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Der letzte Zug
Der letzte Zug
Stimmt schon, das Telefon kann nichts dafür. Trotzdem hat es meine erste Wut abbekommen und nun baumelt der Hörer beleidigt an seinem Kabel hin und her, als würde er abwägen, wer denn nun tatsächlich schuld hatte, an dem, was dieses Wochenende geschehen ist.
Am Samstag brachte mich mein Freund zum Bahnhof. Wie immer hatten wir die Zeit zwischen Arbeitsende und der Abfahrt des letzten Zuges genutzt um einander zu treffen. Länger durfte ich nicht ausbleiben. Mein Vater ist sehr streng und versuchte ständig, mich wie seinen Augapfel zu behüten. Jakobs Eltern scheinen das viel lockerer zu sehen, denn sie hatten mich am kommenden Sonntag zum Mittagessen eingeladen – sozusagen zum Beschnuppern. Dementsprechend aufgeregt war ich an diesem Abend. Zuerst einmal war es notwendig meinen Eltern die Erlaubnis abzuringen, am Sonntag dem Mittagstisch fernzubleiben. Außerdem war es das erste mal, daß ich den Eltern eines Freundes vorgestellt werden sollte. Jakob war allerdings überzeugt davon, daß ich seinen Vater bereits kenne, wenigstens vom Sehen. Na ja, ich kann nicht in allen erwachsenen Männern, die mir über den Weg laufen, den Erzeuger meines Freundes sehen. Viele von ihnen sehen in einem jungen Mädchen ohnehin nur „Frischfleisch“. Deswegen geht es mir echt auf die Nerven, wenn mich womöglich einer von ihnen anmacht. Abgesehen davon spielt die Meinung der Mut-ter eine viel größere Rolle – also ich war wirklich nervös wegen dieser Einladung.
Die Lichter des kleinen Bummelzuges teilten die Dämmerung. Ein letzter Kuss noch im Schatten des Stationsgebäudes und ich hastete über den Bahnsteig zum Zug. Ich hasse es, so spät am Abend zu fahren, meistens bin ich der einzige Passagier – aber gestern abend war ich nicht zum Glück nicht allein. Gabriele saß bereits im Abteil und ich freute mich. Endlich konnte sie mir nicht entwischen. Eines muss man näm-lich wissen: Die blonde Gabi ist nicht nur der Traum aller männlicher Wesen im Umkreis von zwanzig Kilometern, sie ist auch das Vorbild aller Mädchen. Jede will so sein wie sie – so hübsch, so erfahren und cool im Umgang mit begierigen Männern. Und wenn man schon nicht so sein kann, weil man klein rund und mausgrau ist, dann wollte man Gabriele wenigstens zur Freundin haben um sich ein wenig in ihrem Glanz zu sonnen. Dummerweise ist es nicht leicht an sie heranzukommen, ihre Bu-senfreundinnen schirmen sie eifersüchtig ab. Aber gestern war sie alleine und endlich konnte ich ihr beweisen, daß ich ihrer Freundschaft wert bin. Leider bin ich klein, rund und mausgrau – aber cool, cool kann ich auch sein. Kurz entschlossen setzte ich mich zu ihr und murmelte ein gelangweiltes „Hallo“. Gabriele hob kurz die Brauen, blitze mich aus ihren dunklen Augen an und fragte nur. „Hast du eine Zigarette für mich?“ Ich bin offensichtlich nicht cool genug – ich rauche nicht! Nicht, daß ich es nie versucht hätte, aber ich habe es nie geschafft zu inhalieren, ohne einen grässliche Hustenkrampf zu bekommen, was in meinem Freundeskreis jedes Mal Grund für kreischende Heiterkeit war. Da lasse ich es lieber bleiben und der Verzicht fiel mir gar nicht schwer. Nur in diesem Moment, da hätte ich doch gerne eine Ziga-rette bei mir gehabt, nur um Gabriele zu imponieren. „ Ach du traust dich nicht rauchen!“ grinste Gabriele und wandte dann den Blick blasiert ab. Meine Betroffenheit dauerte aber nur einige wenige Sekunden, denn quer durch den fast leeren Waggon nahte in einer blauen Uniform die Rettung. Dieser Schaffner war schon oft im selben Zug unterwegs wie ich und dabei war mir aufgefallen, dass er rauchte. Sicher hatte er auch heute Zigaretten bei sich. Jetzt galt es, Gabriele davon zu überzeugen, wie lässig ich das Problem lösen würde. Ganz gegen meine Art quatschte ich den Mann an und schnorrte eine Zigarette. Sein anzügliches Grinsen gefiel mir nicht. Die Art wie er in der Hosentasche umständlich nach dem Päckchen kramte auch nicht und schließlich konnte er es sich nicht verkneifen meine Hand festzuhalten, als ich die verdrückte Zigarette aus seinen rauchgelben Fingern entgegennahm. Innerlich schüttelte ich mich ein wenig, aber egal – ich hatte eine Zigarette für Gabriele und sicher würde sie meinen Mut anerkennen. Schön wäre es gewesen, aber sie winkte nur ab: „ Diese Sorte rauche ich nicht – auch nicht, wenn es meine letzte Zigarette sein sollte.“ Sagte es, schlüpfte in ihren Mantel, verließ in der gerade erreichten Station den Zug und ließ mich einigermaßen verdattert zurück.
