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Der Rat der Großmutter
„Ma Molly, Ma Molly!“
Rianna riss die Tür zum Häuschen ihrer Großmutter auf. Sie war den ganzen Weg über die Heide gelaufen. Die alte Frau am Feuer legte ihren Strickstrumpf zur Seite und lächelte, als ihre Enkelin hereingestürmt kam.
„Was ist denn das für ein Wirbelwind, der da in meine Hütte geweht kommt?“, fragte sie.
Rianna umarmte sie lachend und lief dann noch einmal zurück, um die Tür zu schließen.
„Oh, Ma Molly, ich muss dir unbedingt etwas erzählen.“
„Das ist schön, Liebes, und ich freue mich darauf, es zu hören, aber sei doch so gut und koche uns zuerst einen Tee, ja? Dann redet und hört es sich gleich noch einmal so gut.“
Rianna beeilte sich, dem Wunsch der Großmutter nachzukommen, und schon bald standen Tassen auf dem Tisch und auf dem Ofen in der Ecke brodelte ein Kessel mit Tee.
„So, und jetzt erzähl mir, was dich hergeführt hat!“, eröffnete die Großmutter das Gespräch.
„Weißt du noch, wie du mir immer vom kleinen Volk erzählt hast, als ich noch ein Kind war?“
Molly Mc Bride lächelte. In ihren Augen war Rianna immer noch ein Kind, aber es ließ sich wohl nicht leugnen, dass sie mit ihren vierzehn Jahren langsam zu einer jungen Frau heranwuchs.
„Sicher weiß ich das noch. Du konntest ja gar nicht genug kriegen von diesen Geschichten.“
„Ma Molly“, platzte Rianna heraus, „es gibt sie wirklich. Ich habe sie gesehen.“
Falls diese Nachricht die Großmutter überraschte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.
„Natürlich gibt es sie wirklich. Denkst du, ich habe dir Ammenmärchen erzählt? Aber wo bist du ihnen begegnet? Sie lassen sich nur noch selten blicken, heutzutage.“
„Gestern, im Hochmoor. Ich habe ein paar von den Schafen gesucht, die weggelaufen waren. Ich hatte Finn mitgenommen, zum Suchen und um sie besser nach Hause treiben zu können. Plötzlich blieb er stehen und sträubte das Fell und war nicht zu bewegen, weiter zu gehen.“
Finn war einer der Hütehunde, als Welpe war er ein kleines schwächliches Tier gewesen. Riannas Vater hatte ihn ersäufen wollen, aber das Mädchen hatte so lange gebettelt, bis sie ihn behalten und aufpäppeln durfte. Heute war er ein stattlicher schwarz-weißer Rüde, der nicht nur aufs Wort gehorchte, sondern auch ein besonderes Gespür dafür zu haben schien, verlaufene Tiere wieder zu finden.
„Direkt vor uns auf einem Hügel konnte ich eines unserer Schafe sehen. Ich ging darauf zu, und Finn begann zu winseln und aufgeregt hin und her zu laufen, aber ich konnte ihn nicht überreden, mit mir zu kommen. Es war, als wäre eine unsichtbare Linie auf den Boden gemalt, die er nicht überschreiten konnte.
Die Großmutter nickte. „Ja, das muss ein Feenhügel gewesen sein. Aber erzähl weiter.“
„Es war seltsam, sobald ich begann, den Hügel hinauf zu steigen, hatte ich das Gefühl, als würde sich mit jedem Schritt die Welt um mich herum ändern. Finns Bellen wurde leiser und klang gedämpft, fast als würde man ihm ein Kissen auf die Schnauze drücken. Als ich mich umsah, konnte ich ihn immer noch aufgeregt auf und ab laufen sehen, aber er war weiter entfernt, als ich gedacht hätte. Ich war ja erst ein paar Schritte gegangen. Auch das Licht änderte sich. Ich hatte vorher nicht so darauf geachtet, aber es schien mir, als würde die Sonne aus einem anderen Winkel scheinen und noch höher stehen, als für diese Tages- und Jahreszeit richtig wäre. Das Schaf, das zuerst ruhig dagelegen hatte, stand auf und ging von mir weg. Doch es lief immer nur