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Das Spiel

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23.09.2004
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Das Spiel

Das Spiel

Er streckte seine Hand aus, aber hielt im letzten Moment inne. Mein Puls beschleunigte sich. Ich sah ihn an, die fliehende Stirn, über die schütteres graues Haar fiel, hinter der ich es arbeiten sehen konnte. So wie ich die kurzen, ruckartigen Bewegungen seiner Augen sehen konnte. Graue Augen. In diesen Momenten, in denen seine Augen jene ruckartigen, schnellen Bewegungen machten und die kleinen Falten auf seiner Stirn abwechselnd tiefer und flacher wurden, manchmal ganz verschwanden, dann konnte man den Ansatz eines Lächelns in seinen Mundwinkeln erkennen, der einem wirklich Angst machen konnte. Wir waren in einer entscheidenden Phase des Spiels angekommen. Er legte die Hand zurück in seinen Schoß, und hinter seiner Stirn arbeitete es noch ein paar Augenblicke lang, bis es soweit war und er seine Figuren mit erschreckender Ruhe über das Brett jagte. Er machte seinen Zug.

Guter Zug.
Danke. Jetzt du.

Ich musste die Situation neu einschätzen. Es gab Dinge, von denen hofft man, dass sein Gegenüber sie übersieht. Dies war einer davon gewesen. Er lehnte sich zurück. Ich konzentrierte mich jetzt nur noch auf das Spiel, das von der Neonlampe an der Decke erhellt wurde und auf dem mich die neue Anordnung der Figuren höhnisch anzugrinsen schien. Mir war klar, dass ich ruhig bleiben musste. In meinem Gedächtnis versuchte ich, klassische Situationen zu finden, die mit der jetzigen vergleichbar war. Ein guter Konter war alles, was ich jetzt brauchte. Seine Blicke durchbohrten mich, ich konnte beinahe spüren, wie er mich in seinen Gedanken verhöhnte, er war kurz davor, zu schreien: Mach einen Fehler! Diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun. Ich hatte begriffen, dass dieses Spiel ein bisher unerreichtes Ausmaß angenommen hatte, die Atmosphäre auf und über dem Brett schien zu pulsieren und jeder bisher dokumentierten Sitzung zu spotten.

Meine Finger zitterten leicht, als ich eine Zigarette aus der kleinen Schachtel zog, und ich wusste genau, dass er es sah und es ihm gefiel. Er war jetzt im Vorteil, und es gab wohl kein befriedigenderes Gefühl, als in einem solchen Spiel im Vorteil zu sein. Ich zog an der Zigarette, während der Schein des Feuerzeugs mein Gesicht erhellte, und ich genoss das leichte Kratzen im Hals, als sich der gute Geschmack des Tabaks in meinem Körper verbreitete, und dann hatte ich einen Einfall. Ich nahm eine Ecke des Spielbretts in Augenschein, hier hielten sich einige Figuren auf, die vom bisherigen Spielverlauf kaum beachtet worden waren und sehnsüchtig darauf zu warten schienen, den Gegner zu zermalmen.
Er räusperte sich zurückhaltend. War es nur der Rauch, oder hatte er meine Gedanken gelesen?
Mein wacher Verstand hatte eine Fährte aufgenommen, verfolgte sie wie ein halb verhungerter Wolf auf der Suche nach lebensrettender Beute. Zug um Zug konstruierte ich im Voraus, versuchte, seine Reaktionen zu erahnen, aber er war so verschlossen und kaum vorhersehbar.

Meine Hand streckte sich wie von selbst aus, aber nur, um die Zigarette in dem Aschenbecher auszudrücken, neben dem meine bisher geschlagenen Figuren standen, ich wunderte mich beinahe selbst, wie schnell ich sie konsumiert hatte. Als ich von diesem kurzen, ausschweifenden Gedanken zum Spiel zurückkehrte, erkannte ich, wie nötig diese Unterbrechung gewesen war. Die Aufstellung der Figuren erschien mir plötzlich vertraut, als hätte ich sie selbst nur zu niederen Übungszwecken aufgebaut, und genau so klar war mir der Konter jetzt.
Seine Finger ruhten in seinem Schoß, sein Blick wanderte über den Tisch, mein Gesicht und wieder zurück, sein Atem ging dabei ruhig und regelmäßig.
Meine Finger begannen, über das Brett zu schnellen und eine, zwei, drei Figuren umzusetzen, das Ergebnis stimmte mit dem in meinem Kopf entworfenen genau überein, ich war zufrieden und lehnte mich zurück, jetzt zur Untätigkeit verbannt, ich konnte nur noch zusehen und hoffen, dass er das tat, wovon ich hoffte, dass er es tat.

Er schob sich eine Strähne aus dem Gesicht und nahm einen Schluck Wasser. Er stellte das Glas so leise auf den Tisch zurück, dass es unerträglich war. Das Spielbrett lag offen vor ihm, und er begann, seine Fingerspitzen aufeinander hämmern zu lassen und dabei meinen Zug zu analysieren. Wieder huschten diese Schatten über seine Stirn, es war beängstigend, als würden Millionen von winzigen Zahnrädern hinter seiner Stirn arbeiten.
Dann zog er. Eine kurze Bewegung, eine Figur. Entsetzlich. Er schien meinen Zug einfach nicht registriert zu haben, was mich wie ein Schlag vor den Kopf traf. Seine Basen lagen jetzt offen vor mir, ich konnte nicht erkennen, aus welchem Grund er mir diesen offensichtlichen Vorteil einräumte.
Ich nahm einen Schluck Wasser und erkannte glücklicherweise erst dann, so dass ich mich nicht verschluckte und husten musste, welche Falle er mit gestellt hatte.

