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Der letzte Wunsch

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06.09.2004
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Der letzte Wunsch

Schuldig? Ich war mir keiner Schuld bewusst. Gewissen? Hatte ich, aber kein schlechtes. Angst? Nicht vor der eigentlichen Tat, aber vor dem was danach mit mir passieren könnte wahrscheinlich schon. Recht oder Unrecht? Ich war mir damals wie heute relativ sicher, dass ich keinen Fehler gemacht hatte.

Damals - es war Herbst und es war draußen noch dunkel. Seichter Morgennebel hatte sich über die Straßen und die Wiesen gelegt und aus dem offenen Fenster strömte kalte Luft in mein kleines Zimmer hinein. Ich stand auf, trat an das Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Innerlich ging ich noch einmal jede Kleinigkeit durch, die für die Tat relevant war. Das Wichtigste war wohl nicht erkannt zu werden und mein Blick fiel auf den Schwesternkittel, den ich mir für den heutigen Tag gekauft hatte. Die Haare waren streng nach hinten gekämmt und aus dem Supermarkt hatte ich mir eine billige Brille zugelegt. Eigentlich konnte ja dann nichts schief gehen. Eigentlich.

Nachdenklich zog ich an der Zigarette und blies langsam den Rauch wieder aus. Eine kleine weiße Wolke bildete sich und vermischte sich mit der kalten, frischen Luft.
Die Turmuhr schlug Fünf, ich drückte die Zigarette aus und schloss das Fenster. Gewandt zog ich mich um, nahm den kleinen weißen Rucksack, den ich mir vorbereitet hatte und zog die Tür zu. Die wenigen Meter, die mich vom Seniorenzentrum trennten ging ich zu Fuß und blieb schließlich an der Straßenecke kurz vor dem Gebäude stehen. Ich war einige Minuten zu früh. Der Wagen mit der Fahrgemeinschaft der vier Pflegerinnen war weder zu hören, noch zu sehen und ich fragte mich, ob ich mir nicht noch eine Zigarette anzünden sollte. Eigentlich eher aus Langweile, nicht weil ich in irgendeiner Weise aufgeregt war. Ich ließ es schließlich doch bleiben und wartete. Es dauerte nicht lange, bis das Auto kam und die vier Pflegerinnen ausstiegen. Ohne von den Frauen bewusst bemerkt zu werden, stieß ich zu der kleinen Gruppe hinzu und ging mit ihnen in das Seniorenzentrum hinein, vorbei an der Anmeldung und einigen anderen Pflegern. Während die Vier in den Fahrstuhl stiegen, kapselte ich mich unauffällig ab und nahm die Treppe in den dritten Stock hoch. Das Stockwerk lag noch relativ im dunkeln und ich schlich den Flur entlang und öffnete die Tür zu dem Zimmer indem sie lag. Das matte Licht fiel auf den Boden und ich sah gerade noch meinen Schatten, bevor ich die Tür leise wieder zumachte.
Sie lag im Bett und hörte mich nicht. Ich schob die Gardinen vorsichtig zur Seite und das wenige Licht der Straßenbeleuchtung fiel auf ihr abgemagertes Gesicht. Sie konnte weder alleine essen, noch duschen, noch auf die Toilette gehen. Sie registrierte mich seit Jahren nicht mehr, sie wusste ja nicht einmal mehr meinen Namen. Ein Paket Windeln lag auf dem kleinen Beistelltisch, das Buch, aus dem ihr manchmal vorgelesen wurde, lag noch daneben aufgeschlagen. Irgendeine Pflegerin war achtlos gewesen und hatte es wiedereinmal nicht für nötig gehalten es zuzumachen. Ich ließ es so und mein Blick fiel wieder auf die achtundsechzig jährige Frau, die nicht einmal mehr wusste, dass ich ihre Tochter war, die sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnern konnte, die weder sprechen, noch schreiben konnte und alles was sie noch tat, war mit leeren Blicken im Zimmer herumzustarren und undeutliche Geräusche von sich zu geben. Die Krankheit hatte sie zerfressen und mehr ging nicht mehr. Es gab keine Hoffnung, kein zurück in das Leben und schon gar kein Medikament dagegen.
Zärtlich strich ich ihr über das Gesicht, beugte mich zu ihr hinunter und küsste ihre Wange. Ein Abschiedskuss. Ohne noch einmal darüber nachzudenken schnallte ich mir den Rucksack vom Rücken, zog die Spritze mit Morphium heraus und tat was getan werden musste, ohne Wehmütigkeit, ohne schlechtes Gewissen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich erlöste sie von ihrem dahinsiechenden Leben. Wenn man das überhaupt noch Leben nennen konnte. Es tat weder ihr noch mir weh, doch warten bis der Tod eintrat wollte ich nicht. Meine Hände berührten ein letztes Mal ihre Wangen und in dem Moment erschrak ich vor mir selbst wie kalt ich letztendlich an das ganze Vorhaben herangegangen war.
Meine Gedanken wanderten einige Jahre zurück, an den Anfang dieser Krankheit. Ein Wort vergessen, ein Satz vergessen, die Herdplatte war noch an. Wie hieß noch einmal das Tier, auf dem sie mit dem Finger gezeigt hatte und ihr in dem Moment bewusst wurde, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Die Diagnose, die Gewissheit, nächtelanges durchheulen. Verzweifelte Schreie in der Nacht. Sie bei sich zu Hause und ich bei mir. Wie lange konnte man so einer Situation gewachsen sein? Wie viele Jahre mit dieser Krankheit überstehen, bis man so abgebrüht wurde, wie ich es geworden war. Nicht einmal eine Träne lief mir über mein Gesicht, als ich ihr die Spritze angesetzt hatte und vorsichtig das Morphium injizierte.
Ich drehte mich um und verließ das Zimmer.

