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Der große Sieg
Der große Sieg
Ihre Kindheit war sicherlich schwer. Eine Geißel aufgezwungener Normen und eingesperrt im eigenen Zimmer, während das Leben der westlichen Welt draußen pulsierte. Noas Eltern hatten zusammen mit Elifs Eltern ohne das Wissen der beiden jungen Leute einen Heiratspakt geschmiedet, ein Umstand, der Noa und Elif gleichermaßen erzürnte. Die Betroffenen wollten ihre frisch aufgekeimte Liebe nicht sofort allen preisgeben, sondern selbst entwickeln. Geheime Liebe ist doch eine schöne Liebe: Man spürt die gegenseitige Zuneigung und versinkt in illustren Gedankenspielereien, die der Partner wortlos auffängt.
Ein Zauber umgab den Tag, als sie sich kennenlernten, obwohl sie sich eigentlich schon gekannt hatten. Elif empfing sofort ihren einzigartigen Magnetismus und erlag ihrem Charme. Als er Noas harte Lebensumstände erahnte, verspürte er das zusätzliche Bedürfnis, sie bald in die weite Welt hinauszuführen, ihr das freie Leben außerhalb ihrer häuslichen Mauern zu zeigen. Die beiden hätten tatsächlich ideal zusammen gepaßt: äußerlich und charakterlich wie auch sozial, und es wäre eine unbeschreiblich schöne Romanze geworden, weil sie einander verstanden. Ihre Gemeinsamkeiten ließen sich nicht verbergen.
Doch Elif konnte nicht fertig werden mit einer Entscheidung, die die Eltern über seinen Kopf hinweg getroffen hatten. Er war zu stolz, seine Liebe zuzugeben. Ja, zu stolz. Dabei brannte sein Herz doch gerade für sie! Er versank in Arbeit, um zu vergessen: die Welt, den häuslichen Alltag und natürlich sie - seine Noa.
Nichtsdestotrotz versuchte er einen selbständigen Kontakt zu Noa zu erstreben. Sie reagierte jedoch nicht. Er wünschte sich von ihr ein winziges Zeichen ihrer Zuneigung, denn er wollte sicher sein, daß sie sich von alleine für ihn entschied, ohne elterliche Beeinflussung. Er wollte seine Macht wiedergewinnen, die er durch die Obrigkeit genommen glaubte. Wie schwer ist es doch für einen Mann, wenn seine Geliebte ihn nicht als eine eigenständig denkende Kraft bewundert! Den elterlichen Eingriff konnte er nicht auf sich ruhen lassen. Weil Noa ihm nicht antwortete, glaubte Elif, daß seine frisch gefundene Liebe auf kein Interesse stieß. Durch ihr Schweigen verursachte Noa eine noch größere Verbitterung als die Eltern, und er wandte sich ab. Vergessen konnte er sie dennoch nicht.
Die Tatsache, daß Noa sich für Elifs Abkehr "rächen" wollte, mochte anhand ihrer Umstände noch verzeihlich sein, aber nicht das Wie. Freilich, ihre Geduld wurde auf eine sehr harte Probe gestellt, und sie hätte ihrerseits so gerne bewiesen, welche Möglichkeiten in ihr steckten. Mit einem anderen Mann hätte sie Elif mit Sicherheit zur rasenden Eifersucht getrieben und womöglich einen neuen Versuch der Eroberung initiiert. Aber musste sie wirklich einen unwiederbringlichen Schaden anrichten?
Noa hatte in der Tat ihr Ziel aus dem Auge verloren. Sie wollte doch Elif zurückgewinnen, zu sich heranziehen. Sie wollte von ihm umworben werden, und er hätte sich bestimmt auf ihr Spiel eingelassen. Vielleicht hätte er ein komplementäres Spielchen versucht? Was bestimmte seine Grenzen?
Noa hatte sich selbst zerstört. Nicht ihre Eltern, nicht Elif, nicht der Fremde - sie ganz allein! Elif hätte die Elektrizität ihrer Sinne verdient, selbst wenn der andere ein Heroe aus den Weiten des Sonnensystems gewesen wäre. An Elif hätte sie sich binden sollen, da sie ihn bewunderte und liebte. Seit ihrer Jugend war er ihr funkelnder Stern, den es zu erstreben galt. Nie hatte sie einen Grund gehabt, etwas an ihm auszusetzen. Doch der Eindringling hatte ihre Haut entspannt und strickte nun neue Fäden um ihren Körper. Die einst edle Liebe zu Elif wurde in andere Kanäle umgeleitet. Das Abwasser floß die Dachrinne herab und kehrte nie wieder zur weißen Wolke zurück.