Er hatte sich verwundbarer gemacht, als es der gesunde Verstand erlauben würde, solange man gewinnen wollte. Doch so leichtfertig war er bei weitem nicht, natürlich hätte ich, wenn ich versucht hätte, diese Stellung vorschnell auszunutzen, meine eigene Defensive komplett aufgebrochen und ihm den Sieg quasi geschenkt, noch bevor ich endgültig hätte zustoßen können.

Mein kühler Verstand verbot mir, zuviel Regung zu zeigen. Ein falscher Blick, ein Lächeln, und er wüsste Bescheid und könnte sich schon wieder neue Strategien zurechtlegen. Nein, er sollte ruhig glauben, er hätte mich. Poker-Face.

Ich nahm noch einen Schluck Wasser und betrachtete ruhig das Spielfeld. Seine Base lag nahezu unverteidigt vor mir. Die einzige Figur in Reichweite war aber Stütze meiner eigenen Defensive. Ich hörte ihn sich räuspern, blickte aber nicht auf. Das Spiel war in einer heißen Phase angelangt, aber ich glaubte, die Taktik meines Gegners zu kennen, blieb also vergleichsweise ruhig, mir war klar, was zu tun war. Ein Zug, der nicht verriet, was ich wusste, mir aber dennoch genügend Vorteile verschaffte. Vor Beginn dieses Spiels hätte ich nicht geglaubt, dass ich so lange durchhalten würde, aber den Gedanken daran, nach zehn, elf Zügen vernichtet zu werden, hatte ich mir verboten. Das Spiel hatte viele ungeahnte Wendungen genommen, aber ich hatte mich als anpassungsfähiger und flexibler Spieler bewiesen und gerade die Ruhe meines Gegenübers bestätigte mir auf gewisse Weise, dass ich mehr war, als er erwartet hatte. Dennoch glaubte ich keine Sekunde daran, dass er vielleicht doch nicht so stark war, wie alle gesagt hatten. Es umgab ihn wie eine Aura, war dick, fast greifbar.Ich studierte das Spiel. Ging jede einzelne meiner Figuren und Stellungen ab, dachte ein paar Züge im Voraus, ein Vorgang, der in meinem Kopf schon automatisch vonstatten ging, so dass ich noch genügend geistige Kapazität hatte, nach wirklich großartigen Kombinationen von Zügen zu suchen, die das ganze Spiel kippen konnten.

So wie ich das Spiel betrachtete, fühlte ich auch seinen Blick noch immer auf mir ruhen. War er ebenfalls auf der Suche? Auf der Suche nach unbewussten Bewegungen, Gesten, die ihm meine Unsicherheit darlegten, oder noch viel mehr?
Ich verscheuchte den Gedanken. Ob es nun so war oder nicht, machte keinen Unterschied, was zählte, war das Spiel und nichts als das Spiel.

Er scharrte mit den Füßen, dachte ich, aber es war doch nur eine einmalige Bewegung, unbewusst und nichtig, ganz sicher. Ich zog. Er räusperte sich, sah hin.

Ich kann heute nicht mehr sagen, woher ich die Inspiration für den finalen Zug hatte. Hatte ich sie wirklich? Aus einer erklärbaren Kette von Erinnerungen?

Ich zog. Er räusperte sich, sah hin. Es geschah etwas, dass ich bis zu jenem Zeitpunkt nicht in derartiger Weise für möglich gehalten hätte. Ich konnte sehen, wie hinter seiner Stirn etwas aufhörte. Wie eine Maschine, die sich selbst abschaltet. Er atmete tief durch, den Blick leicht gesenkt, auf das Spiel. Ich lehnte mich zurück. Er lehnte sich zurück und sah mir in die Augen. Graue Augen.
Er starb, und sein Körper löste sich auf.

Die Spielfiguren nahmen ganz von selbst wieder ihre ursprüngliche Position ein, und nachdem ein scheinbar endlos langer Augenblick vergangen war, hörte ich, wie eine Tür geöffnet wurde.

 

Friedvolle Grüße

und ein herzliches Willkommen auf KG.de.

Deine Geschichte hat Licht, aber auch Schatten. Zunächst dachte ich, es handelt sich um zwei Schachspieler, die bei einem Turnier gegeneinander angetreten sind, doch dem ist wohl nicht so. Mir gefällt die Art und Weise, wie Du die Konfrontation aus der Sicht des Außenseiters beschreibst. Da kann ich mich in den Protagonisten hinein versetzen.

Allein, das Spiel selber irritiert mich. Was spielen die beiden da? Und warum löst sich der Gegner am Ende der Partie auf? Was hat es mit der Türe auf sich, die da zum Schluß geöffnet wird?
Die Fragen solltest Du noch beantworten, dann hast Du einen richtig guten Einstand auf der Seite hier, denn Schreiben kannst Du ganz offensichtlich, sonst hätte ich die Geschichte nicht zu Ende gelesen.

Kane

 

Och, ich dachte mir, das überlasse ich der Fantasie des Lesers :)
Auch über das Spiel hab ich mir keine Gedanken gemacht, es ist halt einfach ein Spiel.

Vielleicht ist das Ganze ja auch nur eine große Metapher. Wie auch immer, wenn ich diese Fragen alle beantwortet hätte, hätte die Geschichte für mich persönlich einiges an Reiz verloren, da sie davon lebt, dass so vieles unklar bleibt.

 

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