Ich gab den Pflegerinnen zwei Stunden Zeit bis sie bemerkten, dass sie tot war und mir zwei Jahre bis ich damit an die Öffentlichkeit gehen wollte. Anonym. Allerdings war ich auf alles vorbereitet, falls doch etwas schief laufen sollte.

Es lief nichts schief. Der Totenschein wurde ausgefüllt und sie wurde im kleinsten Kreis beerdigt. Noch bis heute habe ich das Gefühl richtig gehandelt zu haben.
Alzheimer im Endstadium und die Leute siechen dahin, ohne sich dessen bewusst zu sein, was die Krankheit aus ihnen gemacht hat. Jede dahinsterbende Katze, jeder sich quälende Hund wird von seinem Leiden erlöst und eingeschläfert. Warum sie nicht? Sie wollte es so. Tage und Nächte haben wir damals darüber gesprochen, immer um das Wort Sterbehilfe herumgeredet, doch heute schaffe ich endlich darüber zu schreiben.
Nur den Zeitpunkt des Todes sollte ich bestimmen, denn sie wusste damals nicht, ob sie später in der Lage sein würde ihn selbst zu bestimmen.
Ihren Wunsch habe ich lange hinausgezögert, denn das Letzte was sie wollte, war auf diese Art und Weise zu leben oder dahinzusiechen, je nachdem wie man die Sache betrachtete. Ich habe damals lange mit der Spritze gewartet und es oft hinausgeschoben, denn ich konnte und wollte sie nicht loslassen. Letztendlich konnte ich ihren letzten Wunsch erfüllen, wenngleich sie gewollt hätte, dass er früher passiert wäre.

 

Hallo Cassiopeia,

erstmal herzlich Willkommen hier :)
Einige Aspekte deiner Geschichte haben mir gut gefallen, andere weniger. Interessant fand ich den Inhalt deiner Geschichte, auch wenn ich in letzter Zeit mehrere Geschichten mit diesem Thema hier gelesen habe. Zu Beginn war sie richtig spannend, bevor man wusste, was sie im Wohnheim eigentlich will. Dann war allerdings ziemlich schnell klar, dass es um Sterbehilfe geht. Irritiert hat mich, wie kühl deine Prot an die Situation rangegangen ist, es ging ja immerhin um ihre Mutter. Aber diesen Widerspruch hast du ja selber in deiner Geschichte thematisiert.

