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Davon geschlichen (überarbeitete Version)
Als Mira vor seiner Haustür, mit dem Schlüssel in der Hand, stand, beschlich sie ein eigenartiges Gefühl. Sie konnte es nicht erklären oder einteilen. Es fühlte sich an, wie wenn ihr jemand eine Faust in ihren Magen schlug und der Schmerz gekoppelt mit der Übelkeit kroch ihre Speiseröhre `rauf. Mira schluckte hart, würgte das Gefühl wieder `runter. Sie wusste, die Vorahnung, die seit der Diagnose immer wieder in ihrem Kopf rumspuckte, würde nun wahr werden.
„Ja, die letzten acht Monate waren für uns alle verdammt hart. Aber für Walter wohl am härtesten." Ihre Gedanken schweifen von der Haustür weg, zurück in die Vergangenheit.
Vor acht Monaten fing alles offiziell an, inoffiziell weiss es niemand genau. Walter klönte – etwas untypisch für ihn, ansonsten ertrug er alles wie ein Held – über starke Kopfschmerzen und doppeltes Sehen. Mira versuchte ihm zu befehlen, einen Arzt aufzusuchen, als sie jedoch auf taube Ohren stiess, liess sie ihre Macht als Walters Vorgesetzte walten. Sie packte ihn ins Auto und fuhr in die Notaufnahme des Universitätsspitals. Auf dem Weg quer durch Zürich, verkündete Walter seinen Unmut laut. Mira liess ihn reden. Sie machte sich Sorgen, denn die Symptome deuteten auf einen Schlaganfall oder einen Hirntumor hin. Und so konnte und wollte sie Walter nicht arbeiten lassen!
Ihr ging es bei dieser Aktion nicht um die Risiken und Konsequenzen fürs Geschäft, nein, ihre Sorge gehörte dem Mensch Walter. Er war für sie mehr als nur ein Mitarbeiter – eigentlich sind sie das alle, sie nennt ihre Mitarbeiter gerne 'meine Babies' – er gehörte zu ihrer Familie. Sie wusste, aus zahlreichen Gesprächen am Feierabend, dass die Firma wirklich seine Familie war. Irgendwo auf der Welt gab es zwar einen Bruder und eine Schwester, doch war der Kontakt seit über zehn Jahren abgerissen.
Im Spital angekommen, gingen sie sogleich zur Notaufnahme. Mira platzierte Walter gleich auf einem Stuhl und ging zur Schwester hinter der Empfangstheke. Da Mira die langen Wartezeiten kannte, richtete sie sich auf das „Arsch-Flach-Sitzen“ im Vorraum ein. Als sie jedoch der Schwester die Symptome von Walter nannte, registrierte sie den geschockten Blick sofort. Die Schwester, plötzlich hektisch, sagte: „Bitte nehmen Sie einen Moment Platz. Wir werden Sie gleich holen. Danke!“
Als Miras Po einen Fingerbreit von der Sitzfläche entfernt war, stand eine junge, hübsche Schwester vor ihnen: „Sie können gleich mitkommen. Bitte hier entlang.“ Sie wies sie zu einem Bett, zog den Vorhang, der vor neugierigen Blicken schützt, zu. „Bitte ziehen Sie ihre Kleider, bis auf die Unterwäsche, aus und dafür dieses Nachthemd an. Ihre Kleider und die Schuhe können Sie hier hinein legen.“ Sie zeigte auf ein Plastikbecken, dass unter der Liegefläche ins Bett integriert war.
Während Walter sich umzog, ging Mira diskret aus dem Zimmer und suchte einen Kaffeeautomaten. Zum Glück war dort das Telefonieren mit dem Handy erlaubt, so konnte sie sich schnell im Büro für den Rest des Tages abmelden.
Mit dem Kaffee in der Hand ging sie zurück zu Walter, setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett. Er hing bereits am Tropf.
„Da hast du mir aber einen verdammten Scheiss eingebrockt! Hier komme ich nicht mehr so schnell raus, was?“ Blaffte er Mira an. Sie sah die Angst in seinen Augen und statt die Wut ernst zu nehmen, nahm sie seine Hand in die ihre.
So sass die knapp dreissigjährige Vorgesetzte mit ihrem, doppelt so alten, Mitarbeiter Händchen haltend da und warteten auf den Arzt.
Eine neue Schwester blickte kurz zwischen dem Vorhang durch und bemerkte: „Oh, Sie haben aber eine liebe Tochter, das sieht man hier nicht alle Tage!“ Bei diesen Worten blitzte es in Walters Augen und eine kleine Sonne erhellte sein Gesicht. Er schaute dabei Mira an. Sie lächelten und blinzelten sich zu. Der Bann war gebrochen und die Wut verflogen.
Nach einem vierstündigen Ärzte- und Untersuchungsmarathon stand fest, Walter musste bleiben. Mira wich nicht mehr von seiner Seite, versuchte mit Spässen ihn aufzuheitern und hielt – wann immer möglich – seine Hand. Sie machte sich erst auf den Heimweg, als er sein Zimmer auf der Station beziehen konnte.