Noa setzte sich dann der Illusion aus, der Fremde wäre der einzig wahre Lebenskünstler. Er wäre das höchste Gut, das es nun zu bekommen galt. Elif wurde nur noch als unfähiger Bub beiseite geschoben, der ihr keine Erfüllung mehr geben könne. Und keine Führung in ihrem Leben. Eine halbe Stunde Dummheit zerstörte die komplette Lebenszukunft zweier Menschen, die sich einst so sehr geliebt hatten. Eine Liebe, deren Geheimnisse nur noch von der Phantasie genährt wurden.
Elif wußte davon. Oder zumindest hatte er es geahnt. Doch er machte Noa keine Vorwürfe. Und das, obwohl er so bitterlich verletzt war. Tränen flossen, und glücklich konnte niemand mehr werden. Am Boden zerstört, versuchte er immer noch in einem letzten Aufbäumen, Noa zu helfen, sie zu beruhigen. Er wußte von ihrem selbst-zermürbenden Zustand und reichte ihr trotz allen Widrigkeiten stets seine Hand, obwohl das Lächeln schwerfiel. Er verspürte Reue über sein Benehmen, seinen falschen Stolz und die seelische Qual, die er Noa unwillentlich zugefügt hatte. Auch wenn es zu spät war, tat er alles, um mit ihr ein klärendes Gespräch zu führen und das Problem sanft zu bereinigen, was immer es noch zu bereinigen gab. Ungeschehen konnte er es nicht machen, doch wenigstens ihre Last erleichtern. Die minimale Zukunftshoffnung, so klein wie ein Streichholz im strömenden Sommerregen, war, daß er den einzigen Makel im Laufe der Jahre verdauen und akzeptieren würde.
Doch da beging Noa ihren nächsten Fehler. Fehler um Fehler summierten sich zu einer unüberbrückbaren Mauer: Die Arroganz hatte sie übermannt, und sie verlor jegliches Gefühl für Zwischenmenschlichkeit. Die Schuld über das Geschehene einzugestehen, hielt sie für feige; Bedauern unterdrückte sie; Rückbesinnung verweigerte sie; den wirklich Betroffenen um Verzeihung zu bitten, betrachtete sie als entwürdigend, weinerlich und schwächlich. Sie hatte Angst vor Elifs Zorn. Sie hatte Angst vor der Blamage. Angst vor dem ewigen Ausgeliefertseins. Sie fauchte ihn an und beleidigte.
Die Tat hatte sie blind gemacht. Zu blind, um in Elifs gutes Herz zu schauen. Ihr entgingen seine Weitsicht, seine Menschenkenntnis. Seine wahre Natur konnte sie nicht mehr wahrnehmen. Ihre Augen sahen in dem einstigen Prinzen nur noch eine erbärmliche Gestalt, die Elif sicherlich nicht war. So verschwieg sie es weiterhin. Eine Lösung erschien nicht, ein Vergessen unmöglich. Sie begann zu lügen, zu vertuschen, zu hintergehen. Vordergründig zeigte sie keine Scham, aber im Unterbewußtsein gärte es: Noa wurde von grausamen Alpträumen zerfressen. Und sie kamen von überall her und weichten sie auf - zuerst den Geist, dann den Körper. So sehr sie sich dagegen sträubte, die Stimmen tanzten und lachten, und Noa blieb die Gefangene ihrer eigenen Dämonen. Anstatt das einzig Richtige zu tun, richtete die Verurteilte Unschuldige.
Noa konnte sich selbst nicht mehr ertragen - wie sollten es andere noch tun? Konnte irgendjemand ihr überhaupt noch vertrauen? Oder sich auf sie verlassen? Auf ihre Ehrlichkeit zählen? - Eine ihrer Strafen war, daß sie ihr Leben lang niemandem mehr Vertrauen entgegenbringen konnte. Sogar in fröhlicher Gesellschaft blieb sie stets eine einsame Frau.
"Die Stille und die Leere des Raumes sind nun unerträglich. Trotzdem: Ich will nichts daran ändern, alles soll so bleiben, nichts darf mehr wie vorher sein, nie mehr...", waren die Worte, die ihm noch entgegenhallten.