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Das Prinzip des Lebens
Das Prinzip des Lebens
Das Passagierschiff glitt langsam und lautlos über die schwarzen Fluten, ein formloser, riesiger Schatten in der Nacht. Dieser Anblick von der Seite würde schon fast bedrohlich und angsteinflößend auf einen Zuschauer wirken und die verträumte, leichte Fröhlichkeit eines Touristen auf dem Ufer, der müde, aber glücklich nach einer Feier am Strand entlangspazierte, vertreiben. Dieses Schiff, das so dunkel war und so viele Geheimnisse borg, mit jedem Leben, das es in sich trug, als ob die Menschen, jeder einzelne Passagier, eine Tür in ein anderes Labyrinth darstellen würde, würde den sorglosen Touristen auf die Tatsache aufmerksam machen, dass es noch viel Unentdecktes gab und dass alle einander eigentlich völlig fremd waren, obwohl sie unter einem Dach lebten und meinten, einander zu kennen. Er würde verstehen, dass er an seinem Urlaubsort nur sekundenlang dem Ernst des Lebens entflohen ist und dass er sehr bald wieder zurückkehren müsste.
Doch den Kapitän dieses Schiffes beschäftigten ganz andere Gedanken, als er mit einer rauchenden Zigarre zwischen Zeige- und Mittelfinger, die übereinandergelegten Arme auf der Reling abgestützt, gedankenversunken in die schwarzen, unendlichen Tiefen unter sich starrte. Im Kopf war ganz wo anders. Vor seinen Augen schwammen Fische, Korallen und die ganze farbige Unterwasserwelt vorüber und in seinen Ohren rauschte das Wasser des Ozeans.
Doch plötzlich wurde er aus seinen Träumen hochgeschreckt – die Alarmglocke läutete. Ruckartig richtete er sich auf, in seinen Augen keine Spur von der Verträumtheit gerade eben, nur ernste Entschlossenheit, die Bereitschaft, das Kommando und die Verantwortung zu übernehmen. Doch schon klang ein Schrei vom Wachtturm herab: “ Fehlalarm, Captain! Hab einen falschen Knopf gedrückt.“ „ Was für ein Idiot! Damit darf man nicht scherzen. Ich werde mir wohl noch mal seine Papiere anschauen müssen...so eine Mannschaft brauche ich nicht.“, dachte der Kapitän.
Langsam ließ er seinen Oberkörper wieder in die Ausgangsstellung zurücksinken und atmete tief durch. Erst jetzt merkte er, wie sein Herz beim Klang der Alarmglocke angefangen hat zu schlagen. Sein Kind, die Burg des Schiffes schien doch so sicher zu sein, abgesichert durch die modernste Technik. Wieso dann die Panik? Er versuchte, sich wieder in den Trancezustand zu versetzen, in dem er gerade gewesen war, doch es ging nicht. Andere, finstere, seltsame Gedanken drängten sich in sein Gehirn. Vor seinem inneren Augen meinte er sogar die leuchtenden Neuronen, die Dendriten und Axons, die Synapsen, and denen die Signale mit höchster Geschwindigkeit übermittelt werden, zu sehen.
War sein Leben denn nicht so wie das Schiff auf dem riesigen Ozean? Er „schwamm“ doch auch irgendwohin, ohne zu wissen, wohin, wie lange und wann seine Reise zu Ende sein würde. Nur, dass er auf seinem Schiff wie ein kleinre Gott war, denn er wusste, wohin er die leblose Masse führte und wann es vorbei sein würde. Der Gedanke daran, dass er für den richtigen Gott auch eine leblose Masse, eine Spielfigur war, behagte ihm nicht. Sein Blick wurde dunkler und die Augenbrauen rückten näher zusammen. Er ging durch das Leben ohne die tieferen Strömungen zu kennen, weil das unmöglich war, wie ein Herumtappen im dunklen Zimmer, auf der Suche nach einer schwarzen Katze, war sein verdammtes Leben.