ein paar Schritte, so dass ich ihm gut folgen konnte. Trotzdem gelang es mir nicht, es einzuholen. Schließlich, als ich fast auf der Kuppe des Hügels angekommen war, verschwand es zwischen einigen Felsen in einer Art Höhle. Ich hatte nichts dabei, um damit Licht zu machen und fürchtete mich ein wenig, aber dann dachte ich, die Höhle könne ja nicht sehr tief sein und kletterte vorsichtig hinein. Es war nur ein schmales Loch, ich musste mich ducken und hindurchwinden, aber gleich dahinter wurde die Höhle weiter und höher, und ich konnte mich aufrichten. Als meine Augen sich ans Dunkel gewöhnt hatten, sah ich in einiger Entfernung einen sanften, bläulichen Lichtschein. Ich ging darauf zu. Ich hatte Angst, zu stolpern und tastete mich ganz vorsichtig voran, aber der Boden war ganz glatt und es gab keine Hindernisse. Fast fühlte es sich an wie der Steinfußboden in einer großen Halle. Das blaue Schimmern schien von den Wänden selbst zu kommen. Ich sah keine Lichtquelle, aber hinten in der Höhle war es hell genug, um ein paar Einzelheiten erkennen zu können. Dort standen meine verlorenen Schafe. Alle vier. Erfreut ging ich weiter auf sie zu, als ich plötzlich eine schlanke Gestalt bemerkte, die an der Wand lehnte. Ich erstarrte. Der Fremde machte einen Schritt auf mich zu und streckte die leeren Handflächen aus. ‚Hab keine Angst’, sagte er, und seine Stimme klang freundlich. Trotzdem war etwas an der Art, wie er sprach, seltsam. Ich hätte seine Worte nicht wiederholen können, fast so, als hätte er in einer fremden Sprach gesprochen, die ich wie durch ein Wunder trotzdem verstand.“
Die Großmutter lauschte wie gebannt der Erzählung der Enkelin. Ein fast wehmütiger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
„Erzähl mir mehr von ihm. Wie sah er aus? Was hat er getan?“, fragte sie.
Rianna fuhr fort:
„Er hieß mich willkommen und bedeutete mir, ihm zu folgen. Ich war misstrauisch, und am liebsten hätte ich meine Schafe genommen und nach draußen getrieben, aber das wäre sicher sehr unhöflich gewesen. Außerdem war ich sehr neugierig und wollte herausbekommen, wer er war und was er dort machte. Er führt mich zu einem schmalen Gang, den ich bisher nicht gesehen hatte. In dem Gang war das Leuchten stärker und ich konnte ihn besser erkennen. Er war klein für einen Mann, kleiner als ich, aber nicht viel, und sehr schlank. Seine Haare waren dunkel und lang, sie fielen bis weit auf seinen Rücken hinunter. Seine Kleidung war einfach, aber sie sah irgendwie altertümlich aus. Obwohl er nicht viel tat, sondern nur ruhig vor mir her ging, wirkten seine Bewegungen auf mich so geschmeidig und fließend, dass ich mir daneben grob und tollpatschig vorkam. Der Gang war länger, als ich für möglich gehalten hätte, und schließlich kamen wir zu einer hell erleuchteten Halle. Bevor wir aus dem Gang hinaustraten, hielt er inne und sagte: ‚Mein Name ist Tuan und ich möchte dich meiner Familie vorstellen.’“
Klirrend zerschellte die Teetasse der Großmutter auf dem Fußboden. Rianna zuckte zusammen. „Ma Molly, ist alles in Ordnung?“
„Ja sicher mein Kind, mir ist die Tasse aus der Hand gerutscht. Wie ungeschickt von mir.“ Die alte Frau wollte aufstehen, doch Rianna kam ihr zuvor.
„Bleib sitzen. Ich mach das schon.“
Nachdem sie die Scherben aufgesammelt und den Tee weg gewischt hatte, holte sie der Großmutter eine neue Tasse und setzte sie sich wieder hin.
„Bist du müde, Ma Molly? Soll ich lieber ein anderes Mal wiederkommen?“
Die alte Frau schüttelte heftig den Kopf.