Verdattert und alleine – denn mittlerweile war ich wieder einmal der einzige Fahrgast. Ich und der Schaffner! Und kaum setzte sich die Lokomotive ruckelnd in Bewegung kam er auch schon breitbeinig auf mich zu, ließ sich auf dem gegenüberliegenden Sitz nieder und feixte mich auf eine recht widerliche Art an. „Na, schon erwachsen genug um zu rauchen? Da bist du dann ja auch schon alt genug um ein wenig Spaß zu haben." Seine eindeutige Handbewegung ließ absolut keinen Zweifel zu, welche Art von Spaß ihm dabei vorschwebte. Und genauso wenig Bedenken hatte er, mir ganz deutlich zu demonstrieren, daß er es war, der mir diese Freuden zukommen lassen wollte. Schon lag seine Hand auf meinem Oberschenkel – im selben Augenblick traf meine Hand mit heftigem Schwung seine Wange. Ich schwöre, es war ein Reflex – ich habe keine Sekunde darüber nachgedacht, was dann passieren könnte. In diesem Moment spielte es keine Rolle, daß wir uns alleine im Zug befanden und ich diesem Mann hilflos ausgeliefert war. Ich klebte ihm eine – basta! Seine Reaktion konnte ich nur als Drohung werten. Er stand auf, knurrte: „Bist eben doch noch zu jung. Aber du fährst ja noch öfter mit diesem Zug.“ Fassungslos und mit Tränen kämpfend, sah ich diesem Ekel nach. Immerhin bin ich auf diesen Zug angewiesen. Höchste Zeit, daß mein Freund jetzt endlich die Führerscheinprüfung schafft, damit er mich heimbringen kann. Auf jeden Fall nahm ich mir vor, Jakob diesen Vorfall besonders dramatisch zu schildern um ihm damit Feuer unter dem Hintern zu machen, denn mit dem Lernen hat er es nicht so besonders.
Und dann – heute mittag. Irgendwie hatte ich es geschafft Mama für mein Anliegen zu gewinnen und gemeinsam haben wir meinen Vater die Erlaubnis abgerungen, am Sonntag in die Stadt zufahren. Ich habe stundenlang vor dem Spiegel verbracht, Kleider an- und ausgezogen, mein widerspenstiges Haar in alle Himmelrichtungen gekämmt. Ich wollte ganz einfach so aussehen, wie das Mädchen, dass sich jede Mutter als Schwiegertochter wünscht. Ich denke, mit dem braven, blauen Faltenrock und der weißen Bluse ist mir das auch ganz gut gelungen. Jakob erwartete mich schon am Bahnhof. Er schien nur halb so aufgeregt zu sein wie ich und wieder bestand er darauf, dass ich doch seinen Vater sicher kenne. Gestern abend, im Zug! Ehrlich, ich war so erschrocken, ich hörte gar nicht mehr hin, was Jakob sonst noch sagte. Sein Vater – gestern abend – im Zug! Hoffentlich hatte der nicht gesehen, wie ich den Schaffner um eine Zigarette angeschnorrt habe. Wäre mir peinlich gewesen, wenn ausgerechnet er diesen Vorfall beobachtet hätte. Nein, zu diesem Zeitpunkt war der Waggon doch bereits leer gewesen! Ich atmete erleichtert auf. So etwas durfte mir nicht noch einmal passieren. Die Situation war so schon aufregend genug. Noch ein tiefer Atemzug, denn wir standen vor der Wohnungstür und gleich musste ich mich einer besonders kritischen Musterung unterziehen. Die Mutter öffnete die Tür, rasch glitt ihr sichtlich zufriedener Blick über mich und mit einem freundlichen Lächeln hieß sie mich willkommen. Im Hintergrund der Wohnung hörte ich noch eine Kinderstimme fragen: „Papa, wer kommt denn da?“ Und dann ließ eine Männerstimme mir das Blut in den Adern gefrieren. Einen Herzschlag lang klammerte ich mich noch an die Hoffnung, das alles könnte ein Irrtum, eine Einbildung sein, aber dann wurde das Entsetzten Realität. Der Mann, der jetzt mit jovialem Lächeln in das Vorzimmer trat, der Vater meines Freundes, war das Ekel von gestern abend. Sein Lächeln gefror schlagartig zu einer Grimasse, sonst ließ er keine Regung erkennen – aber vorhin hat Jakob mich angerufen und mit mir Schluß gemacht.