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Der lebende Tod - oder erwachte Hoffnung?

Beitritt
09.07.2004
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Der lebende Tod - oder erwachte Hoffnung?

Wer in Berlin regelmäßig U-Bahn fährt, kennt ihn - und die erste Konfrontation schockiert: eine skelettartige Erscheinung, ausgemergelt, zerbrechlich, schwach - sich auf Krücken fortbewegend, in lumpige Kleider gehüllt.
Seine Gestalt, sein Aussehen erinnert an ausgehungerte KZ-Häftlinge, wie die meisten sie nur von Fotos her kennen. Und man denkt: Das darf doch nicht wahr sein - wie kann es sein, dass in unserem Land ein Mensch so leben muss - so dahin vegetiert? Ein Schauder läuft dir über den Rücken, als er krächzend spricht: „Kriegen Sie keinen Schreck - ich bitte nur um eine kleine Spende, für meinen Lebensmut.“ Die Stimme verleitet einen irrtümlich zu der Annahme, es muss eine Frau sein. Das Alter allerdings ist unbestimmbar.
Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier - und wenn auch die nächsten Begegnungen noch tiefe Erschütterung auslösen, man gewöhnt sich allmählich an seinen erbärmlichen Anblick, verdrängt das aufkommende Mitleid, betrachtet ihn immer mehr nur noch als dazugehöriges U-Bahn-Inventar, wie andere Bettler und Motzverkäufer auch. Wie leicht stumpft der Mensch ab.
Schon seit Jahren spukt dieser „Schatten von Mensch“, dieses Leichtgewicht durch die U-Bahn-Tunnel - und wenn man ihn nach längerer Zeit wiedersieht, fragt man sich lediglich: „Was denn, der lebt noch?“ Und das schlechte Gewissen, ihm bisher nichts gegeben und ihn im Alltag vergessen zu haben, meldet sich.
Eines Tages hat sich etwas verändert. Der Mann sammelt nicht nur Geld und Lebensmittel, diesmal bietet er etwas an: einen selbstgeschriebenen Text. Obwohl es dich brennend interessiert, was ein Geschöpf wie er wohl schreiben könnte, was er zu sagen hat, hast du Hemmungen, es zuzugeben. Was sollen denn die anderen Fahrgäste denken! Deine Neugier aber bleibt. Beim nächsten Mal dann überwindest du dich, schaust ihm in die Augen, nimmst das Blatt entgegen und zahlst den lächerlichen Preis von ein paar Cent. Du liest seinen Text, der mit den Worten endet: „In meiner Kleingeldtasche ist kein Platz für große Träume. Trotzdem habe ich vielleicht welche, wer weiß. (...) Bis zum nächsten Mal bleiben Sie mir nicht zu leicht gewogen sonst haben Sie es schwer!"
Du bist gerührt, spürst eine innere Wandlung: Ausgerechnet diese Person kann dir etwas geben, seine Gedanken bereichern dein Leben. Und plötzlich freust du dich darauf, ihn wiederzusehen, hoffentlich bald, kannst es kaum erwarten, die Fortsetzung zu lesen... und für dich ist er nicht mehr der lebende Tod - denn du weißt: er trägt ein unendliches Maß an Hoffnung, Humor und Lebenswillen in sich, mehr, als du dir jemals erträumen kannst.

 

Hallo,

ich bin ein wenig ratlos muss ich sagen. Ich habe selbst eine zeitlang in Berlin gewohnt und kenne wohl den oben beschriebene Menschen, wie wohl viele die U-Bahn in dieser Stadt fahren.
aber was macht mich nun ratlos? Du machst die Geschichte an einen Satz fest, aber plausibel wird sie dadurch nicht. Der Satz ist gut gewählt keine Frage, jedoch die Wandlung ist zu abrupt, als ob du mit Biegen und Brechen zeigen möchtest das auch in einen solchen Menschen ein guter Kern stecken muss und was er dir doch bieten kann, wenn man es selbst nur zuläßt. Ich möchte dir nicht zu nahe treten aber es wirkte auf mich ein wenig abgedroschen und zu sehr heile Weltphantasie.

MfG, Erich

 

Hallo, Erich!
Hab vielen Dank für deinen BEitrag - wenn er auch von deiner "Ratlosigkeit" geprägt ist.
Die Geschichte ist eigentlich auch keine wirkliche Geschichte - eher eine Momentaufnahme, ein Eindruck, ein Gefühl - ein Stück erlebtes Leben. Das ist nicht unbedingt plausibel. Eigentlich ging es mir dabei überhaupt nicht darum, zu zeigen, dass in solch einem Menschen ein guter Kern steckt. Das wärte wirklich etwas "platt".
Mir geht es viel mehr um die Wandlung im Betrachter (Erzähler), der plötzlich dazu in der Lage ist, sich für unerwartete Emotionen (Betroffenheit und PEinlichkeit) zu öffnen.
Gruß von Sigrid

 

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