Was die sprachliche Umsetzung angeht, hab ich einige Vorschläge. Hast du dir zum Beispiel mal überlegt, die Geschichte in der Gegenwart zu schreiben? Dann wäre klarer, dass die Distanz so in der Situation schon da war und nicht mit der Zeit gekommen ist. Außerdem wäre es dann nicht so schwierig, die Vergangenheit mit der Mutter zu schildern. Dann ist mir aufgefallen, dass du an einigen Stellen Füllwörter benutzt, um Sachen zu relativieren, da würde ich dir vorschlagen die einfach zu streichen. Ein paar andere Kleinigkeiten hab ich dir mal aufgelistet, vielleicht magst du das eine oder andere ändern:

Nicht vor der eigentlichen Tat, aber was danach mit mir passieren könnte wahrscheinlich schon.
zwischen dem "aber" und dem "was" fehlt ein "vor dem"
Seichter morgen Nebel hatte sich über die Straßen und die Wiesen gelegt und aus dem offenen Fenster strömte kalte Luft in mein kleines Zimmer hinein.
Morgennebel
Die Turmuhr schlug Fünf und ich drückte die Zigarette aus und schloss das Fenster.
Vorschlag: ersetze das erste "und" durch ein Komma
Die wenigen Meter, die mich vom Altersheim trennten ging ich zu Fuß und blieb schließlich an der Straßenecke kurz vor dem Gebäude stehen.
Ohne zu wissen, wann die Geschichte spielt - der Begriff "Altersheim" wird heute eigentlich nicht mehr verwendet, eher "Seniorenwohnheim" oder eventuell noch "Pflegeheim".
Das Stockwerk lag noch relativ im dunkeln und ich schlich den Flur entlang und öffnete die Tür zu dem Zimmer indem sie lag.
"Dunkeln", "in dem", überleg mal ob du das "relativ" nicht streichen willst
Das matte Licht fiel auf dem Boden
auf den Boden
Ich schob die Gardienen vorsichtig zur Seite
Gardinen
Meine Hände berührten ein letztes Mal ihre Wangen und in dem Moment erschrak ich vor mir selbst wie kalt ich letztendlich an das ganze Vorhaben herangegangen war.
ich würde das "letztendlich" streichen
Meine Gedanken wanderten an die letzten Jahre zurück
"in die letzten Jahre" oder "einige Jahre"
Die Diagnose, die Gewissheit, Nächtelanges durchheulen.
nächtelanges

Liebe Grüße
Juschi

 

hallo

ich muss sagen, ich finde deine geschichte nicht besonders spannnend. das liegt wahrscheinlich in erster linie daran dass du zu viel erörterndes in deinem text hast. eine literarischere erzählweise hätte mir besser gefallen.

das ist natürlich eine recht beliebige aussage von mir und auch als geschmacksfrage ab zu tun.

dennoch finde ich dass du es nicht schafft die dramatik die einerseits die krankheit betrifft und andererseits die jenige der ausführung der euthanasie in deiner geschichte entsprechend wieder zu geben.

das thema ist also wirklich eines aus dem du sicher eine bessere erzählung herausholen kannst.

bin irgendwie nicht sicher ob dir meine kritik hilft.

 

Hallo Juschi,

habe den Text nocheinmal überarbeitet und einige Stellen geändert, die Du vorgeschlagen hast. Danke. Dadurch liest sich die Geschichte jetzt eher fliesend.
Vielleicht hast Du recht, dass meine Prot zu kühl an die ganze Sache herangeht, doch ich hatte immer wieder vor dem Auge, dass man nach jahrelanger "Erfahrung" mit so einer Situation irgendwann nicht mehr kann und den Bezug zu seinen Gefühlen verliert.
Hmm, habe noch nie versucht in der Gegenwart zu schreiben, denn ich habe schon meine Probleme ein Buch in der Gegenwart zu lesen. Aber vielleicht ist das ein Versuch, den ich in Angriff nehmen sollte. :)

Liebe Grüße

Cassiopeia

Hallo Harkhov Syndrom,

ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht so genau, wie ich Deine Kritik zu verstehen habe.
Vielleicht hätte ich meiner Prot mehr Tiefe, mehr Gefühle und dadurch mehr Dramaturgie versetzten sollen. Doch eigentlich wollte ich genau das vermeiden.
"Antwort eigentlich siehe oben." Ich denke, dass nach jahrelanger Erfahrung mit so einer Situation die Dramatik dieser Krankheit irgendwann in einem abstirbt, denn man hat sich damit schon abgefunden.

 

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