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Der Kuss

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30.05.2004
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Der Kuss

Der Kuss

(von Hesine 2004)


Ich war wütend - wie immer wenn wir Streit hatten.
Warum war er auch bloß so stur?

Irgendwie konnte er nie einsehen, wann er zu weit ging und ich war kaum in der Lage ihm zu erklären, wo die Grenze bei mir lag. Ich war mir manchmal selbst nicht sicher, ob ich nicht doch seine bevormundende Art wollte oder nicht, aber im Grunde haßte ich sie.

Und gleichzeitig war das sein Ausdruck von Besorgnis und Fürsorge. Wie die meisten Männer hatte er nie gelernt über seine Gefühle zu reden, ich hingegen hatte schon früh gelernt, meine wirklichen Wünsche und Gefühle zu verstecken. Nur mich zu fügen, das hatte ich nie gelernt.

Wenn ich bedachte, wie lang ich gebraucht hatte, um die meisten Schäden meiner Erziehung mit meiner Therapeutin aufzuarbeiten und wie kläglich ich doch jetzt wieder versagte, wurde ich nur noch wütender. Nicht auf ihn, sondern auf mich. Er war wieder einmal nur der Auslöser gewesen mit seinem Geschrei. Er fing irgendwann immer an zu schreien und wie immer beendete ich die "Diskussion" in dem ich das Zimmer verließ und irgendetwas anderes tat um mich abzureagieren.

Als Kind hatte ich nach einem Streit mit meinen Eltern geweint, als Jugendliche fing ich an, an mir herum zu schneiden. Mit Taschenmessern, Rasierklingen, Scheren. Einmal sogar mit einem Küchenmesser, das meine Mutter später in meinem Zimmer gefunden hatte. Mein Vater hatte geschrien und mir eine der wenigen Ohrfeigen, die ich je bekommen hatte versetzt, bevor er das Haus verließ und erst spät abends wiederkehrte. Meine Mutter hingegen war eisig gewesen und hatte mich gefragt, warum ich das tat. Warum ich mich selbst so verletzten mußte.

Was für eine Ironie, wenn ich bedenke, wie lebendig ich mich damals immer gefühlt hatte, wenn der Schmerz einsetzte. Und die Schnitte hatten mich immer noch für Tage daran erinnert, daß ich noch lebte und nicht nur der funktionierende Automat war, den alle so gern in mir sahen. Bis heute noch. Erst wenn die Wunden verheilten und nicht mehr gebrannt hatten, setzte dieses tote Gefühl wieder ein.

Zwanzig Jahre später waren die Schnitte von damals nur noch verblassende Narben auf meinen Armen und Beinen, die ich kaum noch wahrnahm. Und wenn, dann erinnerten sie mich daran wie wichtig es war, sich seiner Selbst immer bewußt zu sein. Und meistens schaffte ich das auch. Ich wußte was ich wollte und was nicht. Ich war in der Lage mich abzugrenzen ohne zu Eis zu erstarren im Inneren.

Und doch war ich unterkühlt. Nach mehreren gescheiterten Beziehungen hatte ich es einfach aufgegeben, mich auf weitere Experimente im zwischenmenschlichen Bereich einzulassen. Ich war das, was man den "geborenen Single" nennt. Unfähig, eine Beziehung zu führen.

Das heißt nicht, daß ich mich nicht verlieben konnte - ganz im Gegenteil. Ich war eine Meisterin im Leiden, ohne je darüber zu sprechen. Ich hatte andere Formen des Ausdrucks gefunden und verzichtete darauf, dem Objekt meiner Begierden etwas von meinen Gefühlen mitzuteilen. Das war meine neue Form der Selbstverstümmelung. Nicht mehr körperlich, sondern seelisch.

Aber diese Art und Weise schützte mich vor den Auseinandersetzungen, wie ich sie mit meinen Eltern und meinen Partnern viel zu oft für meinen Geschmack geführt hatte. Und dann kam ER.

Seelisch völlig labil, aufbrausend, kreativ, ein wahrer Künstler.
Und besitzergreifend.
Und ich war sein Besitz geworden. Als Freundin. Als Muse, wie er es nannte. Wie oft hatte er schon gesagt, daß er nicht arbeiten konnte, wenn ich nicht dabei war. Und ich hatte mich immer gefragt, warum er auf meine ständige Anwesenheit drang. Ich war so gut wie nie seiner Meinung, kritisierte ihn ständig und fand das meiste was er tat schlicht scheußlich.

