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Der Pflaumenbaum
Der Pflaumenbaum
Die blasse weiße Blüte, die sich zwischen verbrannten giftigorange-gelben Gummireifen und verrosteten violett-grauen Autogehäusen emporstreckt, ist wunderbarer und reiner als die Farbenvielfalt einer unberührten Blumenwiese in freier Natur. Denn sie beschwört in einem zufälligen Beobachter die Erkenntnis herauf, dass die Natur langsam, aber sicher, ohne Hast, aber unerbittlich, schamvoll den Müll verdeckt, den Menschen unserer Mutter Erde anlasten. Wie ein Heranwachsender, der seinen Eltern helle blitzartige seelische Schmerzen zufügt, um sich von ihnen zu emanzipieren. Wann wird der Mensch erwachsen? Darum fesselte die alte braun-blaue Fabrikhalle meine Gedanken derart. Denn aus den von Erdbeben aufgerissen Wunden der Erde wuchs zwischen grauem aufgeworfenem Betonboden, wenn man ganz genau hinsah, ein kleiner Pflaumenbaum.
Ich verbrachte all meine aufbringbare Zeit bei diesem kleinen Wunder, pflegte es, bestaunte es, schlief bei ihm. Mein Leben verflocht sich langsam aber sicher mit den Verzweigungen des Pflaumenbaums. Fast träge, aber ohne Unterlass bedeckte und versteckte er meine dunklen Saiten und Ängste. An dem Tag als der Frühling dem Pflaumenbaum das erste Blatt schenkte, öffnete sich auch meine Seele und in mir breitete sich die Zuversicht aus, auch das Gewicht eines Blattes tragen zu können: Ich lernte Ciruela kennen.
Eines Morgens wachte ich neben dem kleinen Pflaumenbaum zu meiner Linken auf. Zu meiner Rechten ruhte Ciruela. Ich habe vergessen wie sie aussah. Ich weiß nur noch, dass sie schön war. Wie die Pflaume, die dem Pflaumenbaum noch fehlte. Als sie aufwachte, blickte ich in ihre grünen Augen.
Ciruela beschloss, bei mir zu bleiben und während des Sommers reifte unsere Liebe. Unsere Herzen verflochten ihr Geäst wie zwei Bäume, die eng beieinander stehen. Doch so schwer wie sich aus einem Quadrat ein Kreis formen lässt, so schwer ist es eigene Nischen und Ecken im Kreislauf der Natur zu finden. Im Herbst welkte das Blatt des Pflaumenbaums und auch Ciruela, die ein Kind der Natur war, wurde unruhig wie ein Tier, das die Spur der Herde verloren hat, wie ein Zugvogel, der in jedem Herbst die Reise in den Süden antritt.
An jenem Morgen nachdem der Pflaumenbaum sein welkes Blatt verloren hatte, wachte auch ich von Ciruela verlassen auf. Ich habe nie erkannt, ob Ciruela mich verließ, weil der Pflaumenbaum, der uns aneinander gefesselt hatte, seinen Saft verlor oder ob das Blatt einging, weil unsere Liebe welkte. Aber ich habe Ciruela im folgenden Winter nicht vergessen.
Einem der ihn brach
Schenkt der Pflaumenblütenzweig
Trotzdem seinen Duft
Dank meines blinden Vertrauens in den immer wiederkehrenden unerschütterlichen grünen Kreislauf der Natur, warte ich auf Ciruela, denn wenn nicht sie, so wird eine andere Ciruela im Frühling neben mir erwachen. Wenn der Pflaumenbaum sein erstes Blatt trägt.