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Das Heulsusi

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30.12.2003
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Das Heulsusi

"Leah ? ich wollte dir nur sagen, du sollst für Donnerstag eine Karte weniger reservieren", sagte ich stockend ins Telefon. Dann wollte ich mir das Gesicht wischen, fand aber, dass ich meine Gummihandschuhe in der Hand hielt. Ich benutzte also den Ärmel meines Laborkittels.

"Heulsuserl!" sagte Leah scharf. "Weinst du denn etwa schon wieder?"
"Was kann ich dafür, dass ich so nah am Wasser gebaut habe?" protestierte ich. "Außerdem war Frank eben da."
"Wer ist... ach so, ich weiß, dein letzter Frosch", sagte Leah. "Hat der sich auch nicht in einen Prinzen verwandelt?"
"Das nicht gerade", sagte ich deprimiert, "aber küssen lassen will er sich nicht mehr! Er kommt am Donnerstag nicht mit und hat mir gerade gesagt, dass Schluss ist."
"Meinst du nicht eher 'an die Wand will er sich nicht mehr werfen lassen'? War doch zu erwarten!" verkündete Leah. "Du immer mit deinen seltsamen Männergeschmack... Frank war ja ganz in Ordnung, aber warum du immer wieder auf diese verklemmten Eierköpfe fliegst, dass übersteigt mich völlig."
"Ich finde das gemein von ihm", heulte ich, "wetten, dass der vor mir noch nie..."
"Schatzi, ich muss gleich in ein Meeting", wimmelte Leah mich ab. "Such dir das nächste Mal einen Mr. Ratte, gemein und gutaussehend statt nett und hässlich, vielleicht klappt es damit eher. Deine Frösche sind alle zu lieb und zu gut für dich, kein Wunder, dass die am Ende immer durch den Notausgang verduften. Tschüss, ich muss jetzt weg, sonst komme ich zu spät."

Langsam legte ich auf, zog meine Gummihandschuhe wieder über und ging zu dem Abzug zurück, um nach meiner Destillation zu sehen. Leah war ungerecht. Als ob sie mich jemals verstehen könnte! Sie war mit ihrem Sandkastenfreund verheiratet und in Gefühlsdingen ungemein solide und gefestigt. Wie ich sie beneidete! Ich selbst suchte immer noch nach dem Mann, der nur mir alleine gehören sollte.

Am Thermometer erkannte ich, dass die Destillation abgeschlossen war, und entfernte das Heizgerät. Thilo konnte das Destillat portionieren und einfrieren, das war Praktikantenarbeit. Thilo war erst vor wenigen Tagen an unser Institut gewechselt, und selbst nach meinen Maßstäben, die ja nun wirklich nicht streng sind, war er jämmerlich unattraktiv. Warum lassen sich Jungs, die keinen vernünftigen Bartwuchs haben, immer einen Schnurrbart stehen? Wer war sein verbrecherischer Friseur, und wer hatte ihm zu diesen Klamotten geraten? Ich vermutete zwar, dass er unter den schlaffen, senffarbenen Cordsachen eine ganz gute Figur verbarg, aber zu sehen war das nicht. Wenn man ihm nichts zu tun gab, stand er verloren in der Gegend herum, wie ein abgeschalteter Roboter. Wenn man ihn nicht ansprach, sagte er nichts.

Vier der Doktoranden kamen nun an mir vorbei und zogen ihre Kittel aus, um sie in die Spinde zu hängen. "Los, Beeilung", sagte einer, "wenn wir uns nicht sputen, dann belagert der Plebs den Fressnapf, bis wir da sind."
"Geht ihr zum Steh-Italiener?" fragte ich. "Wartet, ich bin fertig, ich komme mit!"
"Nichts da", verkündeten sie mir das Urteil. "Du zeigst Thilo die Mensa. Willst du ihn etwa alleine auf Kaloriensuche gehen lassen?" Ich zuckte mit den Schultern und seufzte. Mist! Ein wenig Aufheiterung und ein Caffé Corretto hätten mir jetzt gut getan. Aber schließlich musste ja jemand dem Neuen die Eingewöhnung erleichtern, und heute war ich dran. Ich ging hinüber ins Büro und nahm mir mein Protokollheft vor.

