Was ist neu

Das Paket

Mitglied
Beitritt
05.04.2004
Beiträge
20
Zuletzt bearbeitet:

Das Paket

Sara ist tot. Es hatte alles nichts geholfen. Ihre Zeit war wohl einfach gekommen, war abgelaufen wie ein Uhrwerk. Man mußte sich dieser Tatsache stellen. Schließlich sterben wir alle einmal. Und heute war eben Sara drangewesen. Sie hatte ja auch schon ein langes, und – wenn man so sagen darf – erfülltes Leben hinter sich. Ein Leben, wie es bei weitem nicht jeder ihrer Art vergönnt gewesen war. Beileibe nicht. Andere Katzen vegetierten in viel zu engen Wohnungen dahin, von meist abwesenden Haltern nur mit dem Notdürftigsten versorgt, ohne daß jemals jemand auf ihre Bedürfnisse eingegangen wäre. Nicht so Sara. Sie hatte es wirklich gut bei Frau Meier.

Aber auch das glücklichste Leben muß einmal enden. Und so hatte Frau Meier zu all ihrem Schmerz noch das nicht ganz unerhebliche Problem, wie sie nun den toten Körper ihrer einstmals so lebendigen Katze zu entsorgen hätte. Einfach in den Mülleimer zu werfen, wie es prosaischen Gemütern vielleicht in den Sinn käme, schied selbstverständlich aus. Für Frau Meier fiel Saras toter Körper schließlich nicht in dieselbe Kategorie wie irgendein abgenagtes Hühnerbein. Frau Meier betrachtete Saras tote Hülle immer noch als ihre über alles geliebte Katze, ihre beste und wahrhaftigste Freundin, Gefährtin in frohen Tagen und Trösterin in der Not. Sara hatte sie all die Jahre treu begleitet, hatte alle ihre Sorgen geteilt, gab ihr Zärtlichkeit, wenn sie sie brauchte und schenkte ihr jeden Tag die größte Freude durch ihre bloße Existenz. Sie hatte ein Recht darauf, in Würde und Frieden bestattet zu werden. Die Frage war nur, wo? Frau Meier lebte schon seit Jahrzehnten in einer kleinen Zweizimmerwohnung in einem großen Wohnblock; die einzige Erde, die sie dort zu sehen bekam, befand sich in den beiden Blumenkästen auf ihrem Balkon, denn sie hatte es längst aufgegeben, einen kleinen Garten zu bewirtschaften, die Jahre hatten ihren Tribut gefordert. Und hier in der Stadt gab es für sie sonst keine Möglichkeit, wie sie Sara die ihr gebührende Beerdigung zukommen lassen könnte. Sie überlegte.

"Elfriede hat doch einen Garten!" fiel es ihr auf einmal wieder ein. Elfriede, ihre alte Freundin, die sie schon aus Kindheitstagen kannte. Ein ganzes Leben hatten sie nun schon miteinander verbracht, wenn auch zwischen ihren Zusammenkünften stets einige Jahre liegen mochten. Wie lange war es jetzt wohl her, daß sie sich das letzte Mal gesehen hatten? Zehn Jahre mochten es bestimmt schon wieder sein. Höchste Zeit, sie wieder einmal anzurufen.

Zehn Jahre – damals lebte Alfred noch, der gute Alfred … Sie mußte sich gewaltsam zusammenreißen, sonst würde sie wieder in ein abgrundtiefes Loch fallen, aus dem sie irgendwann gar nicht mehr herauskäme, weil dann der Punkt erreicht wäre, daß sie von dort gar nicht mehr zurückwollte ins Leben, das wußte sie nur zu genau. Sie würde wohl nie über ihren Schmerz hinwegkommen.

Sie wischte eine Träne aus den Augen, verstohlen, als ob sie jemand dabei beobachten könnte. Alfred war tot, daran konnte sie nun nichts mehr ändern.

