiten gebaut haben. Als er fertig war – und dies geschah innerhalb eines Tages – verschwand er so mysteriös, wie er gekommen war."

"Niemand vermisste ihn?", fragte ich ungläubig.

"Guter Mann, niemand kannte ihn. Er tauchte einfach auf, baute das Haus, verschwand wieder."

"Wann war das?"

"Gute Frage. Keiner weiß das so genau. Wie gesagt, es ist nur eine Spinnerei, eine Geschichte eben. Sie wissen ja, wie die Leute sind."

"Wann?" fragte ich nun mit Nachdruck. Der Makler verzog sein Gesicht.

"Hundert, vielleicht zweihundert Jahre. Wer weiß das schon? Bis vor wenigen Jahren wurde das Haus ab und an verkauft. Doch die Besitzer blieben nie lange. Keiner konnte sagen, warum. Vielleicht war es ihnen hier draußen in der angeblichen Idylle doch zu öde. Vielleicht fürchteten sie sich vor etwas. Wer weiß. Vielleicht vor der Einsamkeit hier draußen."

Ich kaufte die Pension Antoine. So entrann ich der Anonymität der Großstadt, die ich so sehr hasste und schwelgte hier in den Erinnerungen an Antoine, den ich so sehr vermisste.

Ein Geräusch riss mich aus dem tiefen Schlaf. Ich lauschte in die Dunkelheit. Als ich die Augen öffnete, sah ich Gegebenheiten, die mich normalerweise hätten in Furcht versetzen müssen. Doch ich blieb ruhig, denn ich war nicht allein. Das Zimmer um mich herum lebte, es atmete ruhig, wie ein tiefschlafender Mensch, der mir unendlich vertraut war. Die Wände waberten vor meinem Auge, ihre Tapete schien aschgrau wie Haut eines alten Menschen. Ich tastete nach ihr und tatsächlich, sie fühlte sich warm und lebendig an. Der Boden unter mir pulsierte und leise hörte man das Pochen eines Herzens, rhythmisch, beruhigend. Meine Augen tasteten die warmen Wände ab und dann, links neben dem Fenster, entdeckte ich ein Muttermal, eine kleine Hand, die sich mir willkommen entgegenstreckte. Ich legte mich glücklich zurück ins weiche Kissen, schloss die Augen, und lächelnd sagte ich:

"Du musst sehr einsam gewesen sein, mein guter Freund."

 

Hallo daniela71,

vielen Dank für diese schöne Geschichte. Schon nach den ersten Zeilen konnte ich wunderbar "eintauchen". Bei aller Melancholie, die deine Geschichte verbreitet, wirkt sie doch nie zu düster. Bei einzelnen Textpassagen, musste ich irgendwie an einen älteren Song von Billy Joel denken – "River of dreams".

LG von F.P.

 

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