„Nein! Erzähl bitte weiter. Es tut mir Leid, dass ich dich unterbrochen hab. Eine Schande um die schöne Tasse, ich bin eben alt und zitterig.“
Rianna überlegte. „Wo war ich? Ach ja … Tuan nahm meine Hand und zog mich mit sich in die Halle. Auch hier waren nirgendwo Kerzen oder Fackeln zu sehen, aber es war so hell wie unter freiem Himmel. Die Halle war groß wie eine Kirche und hier schienen eine ganze Menge Leute zu leben. In der Mitte stand ein langer Tisch mit Stühlen und an den Wänden gab es zahlreiche Betten und Truhen. Der Tisch war bereits mit allerlei Köstlichkeiten gedeckt und eine ältere Frau war damit beschäftigt, Kelche und Weinkrüge zu verteilen. Tuan ging auf sie zu. ‚Mutter, das hier ist Rianna. Sie wird mit uns zu Abend essen. Rianna, das ist meine Mutter Morha.’ Morha lächelte freundlich. ‚Wie schön. Wir haben so selten Besuch. Setz dich und lass es dir schmecken.’ Tuan stellte mich noch weiteren Personen vor, seinem Vater und seinen Geschwistern. Ich versuchte, mir all ihre fremd klingenden Namen zu merken, aber es gelang mir nicht so recht. Irgendetwas beunruhigte mich. Ich hatte das Gefühl, mir hätte etwas auffallen müssen, und ich kam nicht darauf, was es war. Ich fühlte mich, wie in einem Traum. Das Essen war wunderbar und schmeckte köstlich, doch kam es mir vor, als würde auf den Tellern immer etwas anderes liegen. Plötzlich fielen mir all die Geschichten ein, von Menschen, die bei dem Feenvolk zu Gast gewesen waren und dann erst viele Jahre später wieder aufgetaucht waren, und ich erschrak. ‚Bitte, ich möchte jetzt gehen’, sagte ich deshalb und sprang auf. Tuan schien zu wissen, was mich ängstigte, denn er sagte, ich solle den alten Geschichten keinen Glauben schenken. Trotzdem war er sofort bereit, mich zurück nach draußen zu begleiten. Seine Mutter und die restliche Familie verabschiedeten sich freundlich und alle meinten, ich solle bald zurückkommen und wäre jederzeit willkommen. Wir nahmen diesmal einen anderen Gang nach draußen. Er war dunkler und schien mir viel kürzer. An seinem Ende griff Tuan nach meiner Hand. ‚Du bist wunderschön, Rianna Mc Bride’, sagte er. ‚Ich würde mich freuen, dich bald wiederzusehen.’ Dann gab er mir einen Kuss. Plötzlich fiel mir ein, was mich die ganze Zeit schon so beunruhigt hatte. ‚Woher kennst du meinen Namen?’, fragte ich. Er lächelte geheimnisvoll. ‚Ich weiß viel über dich’, sagte er. Dann war er verschwunden, und ich stand draußen auf der Heide. Ich kann mich nicht erinnern, an die Oberfläche gekommen zu sein, ich war einfach plötzlich da. Und neben mir standen meine Schafe. Ich war ganz in der Nähe unseres Hauses. Als ich heimkam, warteten meine Eltern schon unruhig, denn es war bereits dunkel und Finn war vor über einer Stunde ohne mich heimgekommen. Ich erzählte ihnen meine Geschichte, aber sie glaubten mir nicht, sondern meinten, ich müsse wohl bei der Suche im Hochmoor eingeschlafen sein.“
Die Großmutter hatte Rianna ohne Unterbrechung zu Ende erzählen lassen. Jetzt sah sie sie ernst an. „Du darfst diesen jungen Mann nicht wiedersehen, hörst Du?“
„Aber warum nicht? Darf ich ihn nicht wenigstens besuchen? Er hat doch nichts Unrechtes getan. Du sagst doch immer, dass das kleine Volk nicht böse ist.“
Die Großmutter schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich sind sie nicht böse. Aber sie sind anders als wir Menschen. Für sie vergeht die Zeit anders. Das führt nur zu Problemen.“
Rianna schaute erstaunt. „Ja, aber ist es denn schlimm, wenn jemand anders ist? Ich hätte gedacht, gerade du gibst nicht viel auf solche Unterschiede. Du hast doch immer getan, was du für richtig hieltest, hast zum Beispiel nie geheiratet und dein Kind alleine großgezogen. Da haben die Menschen auch immer gesagt, du seist anders.“
„Das kannst du nicht verstehen. Aber glaub mir, du darfst dich mit diesem Tuan nicht näher einlassen. Eine Menschenfrau und ein Mann vom kleinen Volk, das kann nicht gutgehen.“
Rianna wurde wütend. Zumindest von ihrer Großmutter, die immer so liebevoll vom kleinen Volk gesprochen hatte, hatte sie mehr Unterstützung erwartet.
„Und wenn ich ihn aber liebe? Und wenn ich ihn wiedersehen möchte? Woher willst du denn wissen, was wir füreinander empfinden?“
Die Großmutter seufzte. „Bitte, Rianna, du musst mir glauben. Du darfst Tuan nicht lieben. Das darf einfach nicht sein und wäre ein großes Unrecht.“
„Ja, aber wieso denn nicht? Wieso können wir es nicht wenigstens miteinander versuchen?“
Molly Mc Bride schloss für einen Moment die Augen. Dann atmete sie tief ein.
„Du darfst dich in Tuan nicht verlieben, weil er dein Großvater ist.“
Diesmal war es Riannas Teetasse, die am Boden zerbrach.