"Mein Gott", dachte sie, "Alfred habe ich schon beerdigt, Elvira und Hans, und nun werde ich auch noch Sara begraben müssen." Was für ein beschissenes Los es doch ist, immer übrigbleiben zu müssen, dazubleiben, wenn alle anderen schon gegangen sind, die einen im Leben etwas bedeutet hatten, die man doch so sehr geliebt hat und die einen dann mit diesem Schmerz einfach allein lassen.

"Die Toten haben es gut", dachte sie, "sie brauchen sich um nichts mehr zu kümmern. Den Kummer haben immer nur die Lebenden."

Sie wußte, sie mußte ihre Gedanken auf andere Bahnen lenken.

"Hoffentlich lebt Elfriede noch in Oberrotweil, bei ihr weiß man ja nie. Und hoffentlich hat sie auch noch ihren Garten mit den herrlichen Kirschbäumen. Es wäre wirklich schade, wenn sie den hätte abgeben müssen. Aber wer weiß, Elfriede ist ja nun auch nicht mehr die Jüngste."

Sie beschloß, Elfriede sofort anzurufen. Sara lag noch immer in der Küchenecke, in der sie sie heute morgen gleich nach dem Aufstehen gefunden hatte: leblos, kalt und tot, auch das schöne dichte Fell schien jetzt stumpfer geworden zu sein. Sie hatte noch nicht den Mut aufbringen können, den geliebten toten Körper anzufassen und lediglich notdürftig ein frisches weißes Handtuch darüber gelegt.

Frau Meier ging zum Telefon. Sie überlegte kurz, und sofort fiel ihr auch wieder Elfriedes Telefonnummer ein. Toi, toi, toi, auf ihr Gedächtnis hatte sie sich immer schon verlassen können, so alt konnte sie noch gar nicht sein, daß sie eine ihr wichtige Telefonnummer so einfach vergessen würde. Sie drückte die vertraute Tastenkombination, es dauerte einige Zeit, bis das Telefon am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde, ein paar Sekunden, in denen sie doch wieder zu zweifeln begann, ob sie auch die richtige Nummer gewählt hatte; plötzliche bestürzende Zweifel, ob Elfriede überhaupt noch unter dieser Nummer erreichbar war, schließlich sind zehn Jahre eine lange Zeit. Es knackte und rauschte in der Leitung, und dann, wie von Zauberhand wehte die vertraute, fröhliche Stimme Elfriedens herüber:

"Ja, hallo?"

"Elfriede?"

"Ja – ? Bist du das, Angelika?!"

"Ja. Ist ja schon eine Ewigkeit her …"

"Wie geht‘s dir denn? Wohnst du immer noch in der – warte mal –, Sulzburger Straße, im siebten Stock?"

"Immer noch. Du weißt ja, alte Bäume verpflanzt man nicht mehr."

"Wem sagst du das. Sag mal, können wir uns nicht mal wieder treffen? Es ist doch schon so lange her …"

"Genau deshalb rufe ich auch an. Aber … Stell dir vor, Sara ist tot."

"Was? – Das tut mir leid."

"Heute morgen, … ich komme in die Küche … – "

"Erzähl."

"Na, so wie jeden Morgen, ich gehe in die Küche …"

"Ja? –"

"Ja, und da liegt sie da in der Ecke … Ich wundere mich, daß sie so tief zu schlafen scheint, gehe zu ihr hin …"

"Ja?"

"Ganz kalt war sie schon. Steif. Hat sich überhaupt nicht mehr gerührt …"

"Einfach so?"

"Ja, einfach so … Sie war halt auch nicht mehr die Jüngste – "

"Angelika?"

"… – ja?"

"Soll ich vorbeikommen?"

" … ja … Nein. – Hör zu, ich wollte dich besuchen kommen, du hast doch noch deinen schönen großen Garten mit den Kirschbäumen …?"

"Ja, natürlich, du kannst sie dort gerne begraben. Wir werden schon ein schönes Fleckchen für sie finden. Mit Blick auf den Kaiserstuhl …!"

Fast hätte sie lachen müssen. Das war typisch Elfriede, sie hatte immer Humor gehabt, selbst in den aussichtslosesten Situationen konnte sie einen noch mit einer ihrer Bemerkungen zum Lachen bringen.