Am nächsten Tag telefonierten sie morgens und am Feierabend ging sie ihn besuchen. So vergingen der zweite, der dritte und auch der vierte Tag. Walter musste viele Untersuchungen über sich ergehen lassen, doch die entgültige Diagnose stand erst in der zweiten Woche fest.
Mira versuchte zuerst mit der Ärztin zu sprechen, wollte telefonisch einen Termin ausmachen. Sie wusste jedoch nicht, dass Walter sie als seine „Angehörige“ angegeben hatte, was die Ärztin von der Schweigepflicht befreite. So erfuhr Mira am Telefon die schreckliche Wahrheit: „Es tut mir sehr leid, Frau Berger, die Diagnose lautet Lungenkrebs mit Ableger, mindestens vier, im Kopf. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie hoch die Lebenserwartungen noch sind, jedenfalls ist es nicht mehr heilbar. Bestrahlung und Chemo-Therapie sind sicher sinnvoll, allerdings sind sie nur lebensverlängernd und nicht heilend!“
„Uff! Vielen Dank für Ihre Offenheit Frau Doktor. Weiss es Walter schon?“
„Nein, aber ich wollte gerade eben zu ihm gehen. Es wäre gut, wenn Sie heute noch zu ihm kommen könnten. Ich denke, er wird Sie heute brauchen!“
„Ja klar, kein Thema. Werde so bald wie möglich kommen. Auf Wiedersehen.“ „Wiedersehen.“
Mira sass lang mit dem Hörer in der Hand in ihrem Büro, starrte vor sich hin. Sie zerlegte die gesagten Worte in Buchstaben und hoffte, diese neu zusammen bauen zu können. Dies funktionierte jedoch nicht, die Realität holte sie gnadenlos ein. Sie beugte sich vorn über, legte den Kopf auf die Tischplatte und fing an zu weinen.
Einige Zeit später, stahl sie sich aus dem Büro auf die Toilette, lies kaltes Wasser in ihre Hände fliessen und versenkte ihr Gesicht darin.
„Oh mein Gott! Nun muss ich stark sein, muss es den Anderen sagen. Ich bin stark! Ich schaff` das! Ich werde nicht weinen! Ich schaff` das!“
Mit gestrafften Schultern trommelte sie ihre Meute zusammen, erzählte ihnen die schlechte Neuigkeit und verabschiedete sich sogleich um zu Walter zu fahren.
Mira strich sich mit der Hand über die Augen und vertrieb damit die Erinnerungen. Durch das Dahingleiten auf der Welle der Vergangenheit hatte sie sich in Raum und Zeit verloren, dabei stand sie immer noch unschlüssig vor Walters Haustür. Die Ahnung wurde sehr stark, so stark, dass sie nicht sicher war, ob sie den Anblick ertragen würde und konnte. Aber bevor sie sich der Peinlichkeit von Feuerwehr und Polizei aussetzte und Walter wäre nur am schlafen, würde sie lieber selber nachschauen.
Sie atmete noch ein paar Male tief durch, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Es klickte leise und die Tür sprang auf. Sofort sprang ihr ein ekliger, modriger Gestank entgegen und liess sie rückwärts taumeln. Sie kramte ihre Zigaretten aus der Handtasche, zündete sich, in der Hoffnung der Rauch würde den Gestank etwas abschwächen, eine an. Mit ihr bewaffnet, betrat sie die kleine Zweizimmerwohnung und befand sich gleich in der Küche. Die Wohnung wurde von einer unnatürlichen Dunkelheit eingehüllt. Draussen schien die Aprilsonne schon kräftig vom Himmel herunter, doch die schweren, dunkelblauen Vorhänge sperrten ihre Strahlen hinaus. Von der Küche aus sah Mira ins Schlaf- und Esszimmer, doch von Walter fehlte jede Spur!
Mira wollte die Dunkelheit, Stille und den Geruch zerreisen. „Er wird mir sicher nicht antworten, aber es ist so verdammt still hier!“ Dachte sie und versuchte seinen Namen zu rufen. Doch ausser einem Krächzen brachte sie nichts `raus. Die Stimmbänder gehorchten ihr nicht mehr.
Ihr Blick glitt über die Wände der Küche, hinüber zur Badezimmertür. Diese stand einen spaltbreit offen, ein Wasserhahn tropfte leise. Beim `rübergehen verstärkte sich ihre Übelkeit, der Gestank war allgegenwärtig. Mit dem rechten Zeigefinger tippte sie die Türe an und versuchte sie aufzustossen. Dies gelang nicht. Die Tür wurde durch etwas dahinter gestoppt.
Mira macht die Augen zu, wusste, nun würde die schlimme Vorahnung der letzten Monate wahr werden. Sie quetschte ihren Kopf durch den Türspalt, öffnete die Augen und da lag er! Es nahm ihr den Atem, Brechreiz überflutete sie und sie rannte aus der Wohnung an die frische Luft. Gegenüber seiner Wohnung setzte sie sich auf den Boden. Angelehnt an die kühle Betonwand warf sie den niedergebrannten Zigarettenstummel weg und nestelte mit zittrigen Fingern eine neue aus der Packung.