Das konnten meine lieben Kollegen nicht gemerkt haben, sonst hätten sie am Waschbecken um die Ecke nicht so hemmungslos gelästert. "Willst du kuppeln?" fragte eine Stimme.
"Wieso nicht? Der Thilo passt doch gut zu Susi? Noch so ein Bedürftiger!"
"Ach geh! Wieso 'bedürftig'?"
"Wenn dir 'bedürftig' nicht gefällt, sag' halt 'preisreduziertes Mängelexemplar' ? Susi ist zwar ganz niedlich, aber ein Mann muss nur ein bisschen Selbstbewusstsein oder Ausstrahlung haben, und sie rennt, was die Beine hergeben."
"Das weißt du ganz genau, ja?"
Sie entfernten sich lachend. Ich stützte den Kopf in die Hände. Ein toller Tag! Erst ließ mich mein Freund sitzen, dann wäscht mir meine beste Freundin den Kopf, und danach muss ich noch mitbekommen, dass meine Kollegen mich für eine Art sexualpathologisches Kuriosum halten. Ich wartete, dass Thilo aus dem Tiefkühlraum zurückkam, um ihm die Mensa zu zeigen.

Thilo wollte unbedingt im Wintergarten sitzen. Der ist zwar ganz schön, aber eigentlich saß ich nie dort. Thilo ging voraus, ohne sich darum zu kümmern, ob ich meine langjährigen Gewohnheiten brechen musste oder nicht, setzte sich mit dem Rücken zur Wand und schob mir einen Stuhl mit dem Fuß vor. Als ich sah, wer - oder was - da neben ihm saß, hätte ich ihn am liebsten am Ärmel gepackt und woanders hingeführt.

Sicherheit ist nur eine Illusion, das wusste ich zwar, hatte es aber niemals so deutlich vorgeführt bekommen: Noch nie hatte ich einen Menschen gesehen, der so schrecklich entstellt war wie die Person, die neben Thilo saß. Wulstige Brandnarben bedeckten die gesamte Haut, die der voluminöse Rollkragenpullover freiließ. Aus einigen Stellen der Kopfhaut wuchsen tatsächlich noch Haare, aber die Narben bedeckten das ganze Gesicht und verzogen es nach einer Seite. Die Finger waren bis auf kurze Stümpfe verbrannt, und mit diesen Stümpfen handhabte sie das Besteck.

Ich hatte einige Sekunden lang fassungslos hingestarrt, und sie erwiderte meinen Blick mit Augen, die das intensive Blau von Delfter Porzellan hatten. Schnell senkte ich die Lider, hinter denen schon wieder Tränen brannten, und setzte mich. "Ich, die Heulsusi!" dachte ich erbittert, aber ich konnte es kaum unterdrücken, noch nie im Leben hatte ich so etwas Schreckliches gesehen wie dieses Narbengesicht. Ich suchte nach Taschentüchern.

"Fehlt dir etwas?" fragte Thilo.
"Heuschnupfen", murmelte ich. Es war nicht wahr, aber was sollte ich sagen?
Thilo kramte in seinen Taschen und zog ein Antiallergikum hervor. "Hast du es schon mal damit versucht? Ich kann dir sagen..."
"Ach nein", wehrte ich verlegen ab, "es ist wirklich nicht so schlimm. Ich brauche nichts dagegen zu machen."
"Du siehst aber gar nicht gut aus!" insistierte Thilo. "Ich wollte auch erst keine Medikamente, aber ich habe mich bekehren lassen."

Voller Unbehagen merkte ich, dass die Frau neben Thilo unser Gespräch mitanhörte. Wenn ich den Blick zu ihr wandte, begegnete ich immer dem Blick dieser blauen Augen, die fast das einzige waren, was an dem Gesicht heil geblieben war. Warum war ich eigentlich sicher, dass es eine Frau war? Man konnte das doch gar nicht sehen! Das Gesicht war eine einzige Narbe, die Hände waren fast verschwunden, und den Rest bedeckte der dicke Pullover. Es konnte genauso gut ein Mann sein. Wahrscheinlich hatten mich aber die beidseitig durchstochenen Ohrläppchen darauf gebracht. Jetzt steckten natürlich keine Ohrringe mehr drin.