"Du weißt nicht zufällig, wann wieder ein Bus zu dir fährt?"

"Nein, leider nicht. Ich hatte den Fahrplan mal irgendwo rumliegen, weiß jetzt aber nicht mehr, wo. Ich glaube aber, daß werktags so alle Stunde vom Hauptbahnhof einer fährt. Vielleicht kannst du dort einmal anrufen …"

"Ja, das werde ich machen. Bis später dann, du bist doch zu Hause?"

"Natürlich, wo sollte ich denn auch hingehen? Bis nachher. Ich freue mich riesig, dich mal wieder zu sehen. Tschüs."

"Tschüs."

Frau Meier war es jetzt wieder etwas leichter ums Herz. Zumindest wußte sie jetzt, wo sie Sara begraben könnte. Und es würde ihr sicherlich guttun, sich mit Elfriede gründlich auszuquatschen.

"Mein Gott", dachte sie, "jetzt haben wir uns so lange nicht mehr gesehen. Das letzte Mal war es bei Alfreds Begräbnis. Und jetzt schon wieder eine Beerdigung. Elfriede muß ja denken, ich komme nur noch auf sie zurück, wenn es bei mir einen Todesfall zu betrauern gibt."

Das stimmte so natürlich nicht, Elfriede würde es niemals auf diese Weise auffassen. "Es ist halt das schlechte Gewissen …"

Die Aussicht, nun bald wieder mit Elfriede zusammenzutreffen löste in ihrem Schmerz fast so etwas wie Freude aus, "Wenn nur der Anlaß nicht wieder ein so trauriger wäre …" Sie würde sich sofort auf den Weg machen. Sie konnte es jetzt sowieso nicht mehr zu Hause aushalten, allein mit der toten Katze. Sie mußte nur noch ein geeignetes Behältnis für den Transport nach Oberrotweil finden. Ach ja, richtig, in der Rumpelkammer hatte sie ja noch diese große Schachtel verwahrt, die sie eigentlich schon längst in den Keller hätte tun sollen. Sie zerrte den Karton heraus. Er hatte genau die richtige Größe. Sie nahm die Styroporformteile heraus und polsterte den Karton mit ein paar alten Stoffresten; Sara sollte es schließlich bequem haben. Sie vergaß auch nicht, ihr ihr aktuelles Lieblingsspielzeug, ein Bällchen aus zusammengeknüllter Alufolie, hineinzupacken. Wenn Könige und Pharaonen ihre wertvollsten Güter mit ins Grab bekamen, so sollte dies bei Sara nicht anders sein; schließlich stammten ihre Vorfahren auch aus Ägypten.

Nun kam der schwierigste Teil. Sie ging zurück in die Küche, bückte sich ächzend und hob ihre tote Katze vom Boden. Wie leicht sie auf einmal schien! Nicht viel schwerer als ein Stofftier vergleichbarer Größe.

Der Schmerz durchflutete sie wie eine heiße und zugleich eiskalte Woge, die ihren ganzen Körper schüttelte.

"Sara!"

Die Tränen schossen ihr aus den Augen. Sie konnte nichts dagegen machen. Sie schluchzte hemmungslos drauflos. Ihre tote Katze wie eine heilige Opfergabe auf den ausgestreckten Armen haltend, strömten ihr die Tränen ungehindert über die eingefallenen Wangen hinab. Sie zitterte am ganzen Körper und schaffte es gerade noch bis zum Küchentisch, ehe sie mitten im Raum zusammengebrochen wäre.

"Sara! Meine arme, kleine Sara!"

Sie bettete die tote Katze mit unendlicher Sanftheit in ihr weiches Nest aus Stoffresten.

