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Der letzte Wunsch
Schuldig? Ich war mir keiner Schuld bewusst. Gewissen? Hatte ich, aber kein schlechtes. Angst? Nicht vor der eigentlichen Tat, aber vor dem was danach mit mir passieren könnte wahrscheinlich schon. Recht oder Unrecht? Ich war mir damals wie heute relativ sicher, dass ich keinen Fehler gemacht hatte.
Damals - es war Herbst und es war draußen noch dunkel. Seichter Morgennebel hatte sich über die Straßen und die Wiesen gelegt und aus dem offenen Fenster strömte kalte Luft in mein kleines Zimmer hinein. Ich stand auf, trat an das Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Innerlich ging ich noch einmal jede Kleinigkeit durch, die für die Tat relevant war. Das Wichtigste war wohl nicht erkannt zu werden und mein Blick fiel auf den Schwesternkittel, den ich mir für den heutigen Tag gekauft hatte. Die Haare waren streng nach hinten gekämmt und aus dem Supermarkt hatte ich mir eine billige Brille zugelegt. Eigentlich konnte ja dann nichts schief gehen. Eigentlich.
Nachdenklich zog ich an der Zigarette und blies langsam den Rauch wieder aus. Eine kleine weiße Wolke bildete sich und vermischte sich mit der kalten, frischen Luft.
Die Turmuhr schlug Fünf, ich drückte die Zigarette aus und schloss das Fenster. Gewandt zog ich mich um, nahm den kleinen weißen Rucksack, den ich mir vorbereitet hatte und zog die Tür zu. Die wenigen Meter, die mich vom Seniorenzentrum trennten ging ich zu Fuß und blieb schließlich an der Straßenecke kurz vor dem Gebäude stehen. Ich war einige Minuten zu früh. Der Wagen mit der Fahrgemeinschaft der vier Pflegerinnen war weder zu hören, noch zu sehen und ich fragte mich, ob ich mir nicht noch eine Zigarette anzünden sollte. Eigentlich eher aus Langweile, nicht weil ich in irgendeiner Weise aufgeregt war. Ich ließ es schließlich doch bleiben und wartete. Es dauerte nicht lange, bis das Auto kam und die vier Pflegerinnen ausstiegen. Ohne von den Frauen bewusst bemerkt zu werden, stieß ich zu der kleinen Gruppe hinzu und ging mit ihnen in das Seniorenzentrum hinein, vorbei an der Anmeldung und einigen anderen Pflegern. Während die Vier in den Fahrstuhl stiegen, kapselte ich mich unauffällig ab und nahm die Treppe in den dritten Stock hoch. Das Stockwerk lag noch relativ im dunkeln und ich schlich den Flur entlang und öffnete die Tür zu dem Zimmer indem sie lag. Das matte Licht fiel auf den Boden und ich sah gerade noch meinen Schatten, bevor ich die Tür leise wieder zumachte.
Sie lag im Bett und hörte mich nicht. Ich schob die Gardinen vorsichtig zur Seite und das wenige Licht der Straßenbeleuchtung fiel auf ihr abgemagertes Gesicht. Sie konnte weder alleine essen, noch duschen, noch auf die Toilette gehen. Sie registrierte mich seit Jahren nicht mehr, sie wusste ja nicht einmal mehr meinen Namen. Ein Paket Windeln lag auf dem kleinen Beistelltisch, das Buch, aus dem ihr manchmal vorgelesen wurde, lag noch daneben aufgeschlagen. Irgendeine Pflegerin war achtlos gewesen und hatte es wiedereinmal nicht für nötig gehalten es zuzumachen. Ich ließ es so und mein Blick fiel wieder auf die achtundsechzig jährige Frau, die nicht einmal mehr wusste, dass ich ihre Tochter war, die sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnern konnte, die weder sprechen, noch schreiben konnte und alles was sie noch tat, war mit leeren Blicken im Zimmer herumzustarren und undeutliche Geräusche von sich zu geben. Die Krankheit hatte sie zerfressen und mehr ging nicht mehr. Es gab keine Hoffnung, kein zurück in das Leben und schon gar kein Medikament dagegen.
Zärtlich strich ich ihr über das Gesicht, beugte mich zu ihr hinunter und küsste ihre Wange. Ein Abschiedskuss. Ohne noch einmal darüber nachzudenken schnallte ich mir den Rucksack vom Rücken, zog die Spritze mit Morphium heraus und tat was getan werden musste, ohne Wehmütigkeit, ohne schlechtes Gewissen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich erlöste sie von ihrem dahinsiechenden Leben. Wenn man das überhaupt noch Leben nennen konnte. Es tat weder ihr noch mir weh, doch warten bis der Tod eintrat wollte ich nicht. Meine Hände berührten ein letztes Mal ihre Wangen und in dem Moment erschrak ich vor mir selbst wie kalt ich letztendlich an das ganze Vorhaben herangegangen war.
Meine Gedanken wanderten einige Jahre zurück, an den Anfang dieser Krankheit. Ein Wort vergessen, ein Satz vergessen, die Herdplatte war noch an. Wie hieß noch einmal das Tier, auf dem sie mit dem Finger gezeigt hatte und ihr in dem Moment bewusst wurde, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Die Diagnose, die Gewissheit, nächtelanges durchheulen. Verzweifelte Schreie in der Nacht. Sie bei sich zu Hause und ich bei mir. Wie lange konnte man so einer Situation gewachsen sein? Wie viele Jahre mit dieser Krankheit überstehen, bis man so abgebrüht wurde, wie ich es geworden war. Nicht einmal eine Träne lief mir über mein Gesicht, als ich ihr die Spritze angesetzt hatte und vorsichtig das Morphium injizierte.
Ich drehte mich um und verließ das Zimmer.
Ich gab den Pflegerinnen zwei Stunden Zeit bis sie bemerkten, dass sie tot war und mir zwei Jahre bis ich damit an die Öffentlichkeit gehen wollte. Anonym. Allerdings war ich auf alles vorbereitet, falls doch etwas schief laufen sollte.
Es lief nichts schief. Der Totenschein wurde ausgefüllt und sie wurde im kleinsten Kreis beerdigt. Noch bis heute habe ich das Gefühl richtig gehandelt zu haben.
Alzheimer im Endstadium und die Leute siechen dahin, ohne sich dessen bewusst zu sein, was die Krankheit aus ihnen gemacht hat. Jede dahinsterbende Katze, jeder sich quälende Hund wird von seinem Leiden erlöst und eingeschläfert. Warum sie nicht? Sie wollte es so. Tage und Nächte haben wir damals darüber gesprochen, immer um das Wort Sterbehilfe herumgeredet, doch heute schaffe ich endlich darüber zu schreiben.
Nur den Zeitpunkt des Todes sollte ich bestimmen, denn sie wusste damals nicht, ob sie später in der Lage sein würde ihn selbst zu bestimmen.
Ihren Wunsch habe ich lange hinausgezögert, denn das Letzte was sie wollte, war auf diese Art und Weise zu leben oder dahinzusiechen, je nachdem wie man die Sache betrachtete. Ich habe damals lange mit der Spritze gewartet und es oft hinausgeschoben, denn ich konnte und wollte sie nicht loslassen. Letztendlich konnte ich ihren letzten Wunsch erfüllen, wenngleich sie gewollt hätte, dass er früher passiert wäre.