Ich zermarterte mir das Gehirn nach Gesprächsthemen, alles, um meine Aufmerksamkeit auf Thilo zu fixieren und den Kopf nicht nach rechts drehen zu müssen. Meine Bluse war drei Knöpfe weit geöffnet, so dass Thilos Blick immer auf und ab glitt. Natürlich konnte ich sie jetzt nicht zuknöpfen, ohne mich lächerlich zu machen. Ich wusste kaum, was ich da durcheinander erzählte, in dem Spannungsfeld zweiseitiger Aufmerksamkeit, mit Thilos Blicken auf meinem Brustansatz und denen des Brandopfers auf meinem Gesicht. Der Schweiß brach mir aus, und wann immer ich es nicht mehr ertrug und nach rechts schaute, sah ich, dass sie mich beobachtete. Im Gegensatz zu mir wich sie meinem Blick nicht aus.

"Eine Freundin von mir hat ein behindertes Baby zur Welt gebracht", begann ich. Tolles Thema, aber ich war ganz durcheinander.
"Die Leah, mit der du immer telefonierst?" fragte Thilo.
"Nein, eine andere - sie heißt Ruth - hatte Röteln, glaubt man." Ich wurde diese lange, traurige, aber Thilo ganz und gar nicht betreffende Geschichte los. Er zeigte sich sogar interessiert und wollte alle medizinischen Aspekte genau wissen. Währenddessen fragte ich mich, ob der Mensch neben Thilo wohl am ganzen Körper so übel zugerichtet war. Eigentlich war das ja nicht möglich, denn das überlebte man nicht. Vielleicht waren es auch nur Gesicht und Hände. "Nur!" dachte ich selbstironisch, während ich unzusammenhängendes Zeug erzählte.

Thilo hörte freundlich zu. Allmählich fand ich ihn gar nicht mehr so übel und gewann meine Geistesgegenwart soweit zurück, um über einige der Projekte zu sprechen, die wir gerade bearbeiteten. Nun hatte ich das volle Interesse meines unheimlichen Gegenübers. Das Gesicht blieb reglos - konnte es überhaupt Regungen zeigen? - aber die Augen wichen nicht von mir.

Endlich hatte auch Thilo aufgegessen und legte das Besteck zusammen. "Gehen wir?" fragte er. Ich nickte und griff nach meinem Tablett.

Das Narbengesicht sprang mit unerwarteter Energie auf und warf den Riemen seiner Büchertasche über die Schulter. Überrascht starrte ich auf die schmalen Hüften und die langen Beine in der schwarzen Jeanshose. Eindeutig keine Frau! Als ich aufschaute, blickte ich in seine Augen und wurde festgenagelt, wie das Kaninchen von der Schlange.

Es wurden die längsten fünf Sekunden meines Lebens. Ich schwitzte vor Angst und fragte mich, sollte er mich jetzt ansprechen - was sollte ich dann bloß machen? In diesen fünf Sekunden sah ich mich mit ihm spazieren gehen, Schach spielen, Tee trinken - und mehr. Schreckerstarrt dachte ich, dass ich niemals imstande sein würde, nein zu sagen. Wie auch, mit welcher akzeptablen Begründung? Verzweifelt versuchte ich, die Person, die Persönlichkeit, etwas hinter diesen Narben zu sehen, aber das war nicht möglich. Zwar hatte ich den Eindruck von Kraft und großem persönlichen Mut - aber vielleicht nur deshalb, weil ich genau wusste, dass man Heulsusi in einer vergleichbaren Lage am Deckenbalken baumelnd vorfinden würde.

Ein massives Goldarmband mit Namensschild rutschte unter seinem Pulloverärmel heraus und klapperte auf den Tisch. Es war so groß, dass ich es lesen konnte: Robert. Das Geräusch brach die Spannung, und er nahm sein Tablett und ging weg.

"Warum hast du dich genau da hingesetzt?" fragte ich Thilo erregt. "Hast du gar nicht bemerkt, wer da sitzt?"
"Nicht gleich. Na und?" fragte Thilo zurück. Dann grinste er. "Einen Moment lang dachte ich, er lädt dich zum Essen ein, so wie ihr euch die ganze Zeit angestarrt habt. Der scheint was für watteweiche Zuckerpüppchen übrig zu haben!"

"So was bin ich also?" fragte ich schwach.


du

 

Hallo Aleysha!