Nichts wie raus hier! Sie packte noch ein paar alte Zeitungen in das Paket, wobei sie sorgfältig darauf achtete, daß ihre Katze von allen Seiten gut gepolstert war und deckte zum Schluß alles mit dem sauberen weißen Handtuch zu. Sie schloß die Klappdeckel des Kartons und schnürte das Ganze zu einem stabilen Paket zusammen. Sie hob das Paket mit beiden Händen vom Küchentisch und trug es vorsichtig in den Hausgang hinaus, wo sie es auf einer Treppenstufe abstellte, um ihre Jacke überzuwerfen und die Tür abzuschließen. Sie stieg vorsichtig die Treppe hinab, sie hatte Mühe, auf die Stufen zu achten, da sie, so wie sie ihr Paket vor sich auf den Händen trug, nur seitwärts entlang des Treppengeländers die Stufen erkennen konnte. Sie war froh, daß ihr niemand im Treppenhaus begegnete. Sie hatte jetzt wirklich keine Lust, irgendeinem der Nachbarn zu erklären, was sich wohl in dem eigenartigen Paket befinden mochte, daß sie so mühselig mit sich herumschleppte.

Sie erreichte die Haustüre. Sie hatte Schwierigkeiten, mit dem Paket auf den Händen, die schwere Tür aufzustemmen, aber schließlich schaffte sie es doch. Zum Glück war es nicht weit bis zur Straßenbahnhaltestelle.

Es dauerte keine zwei Minuten, da kam ihre Straßenbahn auch schon. Sie klemmte sich ihr Paket unter den Arm und stieg ein. Da es noch relativ früh am Morgen war, fand sie auch gleich mehrere freie Sitzplätze, so daß sie ihr Paket bequem neben sich legen konnte. Sie brauchte nicht umzusteigen, nach einer Viertelstunde erreichte sie bereits den Bahnhof.

"Prima!" dachte sie. "Wenn jetzt vielleicht gleich noch ein Bus nach Oberrotweil fahren würde …"

Man darf natürlich nicht zu viel vom öffentlichen Nahverkehr erwarten. Als sie die Rolltreppe zum Busbahnhof hinab genommen hatte – das Paket immer noch wie eine heilige Reliquie vor sich hertragend – und in den Fahrplan der Busse in den Kaiserstuhl blickte, mußte sie feststellen, daß sie noch fast eine drei viertel Stunde warten mußte, ehe sich wieder ein Bus in Richtung Oberrotweil in Bewegung setzte.

Sie stellte erst einmal ihr Paket auf der Wartebank des Bushäuschens ab, unschlüssig, was sie jetzt machen sollte. Gegenüber auf den anderen Haltestellen warteten noch ein paar andere Leute auf ihren Bus; ein junges Pärchen mit grünen und roten Haaren und zerschlissenen Klamotten, das keinen allzu guten Eindruck auf sie machte, ebenso ein nicht allzu vertrauenerweckender Mann in mittleren Jahren mit speckigen Haaren und einer abgewetzten schwarzen Lederjacke, und noch ein paar Leute, mit denen sie nicht unbedingt Kontakt wünschte. Der junge Mann allerdings, der zusammen mit ihr auf denselben Bus in den Kaiserstuhl zu warten schien, machte auf Anhieb einen seriösen Eindruck auf Frau Meier; zumindest trug er ein weißes, gebügeltes Hemd und sogar eine Krawatte, die auch nicht allzu auffällig gemustert war.

"Entschuldigen Sie, junger Mann", sagte sie, bemüht, ihrer Stimme einen ruhigen und normalen, alltäglichen Klang zu verleihen.

"Ich möchte Sie nicht stören, aber warten Sie zufällig nicht auch auf den Kaiserstühler Bus?"

Der Mann blickte sie zögernd an, so als wüßte er nicht, ob er überhaupt antworten solle oder nicht.

"Ja, wieso?", kam es schließlich doch aus ihm heraus.

"Ich frage nur, weil der nächste Bus ja erst in einer halben Stunde fährt. Ich würde in der Zwischenzeit gern einen Kaffee holen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, so lange auf mein Paket hier aufzupassen?"

Der Mann blickte auf den sorgsam verschnürten Karton, den die alte Frau so überaus vorsichtig, geradezu andächtig auf der Bank abgelegt hatte. Er überlegte nur kurz:

"Ja, natürlich, das tue ich doch gerne. Ich muß ohnehin hier auch auf den nächsten Bus warten. Wissen Sie was, gute Frau, hier, nehmen sie das Geld und bringen Sie mir doch auch eine Tasse mit. Das Wechselgeld können sie mir ja mit zurückbringen."