Wir stritten uns für regelmäßig, ich rannte irgendwo anders hin und er reagierte sich ab, indem er seiner Kreativität freien Lauf ließ. Wutkunst. So funktionierte das nun schon einige Jahre und niemand, der uns nicht näher kannte, glaubte uns wenn wir sagten, daß wir kein Paar wären. Aber das waren wir einfach nicht.

Zuerst hatte ich mich immer darüber aufgeregt, was uns unterstellt wurde. Ob denn die Menschheit nur noch mit dem Unterleib denken könne, hatte ich oft gefragt. Warum es nicht möglich sein sollte, eine nicht - sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau zu führen? Wie niveaulos war denn eigentlich die Masse, wenn alles nur noch auf zwanzig Minuten Stöhnen und Schwitzen reduziert werden würde?
Irgendwann hatte ich das aufgegeben und schüttelte jetzt nur noch den Kopf, wenn ich gefragt wurde. Er hingegen ignorierte solche Äußerungen einfach und begann von etwas ganz anderen zu sprechen.

Und das ärgerte mich. Ja, wirklich, es ärgerte mich, daß er nicht wenigstens etwas Ärger oder Wut oder wenigstens Unverständnis angesichts solch lächerlicher Fragen zum Ausdruck bringen konnte. Er tat immer so, als hätte er die Frage nicht gehört und das Thema nicht existent wäre.
Aber er wurde auch immer erdrückender, fordernder und unsere Streitereien fanden nun schon fast täglich statt, ohne daß sie bei einem von uns noch zu einem kreativen Prozeß geführt hätten. Wir stritten uns wie ein altes Ehepaar - völlig gewöhnlich und absolut überflüssig. Wir hatten unsere Grenzen doch schon vor langem abgesteckt gehabt, warum fing er nun an, mich weiter einnehmen zu wollen?

An diesem Tag hatte ich wieder einmal das Gefühl, daß er mir ein weiteres Stück meiner Freiheit nehmen wollte. Und als ich genau das sagen wollte, blieben mir die Worte im Halse stecken. Und er begann, mich anzuschreien. Je weniger ich sagte, desto wütender und unverschämter wurde er.
Ich stand auf und er sagte, daß er mich nicht gehen lassen würde.
Doch ich ging und er hinderte mich nicht.

Ich mußte mich bewegen, meinen Körper spüren und meine Wut auf ihn und auf mich selbst irgendwie zügeln. Ich ging schwimmen, was ich gern tat und auch immer noch gern tue. Dabei kann ich am besten denken, wenn der Körper sich nur noch automatisch bewegt und man ihn doch spürt --wenn die Grenzen vom Wasser umflossen werden, mit Widerstand und doch nicht undurchdringlich.

Ich schwamm eine Bahn nach der anderen - kurz vorm Beckenrand tauchte ich unter und drehte mich um, um wieder zurück zu schwimmen, immer und immer wieder. In meinem Kopf dröhnten die Gedanken, aber meine Wut verflog nicht. Stattdessen gesellte sich Verzweiflung hinzu. Und die Erkenntnis, daß es weitergehen mußte. Der gespannte Friede, in dem ich nun schon seit Jahren lebte, war zum Scheitern verurteilt. Nein, er war bereits gescheitert.
Darum stritten wir uns nur noch.

Der Beckenrand kam näher und ich tauchte unter, drehte mich und als ich auftauchte war er direkt vor mir im Wasser. Das hatte er noch nie getan!
Noch nie war er mir hinterher gekommen, nie hatte er einen Streit weitergeführt. Wenn wir beide bereit waren, dann gingen wir wieder auf einander zu und der Disput blieb unerwähnt.

Ich erschrak und mein Herz pochte laut - vor Schreck und vor Anstrengung. Ich wußte nicht mehr, wie lang ich schon geschwommen war. Ich setzte meine Füße auf den Boden auf, oder versuchte es zumindest. Das Wasser war etwas zu tief und ich kam gerade mal mit den Zehen zum Boden, wo er bereits sicher vor mir stand. Er griff nach meinen Hüften, um mich über Wasser zu halten und ich ruderte langsamer mit den Armen.