Woran orientierte er sich? Auf dem Schiff nach den Gestirnen, dem Wind. Im Leben nach bestimmten Ereignissen, Personen, der Umgebung traf eine Entscheidung. Doch genauso, wie die Sterne ihm früher manchmal einen falschen Weg wiesen, besser gesagt, wie er ihre Zeichen aus Unwissenheit und Unerfahrenheit falsch interpretierte (an dieser Stelle verzogen sich seine Lippen zu einem grimmigen Lächeln), so traf er auch im richtigen Leben nicht immer die richtige Entscheidung, oft verwirrt durch Gefühle oder irregeleitet von einem falschen Eindruck von einer Person. Verdammt sei die menschliche Dummheit, das naive Vertrauen eines Kätzchens!
Der Kapitän drückte die Zigarre wütend aus. Er drehte sich um und ließ seinen Blick über das leere Deck schweifen. Er wusste, dass es seine Aufgabe war, seine Ladung, diese wertvolle Ladung aus den verschiedensten Menschen, sicher abzuliefern. Diese Last drückte. Doch war es im richtigen Leben anders? Nein. Jeder war von jedem abhängig, man war aneinander geklebt und die Leben miteinander vermischt, man musste ziehen, um nicht unterzugehen – für alle und für sich. Also war man Passagier und Kapitän und auch die technischen Sicherheitsgeräte gleichzeitig. Eine Kettenreaktion, ein Teufelskreis. Und manche Idioten versuchten noch die anderen runterzubekommen, zu ertränken und verstanden nicht, dass sie sich damit selbst töteten. Der Captain spuckte aus. Er hasste es, wenn irgendwas nicht nach Plan lief oder wenn jemand etwas nicht verstand. Das Schlimmste war ja noch, wenn sich die am engsten verketteten Wesen gegeneinander auflehnten, obwohl sie doch die größte Verantwortung für das Leben der Anderen trugen: Mutter und Tochter, Vater und Sohn, Bruder und Schwester.
Zum Teufel mit dieser falschen, hinterlistigen Welt! Man weiß nie, was einen erwartet, unter dem ruhigen Wasser, unter dem falschen Schein und dann plötzlich „Bum!“ und es ist zu spät, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen und die Alarmglocke hilft auch nicht mehr. Man darf nie zu sicher, zu ruhig, zu entspannt sein, denn dann hält man sich nicht gut genug am Seil fest. Aber, wenn es nur das eigene Leben wäre, dann gut, doch es sind ja noch die Schicksale anderer, die an dir zugrunde gehen und du bist verpflichtet weiterzumachen, denn sonst müsstest du schon als Pflicht, für das reine Gewissen sterben.
Oh Gott! Was für ein Wirrwarr, wie ein verknoteter Wollknäuel – kein Anfang und kein Ende! Wie soll man mit solchen Gedanken ein vernünftiges Leben führen, wenn man doch weiß, dass man nur ein Kettenglied ist, an dem noch viele hängen? Komischerweise macht nur der Gedanke, selbst zu versagen, so große Angst, nicht aber der, dass jemand vor dir versagt und du hinabstürzt. Seltsam, wo doch die charakteristischste Eigenschaft des Menschen Egoismus ist...
Was bleibt da noch? Nur die Träume als feige Flucht vor der brutalen Realität, doch dann tut es noch mehr weh, wenn man plötzlich rausgerissen wird. Als ob man sich mitten im Sturm, auf offener See vorstellen würde, man wäre im sicheren Hafen und dazu noch bei schönem Wetter, ist doch klar, dass man dann nichts retten kann. Das Einfachste ist, sich wie eine Schildkröte im Panzer zu verkriechen, statt sich wie ein verletztes, todgeweihtes Tier auf den letzten Kampf vorzubereiten! Ein harter Fluch verließ den Mund des Kapitäns. Es wird sein, was sein soll.
Mit diesem Gedanken verließ der Captain seine Position, denn die Sonne ging auf, vertrieb die dunklen Gespenster der Nacht, die in Form von pessimistischen Gedanken im Kopf des Verantwortlichen herumsponnen, und ließ das Schiff, den hellblauen Himmel und das grün-blaue Wasser des Ozeans in goldenen Tönen erstrahlen.
In einigen Minuten stand der Captain schon auf seinem üblichen Posten, der Kapitänsbrücke und begrüßte die noch vom Schlaf trunkenen Passagiere. Sein Gesicht war ernst, freundlich, kühl und gleichzeitig entfernt, der Blick eines starken, mutigen, angstlosen Mannes. Seine Maske saß gut und über seinem Kopf flogen schreiende, weiße Möwen. Alles lief seinen gewohnten Gang.