Den Kopf in die linke Hand gelegt, nahm sie einen tiefen Zug und versuchte dem Schock zu entkommen. Egal wie oft sie sich mit dieser Situation gedanklich auseinander gesetzt hatte, die Wucht der Realität war grausam.
Sie starrte, sie weiss bis heute nicht wie lange, auf den Boden und sah nur Walter. Nackt, tot, abgemagert, auf dem Boden zwischen der Dusche und dem Lavabo. Sein Körper, eine leblose Hülle, starr und in einer leicht verdrehten Lage, verursacht durch den Sturz.
Mira hätte gerne geschrieen, gekotzt, aber in diesem Moment war sie genauso tot wie er. Er hatte sie einfach verlassen, ohne einen Abschied. Hatte sich klammheimlich aus der Welt geschlichen.
Nach einiger Zeit, für Mira waren es wie Jahre, zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte den Notruf.
Ein Arzt und die Polizei kamen vorbei, bestellten einen Leichenwagen, stellten die Todesursache – Hirnschlag – fest und gaben die Dokumente Mira zur Unterschrift. „Was unterschreib` ich hier überhaupt? Schenke ich hiermit dem Teufel meine Seele? Scheissegal! Das spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr. Walter ist tot!“ Dachte sie, las nicht, unterschrieb es einfach. Es wurden ihr Fragen gestellt, die sie alle apathisch beantwortete. „Nein, ich bin nicht seine Tochter, nur seine Vorgesetzte.“ „Nein, ich hab` die Telefonnummern seiner Angehörigen nicht hier, sind zuhause.“ „Ja, ich rufe sie nachher an.“
Mira konnte sich nicht konzentrieren. Das Bild und der Gestank. Sie kamen immer wieder hoch. Sie wollte nach Hause unter die Dusche, sich schrubben, die Kleider verbrennen. Alles weg haben, vor allem den Gestank!
Der eine Polizist versiegelte die Haustür und dann gingen sie fort. Der Arzt drückte ihr einige Pillen, vermutlich Beruhigungsmittel, in die Hand und liess sie alleine zurück.
In Trance ging sie zu ihrem Cabriolet, liess mechanisch das Dach `runter, stieg ein und fuhr davon. Der Fahrtwind riss an ihren langen Haaren, doch es interessierte sie nicht. Wichtig war nur die frische Luft, einfach nur Luft!
Zuhause angekommen, suchte sie die Telefonnummer von Walters Schwester, legte sie aber gleich beiseite und ging ins Badezimmer. Unter der heissen Dusche kamen langsam die Lebensgeister zurück. Der verwesende Geruch hatte sich in ihrer Nase festgesetzt und auch heute riecht sie ihn noch oft.
Die Beerdigung von Walter fand eine Woche später statt. Nur eine kleine Abdankung auf dem Friedhof. Die Organisation blieb Mira erspart, dies erledigten seine Geschwister.
Viele Freunde, alle seine Mitarbeiter und seine Verwandten trafen sich vor dem kleinen Urnengrab.
Mira, die roten Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt, stand mit drei weissen Rosen und einem Brief da, verstand nicht was der Pfarrer predigte und liess ihren Tränen freien Lauf.
Sie hatte sich viele Gedanken über ihr Kondolenzschreiben an die Familie gemacht. Sie konnte einfach nichts schreiben. Da kam ihr die Idee, nicht den Hinterbliebenen etwas zu schreiben, sondern einen kleinen Brief an Walter. Sie hätte ihm so gerne noch persönlich für vieles gedankt und so konnte sie es wenigstens auf diesem Weg.
Lieber Walter
Ich möchte dir danke sagen, für die schöne Zeit, die wir zusammen erleben durften. Und dass ich von dir lernen konnte, dass ein Mitarbeiter ein Mensch ist, welcher viel wichtiger ist als das Geschäft und die richtigen Zahlen. Dass die Menschlichkeit in unserer Zeit etwas vom Wichtigsten, jedoch auch sehr dünn gesät ist.
Deinen Platz in meinem Herz hast du auf sicher. Ich wünsche dir alles Gute und Liebe, wo auch immer du nun bist und ich bitt` dich, gib etwas acht auf uns!
In Liebe deine Mira
„Staub zu Staub. Asche zu Asche. Hiermit übergeben wir die sterblichen Überreste von Walter der Erde und in deine Hände, oh grosser Gott.“ Sprach der Pfarrer, der Messner hob Walters Urne auf und versenkte sie im Grab.
Die Familie machte den Anfang, sie gingen einzeln zum Grab, knieten nieder und legten eine Rose zur Urne.
Mira ging als eine der Letzten vor, kniete sich auch hin, legte ihren Brief zusammen mit den Rosen hinein und berührte die kühle, leicht feuchte Erde, spürte das Gras und sagte ganz leise, nur für Walter bestimmt: „Das Bild von dir, so tot und ruhig am Boden, wird mich ein Leben lang begleiten. Aber die schönen Erinnerungen überwiegen es. Ich hab` dich lieb. Leb wohl!“