Er streckte ihr einen Zwanzigmarkschein hin. Das hatte sie nicht erwartet. Sie verspürte fast so etwas wie Rührung.

"Es sind nicht alle Menschen schlecht", dachte sie. Dieser nette, junge Mann erwies sich nicht nur als äußerst hilfsbereit, sondern faßte auf Anhieb sogar so viel Vertrauen in eine ihm völlig fremde Person, daß er ihr ohne weiteres zwanzig Mark in die Hände legte. Ihr Gesicht wurde unmerklich um eine Spur röter.

"Gerne, junger Mann, wie hätten sie ihn denn gerne, ihren Kaffee? Mit Milch oder Zucker?"

"Beides, Milch und Zucker bitte."

"Gerne, ich bin gleich wieder zurück."

Sie nahm den Zwanzigmarkschein, faltete ihn sorgfältig zusammen und steckte ihn in ihren Geldbeutel. Sie hatte vor, ihm diesen Schein unangebrochen zurückzugeben, mit der beiläufigen Bemerkung, die Bedienung hätte nicht genügend Kleingeld zum Wechseln gehabt und deshalb hätte sie ihn daher auf diese Tasse Kaffee eingeladen; eine Hand wäscht die andere.

Sie hatte einen verhältnismäßig langen Weg vor sich, das alte Bahnhofsgebäude wurde erst vor kurzem abgerissen, und bis das neue erstellt ist … Sie schlich sich den endlos langen Bauzaun entlang, bis sie das Provisorium erreicht hatte, das in der Zwischenzeit Fahrkartenschalter, Kiosk und Stehcafé ersetzen mußte. Nach einigem Suchen fand sie das Café. Man war auf solche Fälle schon vorbereitet. Sie erhielt zwei verschließbare Pappbecher Kaffee, einmal mit, einmal ohne Milch und Zucker. Sie kramte in ihrem Geldbeutel nach dem Kleingeld und bezahlte. Mit spitzen Fingern packte sie die beiden Kaffeebecher am oberen Rand und nahm sie mit hinaus. Ihren alten Händen machte die Hitze des heißen Kaffees nichts aus, die trotz Isolierung durch die Becher drang.

Während sie wieder zur Bushaltestelle ging, überlegte sie noch, ob sie diesem freundlichen jungen Mann erzählen sollte, was sich in dem Paket befand, das er netterweise so umsichtig bewachte.

Sie beschloß dann aber, besser erst einmal nichts davon zu erzählen, daß sie eine tote Katze durch den halben Kaiserstuhl kutschieren wollte, man könnte ja sonst meinen, sie selber sei ja genauso eine alte Schachtel, wie die, die sie da so vorsichtig umherbugsierte.

Als sie um die Ecke bog, hätte sie die zwei Kaffeebecher fast fallenlassen. Das Buswartehäuschen war leer! Weit und breit war nichts zu sehen, weder von dem "netten jungen Mann", noch von ihrem Paket. Sie mochte ihren Augen nicht trauen. Sie hastete auf das Wartebänkchen zu.

"Sicher hat er noch eine dringende Besorgung machen müssen, und das Paket einfach dazu mitgenommen, damit es nicht unbewacht blieb", versuchte sie noch eine plausible Erklärung zu finden, um ihre Hoffnung aufrechterhalten zu können.

Sie stellte die Kaffeebecher auf der Bank ab und setzte sich daneben. Er mußte ja bald wieder zurück sein, schließlich wollte der junge Mann ja denselben Bus nehmen wie sie.