Ich glaube, in diesem Moment hätte er mich umbringen können, mich unter Wasser drücken und ertränken. Wie ein Blitz schoß mir der Gedanke durch den Kopf, doch er tat es nicht. Er schaute mich nur ausdruckslos an. Keine Wut war zu spüren und ich beruhigte mich langsam.
Sein Blick war nicht ausdruckslos, er drückte nur etwas aus, was ich zuvor bei ihm noch nie gesehen hatte. Verzweiflung. Angst. Furcht vor dem Verlust. Und Schmerz. Dann sagte er, daß es weitergehen müsse und ich nickte.

Ich dachte, er würde mich nun endlich frei geben und ich verspürte wieder Angst. Was sollte ich denn ohne ihn tun? Er war so selbstverständlich ein Teil meines Lebens wie es Atmen war. Nein, er war meine Luft zum Atmen. Ich weiß nicht, was mich in diesem Augenblick mehr schmerzte: die Erkenntnis, was er mir eigentlich bedeutete oder der bevorstehende Verlust und das Nichts, das auf mich zu warten schien. Die Freiheit, dich ich immer geglaubt hatte, trotz allem zu besitzen und doch nicht haben wollte.
Und dann änderte sich alles.

Sanft suchten seine Lippen meine und wir küßten uns. Das erste Mal.
Manche Küsse brennen wie Feuer, manche schmecken nach Verzweiflung, andere nach wildem Verlangen, doch dieser war keinem irgendwie ähnlich dessen, was ich vorher je gespürt hatte.
Es war ein Kuß wie Seide. Sanft und stark, kühl und wärmend zugleich.
So natürlich und ungewöhnlich, so logisch und doch so irrational. Wirklich und fremd. Bizarr.
Er ließ mich nicht gehen und ich ging nicht und doch waren wir weiter gekommen als je zuvor.

Wir streiten immer noch. Manchmal schlimmer als früher und wir gehen immer noch unsere eigenen Wege, aber es hat sich so viel geändert.
Und wir küssen uns auch immer noch.
Nicht jeder Kuss ist wie der erste aus Seide, manchmal brennen sie, manchmal sind sie verlangend und fordernd, wie er es ist. Und immer sein wird.
Ich weiß nicht, was kommen wird. Oder ob es klug war, unsere Freundschaft einzutauschen gegen das, was nun ist. Die Grenzen sind neu gezogen - um uns herum.

ENDE

 

Hallo Hesine und herzlich willkommen auf kg.de! :)

Deine Geschichte finde ich sehr gut erzählt, überzeugend bringst Du die schlimmen Erfahrungen der Protagonistin vergleichend mit ihrem jetzigen Leben, ihrem Fühlen und Denken, zusammen.

Nur beim Schluß: Ich hatte eigentlich gehofft, daß sie zu der Erkenntnis kommt, daß sie stets nur wiederholt und so immer noch in ihrer Erziehung gefangen ist. Ich hätte ihr gewünscht, sich von beidem trennen zu können. So gesehen fand ich den Schluß eher traurig, aber in den meisten Fällen ist es ja auch so, daß man lernt, mit seinen Kränkungen zu leben, und so finde ich die Geschichte absolut realistisch erzählt, auch wenn mir ein Schluß, der die Protagonistin aus ihrem Gefängnis hinausführt, besser gefallen hätte, aber das ist halt Geschmacksache. ;)

Nur ein paar Kleinigkeiten sind mir aufgefallen:

"Wir stritten uns für regelmäßig"
- das "für" ist da irgendwie zuviel

"Warum es nicht möglich sein sollte, eine nicht - sexuelle Beziehung"
- ohne Abstand: nicht-sexuelle

"und begann von etwas ganz anderen zu sprechen."
- begann, von etwas ganz Anderem zu sprechen

"Er tat immer so, als hätte er die Frage nicht gehört und das Thema nicht existent wäre."
- der hintere Teil paßt so nicht, Vorschlag: Er tat immer so, als hätte er die Frage nicht gehört und das Thema wäre nicht existent oder als hätte er die Frage nicht gehört, als wäre das Thema nicht existent

Hat mir jedenfalls gut gefallen. :)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hi Hesine!
Hab deine Geschichte auch gerne gelesen, wobei ich ähnliche Gedanken wie Häferl hatte.
Ich hab mir auch gedacht, wenn eine Liebesbeziehung mit so viel Streiterei anfängt kann das irgendwie nicht gutgehen, deswegen war es für mich auch kein wirkliches Happy End.
Trotzdem schöne Geschichte
LG Eo

 

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