Du schreibst flüssig und besonders Deine Dialoge haben mir zum größten Teil gut gefallen. Sie machen alles lebendig.
So ganz schlau werd ich allerdings nicht aus Deiner Prot. Sie sucht sich hässliche nette Freunde, nach dem Urteil der Kollegen welche, die selbst kaum Selbstbewusstsein haben, und fällt regelmäßig auf die Nase. Dann Mittagessen mit Thilo, den sie nach und nach ganz nett findet, der sie aber als watteweiches Zuckerpüppchen sieht. Welche Rolle spielt Robert dabei genau? Zu zeigen, dass Schönheit immer subjektiv, nicht wichtig ist?
Die Charakerisierung Deiner Prot ist mir noch zu ungenau, zu schwach, ich habe kein deutliches Bild von ihr.

"Leah ? ich wollte dir nur sagen,
kein Leerzeichen vor dem ?

dass übersteigt mich völlig."
das

Deine Frösche sind alle zu lieb und zu gut für dich, kein Wunder, dass die am Ende immer durch den Notausgang verduften. Tschüss,
Tschüß. Eine wirklich aufbauende Antwort, die sicher das Selbstbewusstsein steigert. :dozey:

Die Finger waren bis auf kurze Stümpfe verbrannt, und mit diesen Stümpfen handhabte sie das Besteck.
„sie“ ist hier komisch, weil du vorher nicht andeutest, dass die Prot sie für eine Frau hält.

Meine Bluse war drei Knöpfe weit geöffnet, so dass Thilos Blick immer auf und ab glitt.
so dass empfinde ich hier als nicht korrekt eingesetzt. So dass bezeichnet eine unausweichliche Folge. Aber als Mann ist man ja nicht unbedingt gezwungen, jeder Frau auf die Brüste zu starren.

Ein massives Goldarmband mit Namensschild rutschte unter seinem Pulloverärmel heraus und klapperte auf den Tisch. Es war so groß, dass ich es lesen konnte: Robert. Das Geräusch brach die Spannung, und er nahm sein Tablett und ging weg.
wozu das? Es wirkt auf mich recht plump und künstlich.

Schöne Grüße
Anne

 

Hallo Anne,

vielen Dank für die Antwort. Ich dachte schon, mit der Geschichte kann niemand etwas anfangen, und ich muss sagen, ich bin nach einigen Tagen Abstand beim Lesen auch darauf gestoßen, dass sie wirr ist. Solange man daran schreibt, merkt man dass ja unter Umständen nicht...

"Sie" an der einen Stelle bezieht sich auf "Person", ist wohl aber zu weit voneinander entfernt.

Was die Prot angeht, so wollte ich eine Person zeigen, die sehr unsicher ist und sich als letzte Folge davon den Männern gegenüber eigentlich schlecht, zumindest aber widersprüchlich benimmt. So ist Thilo wohl mehr peinlich verwirrt als erfreut über die drei offenen Knöpfe - Susi ist ja auch nicht ganz sein Typ.

Sie versucht - so war zumindest meine Idee - eine Art Froschköniggeschichte nachzustellen, indem sie sich einen Mann sucht, auf den andere Frauen nicht scharf sind, und hofft, dass der sich dann als etwas ganz Tolles entpuppt. Ihre Freunde fühlen sich aber einer nach dem anderen nicht so ganz wohl bei ihr, und Susis Muster der Herablassungswahl wird von jedem bemerkt und kommentiert.

Das als Rahmen und Hintergrund dafür, dass sie sich einem Behinderten bzw. richtiggehend Entstellten gegenüber extrem schlecht benimmt: Anstarren, anstarren, anstarren, aber nicht ansprechen, wie es fast normal gewesen wäre in so einer Mensasituation. Hätte sie die Wahl gehabt, wäre sie der Situation ja auch meilenweit ausgewichen. Um gar kein gutes Haar an der Prot zu lassen, kippt die Situation für sie augenblicklich, als sie erkennt, dass sie einen Mann vor sich hat. Wenn sie ihr sonstiges Verhaltensmuster weitertreibt, hat sie jetzt "den Mann, der nur ihr gehört".

Was Robert denkt, weiß man dabei nicht, man kann es ja nicht sehen. Vielleicht ja: "Blöde Kuh!" Das Ende fand ich auch schwierig, aber irgendwie wollte ich ihm noch einen Namen geben, ich fand es wichtig, dass er nicht als namenloses "Ungesicht" die Szene verlässt. Und Susi sollte gelernt haben, Personen zu sehen und nicht Typen.

Na, vielleicht habe ich mich hier übernommen.

Gruß, Alli

 

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