Das Warten wurde ihr immer unerträglicher. Wie eine schwere Last legte sich langsam das unerträgliche Gefühl um sie, daß der nette junge Mann vielleicht doch gar nicht so nett gewesen sein könnte, und sich mit dem Paket …

Nein, das konnte einfach nicht sein, welcher normale Mensch käme schon auf die Idee, das Paket einer alten Frau für so wertvoll zu erachten, daß er alle …

Nach einer weiteren Viertelstunde kam der Bus. Sie schaute sich noch einmal um, konnte aber weit und breit nichts mehr von dem jungen Mann entdecken. Es war unfaßbar, aber sie mußte sich wohl der traurigen und irgendwie blamablen Wirklichkeit stellen.

Eine entsetzliche Leere befiel sie, ein Schatten, der sich mit einem Mal über die ganze Welt gelegt hatte und alles verdunkelte wie bei einer Sonnenfinsternis. Unerträgliche Wut brandete in ihr hoch, längst vergessene Tränen schossen ihr in die Augen, rannen das zerfurchte Gesicht hinab. Sie wandte sich ab und schluchzte leise in die rissigen Hände.

Es mußte am Aufdruck des Paketes gelegen haben, eine andere Erklärung konnte sie nicht finden. Sie hatte als "Sarg" für Sara die Originalverpackung des Videorecorders genommen, den sie vor ein paar Wochen von ihrer Enkelin zum Geburtstag bekommen hatte, einen Sony SLV-E 123 mit allen nur denkbaren Schikanen.

Ungeachtet ihrer tiefen Trauer, trotz ihres nagenden Schmerzes konnte sie sich nach einer Weile dennoch auch ein Grinsen nicht verkneifen, das immer breiter wurde, bis es schließlich als lauthals schallendes Lachen aus ihr herausplatzte: Zwanzig Mark mochten für einen fabrikneuen Videorecorder nicht viel Geld sein, für eine tote Katze allerdings schon.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hajku,

dein Text ist amüsant und recht locker-flockig geschrieben, so dass man ihn trotz der Länge schnell in einem durchliest.

Was ich allerdings nicht verstanden habe: Warum kann Frau Meier das Paket nicht einfach mit ins Café nehmen? (Sorry, wenn ich da was überlesen habe.) Deswegen kam mir der Verlauf ziemlich konstruiert vor.

Zwei sprachliche Dinge, die mir auffielen:

Was für ein beschissenes Los es doch ist, immer übrigbleiben zu müssen
Der Ausdruck "beschissen" passt absolut nicht zum sonstigen Stil des Textes.
Nein, das konnte einfach nicht sein, welcher normale Mensch käme schon auf die Idee, einer alten Frau ihr Paket für so wertvoll zu erachten, daß er alle ...
Gegen unvollständige Sätze, sofern der Kontext sie erfordert, habe ich nichts, solange ich als Leser erahnen kann, wie sie weitergehen. Kann ich hier leider nicht.
Zudem ist er auch sprachlich holperig: Statt "... einer alten Frau ihr Paket" klänge mM nach "das Paket einer alten Frau" sehr viel besser.

Ginny

 

Hallo Ginny-Rose,

vielen Dank für deine Anmerkungen. Die stilistischen Mängel habe ich inzwischen behoben. Natürlich meinte ich, daß die Frau einen Kaffee holen gehen wollte und deshalb nicht umständlicherweise sich mit dem Paket noch abmühen wollte. Aber Denken und Schreiben ist halt manchmal zweierlei.

Viele liebe Grüße
Hans Jürgen

 

Hallo Hajku,

ich finde deine Geschichte auch ganz amüsant, sehr flüssig geschrieben und das Ende gut eingefädelt. Auch den Anfang fand ich sehr gelungen, schliesslich denkt man zuerst an einen Menschen wenn man liest "Sara ist tot".

Allerdings finde ich es ein bisschen konstruiert, dass die beiden guten, alten Freundinnen sich schon 10 Jahre nicht mehr gesehen (und gesprochen?) haben. Offenbar ist ein Telefonanruf oder eine Busfahrt zur Freundin für die Prot. keine grosse Schwierigkeit.

Ausserdem finde ich, das du manchmal ziemlich lange auf "Nebenkriegsschauplätzen" verweilst, so dass man schnell mal den "roten Faden" verlieren kann.

Viele Grüsse!
Labrand

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom