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Der alte Mann auf der Straße

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08.05.2004
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Der alte Mann auf der Straße

Leon schmunzelte jedes Mal, wenn er an dem alten Mann vorbeikam.
Er saß in sich versunken auf einer Bank mitten in der Münchner Fußgängerzone. In seinen zittrigen Händen hielt er fest an sich gepresst eine verbeulte Schuhschachtel. Sein Oberkörper wippte immer leicht vor und zurück, während er unverständlich in seinen 3-Tage-Bart murmelte. Unter der braun-schwarz karierten Baskenmütze ringelten spärlich seine letzten langen Haare hervor. So schaukelte er langsam vor sich hin, ohne den Trubel und die hektischen Menschen um sich zu bemerken. Und die Menschen bemerkten ihn auch nicht.
Nur Leon fiel er immer auf, wenn er von der Schule über den Marienplatz rannte, um seine U-Bahn nach Hause zu erwischen. Ab und zu verspürte er dann einen fast unwiderstehlichen Drang, sich zu dem armen Kerl zu setzen und ihn nach dem Inhalt der geheimnisvollen Schachtel zu fragen.

Eines Tages jedoch war der alte Mann verschwunden. Leon hatte keine Zeit sich darüber zu wundern, denn er war wie immer zu spät und musste schnellstens zu seinem Zug. Hastig stürmte er die Rolltreppen hinunter, am Kiosk und am Passfotoautomaten vorbei Richtung zweiter Rolltreppe zum Bahnsteig. Bevor er sie allerdings erreichte stoppte ihn der plötzliche Zusammenprall mit einer anderen Person. Durch die Wucht des Stoßes fiel Leon rücklings auf den steinernen Boden. Sein Schulranzen fing den Sturz einigermaßen ab, so dass er nur für einige Schocksekunden perplex auf dem Rücken lag und dem Hindernis direkt ins Gesicht sah.
Es war der Alte.
Mit der linken Hand drückte er nach wie vor seine Schuhschachtel an sich, die andere Hand streckte er dem Jungen entgegen. Zögerlich ergriff dieser die ihm angebotene Hilfe. Mit einer Kraft, die Leon dem so gebrechlich wirkenden Mann niemals zugetraut hätte wurde er auf die Beine gezogen.
„Tut mir leid!“ begann der kuriose Fremde mit tiefer, angenehmer Stimme zu sprechen. „Ich war gerade in Gedanken, habe dich nicht gesehen. Alles in Ordnung?“ Leon nickte langsam und bemerkte mit einem Blick auf die Uhr, dass er seine U-Bahn gerade verpasst hatte. „Kann ich noch etwas für dich tun... äh... Leon?“ fragte sein Gegenüber nach einem Blick auf das Namensschild an seinem Rucksack besorgt.

„Was ist in der Schachtel?“

Im selben Moment, als die Worte seine Lippen verlassen hatten, schlug sich Leon die Hand vor den Mund. Die Frage brannte schon so lange in ihm. Jetzt hatte er sie gestellt, in der unpassendsten aller Situationen. Er hatte erwartet sein Gegenüber verärgert zu sehen, doch zu seiner Verwunderung lächelte der Alte.
„Du siehst sie also auch?“ flüsterte er. Leon hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit so einer Antwort. Für einen Moment war er sprachlos. Wollte ihn dieser Kerl auf den Arm nehmen? „Setz dich einen Moment zu mir und ich erzähle dir etwas darüber.“ brummte der Mann, „Gleich hier neben dem Kiosk.“ Die Neugier siegte in Leon. Was konnte schon passieren? Er würde nichts von dem alten annehmen, außerdem waren sie hier immer unter Leuten. Er folgte dem Geheimnisvollen zu der steinernen Bank.

Als sie sich gesetzt hatten fragte Leon: „Was hat es denn jetzt mit dieser Schachtel auf sich? Und wieso sehe ich sie ‚auch’?“

„Weißt du, mein Junge. Ich sitze jeden Tag mitten in der Straße und niemand bemerkt mich, geschweige denn die alte, unscheinbare Schuhschachtel in meiner Hand. Du hast mich nicht nur gesehen, du hast mich richtig angesehen. Ich danke dir dafür.“ Ratlos und ein wenig verärgert sah Leon ihn an. Was sollte er davon halten... war das alles?

Doch der Mann fuhr fort:
„Es gibt Menschen, Leon, die machen ihr Leben lang Fehler. Jagen flüchtigen Ideen nach, die nicht mehr sind als Träume. Sie halten an Altem fest, dass für sie eigentlich längst seinen Reiz verloren hat. Aber sie haben sich daran gewöhnt, dass es da ist und deshalb wollen sie es nicht verlieren. Allerdings gibt es noch die andere Sorte von Menschen. Die, die Altes wegwerfen sobald es langweilig geworden ist. Sie begehen meistens die größten Fehler. Es gab einmal einen Mann, der hatte eine Frau, zwei kleine Kinder und einen Hund. Und dieser Mann verdiente sehr gut, hatte alles was er sich immer erträumt hatte. Eines Tages jedoch bemerkte er, dass jeder seiner Tage nach dem gleichen Schema verlief. Er frühstückte, arbeitete, kam nach Hause, ging mit dem Hund spazieren, aß zu Abend, schaute die Tagesschau und ging nach dem Spielfilm ins Bett. Das alles begann ihn zu langweilen. Also kündigte er in seiner Firma, verließ seine Frau, seine Kinder und seinen Hund und suchte nach neuen Reizen. Nur ab und zu flammte in ihm eine gewisse Reue und ein verzweifeltes Sehnen nach den längst vergangenen Tagen auf. Siehst du die Parallelen zwischen ihm und meiner Schachtel?“
Er gab dem Jungen ein wenig Zeit um zu überlegen. Schließlich schüttelte Leon den Kopf. Er war verwirrt, was wollte ihm der alte Mann sagen?

„Ist die Schachtel leer?“ fragte er unsicher.

Sein Gegenüber lächelte: „Das ist völlig unerheblich. Siehst du es nicht? Wenn du weißt, was in der Schachtel ist, verliert sie ihren Reiz. Wie bei einem Zaubertrick. Du bist verblüfft, möchtest unbedingt wissen wie er funktioniert, weil er dich so fasziniert und am Ende ist die Lösung enttäuschend einfach und du vergisst den Trick. Am schlimmsten jedoch ist, dass du den Zauber des Augenblicks verlierst. Wenn du dir diesen bewahrst, wird der Augenblick zu einer Ewigkeit und du trägst den Zauber in dir, wo immer du auch bist. Deshalb spielt es keine Rolle was in der Kiste ist und ob sie überhaupt etwas enthält. Nur so bleibt dir der Reiz. Der Mann in meiner Geschichte hat sich den Zauber des Augenblicks nicht bewahrt und er wurde nie wieder glücklich.“
Der Erzähler machte eine kurze Kunstpause, damit der Junge das eben gehörte verdauen konnte.

„...Vielleicht hat es diesen Mann nie gegeben und es war nur ein Gleichnis!“ fuhr der Alte schmunzelnd fort, „Vielleicht ist er auch einfach schon lange tot, oder... er sitzt den ganzen Tag in einer Fußgängerzone und denkt darüber nach, was in seinem Leben alles schiefgelaufen ist.“

Leon starrte gebannt in das traurig lächelnde Gesicht des Erzählers.

„Weißt du, Leon. Alles was uns besonders erscheint oder sogar auf geheimnisvolle Weise anziehend auf uns wirkt, verliert seinen Reiz, wenn wir es täglich sehen. Wenn etwas zur Routine wird, weicht das anfängliche Interesse und die Begeisterung dafür der Langeweile. Bewahre dir den Zauber des Augenblicks!“

Mit diesen Worten überreichte er Leon die zerbeulte Schuhschachtel und wandte sich zum gehen. Leon saß wie betäubt auf der Steinbank, sein Blick war an den Deckel der Kiste gefesselt. Er stammelte noch ein Danke, doch als er aufsah, war der alte Mann bereits im Strom der anderen Leute mitgeschwommen.

Auf der ganzen Bahnfahrt nach Hause musste Leon an den Mann und seine Philosophie denken. Die Schachtel versteckte er unter seinem Bett.
Bis heute hat er sie noch nicht geöffnet... ...

 

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