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Der Schutzengel

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30.12.2002
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Der Schutzengel

Ruhig sass er an ihrem Bett. Durch das Fenster kam angenehme Luft hinein und die weissen Vorhänge schaukelten sachte im Wind. Er sass schon lange da und seine Augen ruhten auf ihrem Gesicht. Er schaute sich nicht im Zimmer um, denn er kannte alles, was sich darin befand. Hunderte von Nächten sass er schon da. Er hatte ihre Entwicklung beobachtet, vom süssen, kleinen Mädchen zur schönen, jungen Frau. Er wusste alles über sie. Nie konnte er an ihrem Leben Teil haben, doch in der Nacht spiegelte sich alles in ihren Träumen und er vermochte sie zu lesen. Und so kannte er sie besser als sonst jemand, vielleicht sogar besser als sie selbst.
Nacht für Nacht sass er da und las ihre Träume. Er war ihr guter Freund und hörte ihr zu. Er half ihr, ihre Probleme zu verarbeiten und gab ihr Ratschläge. Sie spürte, dass da etwas war. Aber solange es nur tief in ihrem Inneren war, suchte sie nicht danach und oftmals dachte sie nicht einmal daran.
Manchmal fand er es schade, dass er nicht an ihrem Leben teilhaben konnte. Wie gerne würde er ihr realer Freund sein, mit ihr lachen und mit ihr weinen. Doch das war nicht seine Bestimmung.

Und während er da sass, fühlte er abgehackte und verwirrende Gedanken in ihrem Kopf. Er sah Bilder in ihr, die gehetzt und verschnitten wirkten. Beängstigende Träume in denen dunkle Schatten vorkamen. Doch als er weiter vordringen wollte, stiess er auf eine Barriere. So etwas war ihm noch nie passiert. Beunruhigt betrachtete er ihr schlafendes Gesicht. Er sah darauf nichts Neues und keine Veränderung. Aber etwas musste passiert sein. Etwas, dass so schlimm war, dass sie es verdrängte.
Sanft strich er mit seiner Hand über ihre Haare. Die Bilder kamen immer schneller und wilder. Bald würde sie erschrocken aufwachen und sich vielleicht sogar noch an den Traum erinnern.
Er musste dafür sorgen, dass es nicht so weit kam. Er musste sie beruhigen und trösten. Doch solange er die Barriere nicht überwinden konnte, würde ihm das nicht gelingen.
Er versuchte nochmals tiefer in ihre Traumwelt vorzudringen, langsam und vorsichtig. Und dieses Mal kam er weiter. Die Bilder waren nicht mehr ganz so schnell und die Schatten gewannen an Substanz. Langsam konnte er Dinge erkennen. Und als die Bilder immer schärfer wurden, schloss er entsetzt die Augen.

Er sah Dunkelheit, finstere Nacht. Er spürte Schmerzen. Und er konnte das Blut riechen. Es zog ihn so tief in ihre Träume hinein, wie niemals zuvor.
Noch einmal sah er den Ablauf. Wie sie alleine die Strasse hinunter lief. Sah die dunklen Schemen an der Ecke, die nach Alkohol stanken und ihr hinterher pfiffen. Sah, wie sie weiter lief und sie nicht beachtete. Bemerkte den plötzlichen Ruck, als einer der Typen sie am Arm festhielt. Versuchte ihr zu helfen, als sie sich losreissen wollte. Spürte den Schmerz, als ihr einer die Faust ins Gesicht schlug.
Immer deutlicher wurden die Bilder. Nur ihre Gesichter konnte er nicht erkennen. Er sah nur gesichtslose Gestalten, die sich über sein Mädchen hermachten. Wildes Stöhnen, dass ihm fast das Trommelfell platzen liess. Und die ganze Zeit sah er die Angst in ihren Augen. Augen, die stumm nach Hilfe schrien. Ihr schmaler Körper wurde von harten Stössen geschüttelt, ihre zarte Haut beschmutzt und ihre Jungfräulichkeit geschändet.
Verzweifelt versuchte er, ihr zu helfen, die Schatten wegzureissen. Doch wie sollte er verhindern, was bereits geschah?
Nach einer ihm unendlich lange erscheinenden Zeit liessen sie endlich von ihr ab. Liessen sie im Schmutz liegen und torkelten davon.
Zitternd und verstört lehnte sie an die kalte Mauer. Sie umklammerte sich selbst, wiegte sich vor und zurück und ihr Blick irrte umher.
Er kniete neben ihr nieder, fuhr ihr durch ihre Haare. Doch sie spürte nichts. Nichts ausser einem schwachen Hauch. Er sah ihr in die Augen. Er sah den Schmerz darin, doch konnte er auch erkennen, wie sie sich bereits verschloss. Und alles, was in ihren Augen zurückblieb, war ein dunkler Schleier.

In den folgenden Nächten versuchte er immer wieder, zu ihr vorzudringen. Manchmal gelang es ihm, doch meistens sah er nur oberflächlich in ihre Seele. Das Andere war zu tief vergraben. Es zerriss ihm beinahe das Herz als er sah, wie sehr sie litt. Doch alles was er tun konnte, war bei ihr zu sein und ihr zuzuhören.
Zu hören, wie ihre Seele weinte.

 

Hallo Berian,

die Perspektive des Schutzengels ist eine schöne Perspektive für deine traurige Geschichte.
Ich finde, du hast sie sehr einfühlsam geschrieben.
Leider ist auch dieser Schutzengel recht hilflos, am Tag haben da wohl andere Schutzengel versagt.
Die Geschichte hat mir gut gefallen.

Vielleicht nimmst du dir die Doppel s noch einmal vor. Wenn der Vkal davor lang gesprochen wird, ist es auch nach der neuen Rechtschreibung ein ß.
Die weißen Vorhänge zum Beispiel.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Berian,
eine sehr gefühlvolle, traurige Geschichte, die aber auch etwas Hoffnung zum Ausdruck bringt. Hoffnung, dass da immer jemand sein wird, der uns zur Seite steht, auch, wenn wir ihn oder es nicht sehen können.
Das Doppel-S gibt es wahrscheinlich bei Euch in der Schweiz nicht, da geht es Dir wie mir mit meiner spanischen Tastatur.
Auf jeden Fall hat mir Deine Geschichte sehr gut gefallen.
LG
Blanca

 

Hallo sim, hallo Blanca

Vielen Dank für euer Feedback. Mir ging es bei der Geschichte darum, darzustellen dass Schutzengel eben nicht immer zum körperlichen Schutz da sind. Sie können helfen, Träume und Erlebnisse zu verarbeiten aber sie schützen zum Beispiel nicht vor einer Prügelei oder eben einer Vergewaltigung. Meiner Meinung nach wirken solche Schutzengel glaubwürdiger.

Noch zum Doppel-S. Bei uns in der Schweiz gibt es das wirklich nicht (worüber ich froh bin *g*). Es existiert nicht einmal auf der Tastatur.

Liebe Grüsse!
Berian

 

Hey Sandra!!!
Ich hab' erst jetzt gerade gesehen, dass Du die Geschichte gepostet hast! Ich bin wieder mal nachlässig :)

Ich kann nur eines sagen (was bei mir erstaunlich ist *gg*):
SUPER!!!!

Wollte ich nur mal sagen.

Äs liebs Grüessli,
Mäni

PS: Wegen dem Doppel-s: Hihi, das kommt mir irgendwie bekannt vor. :D

 

Hallo Berian,

die Geschichte ist sehr einfühlsam. Trotz ihrer Kürzer konntest Du Tiefe vermitteln. Und vor allem zeigst Du Schutzengel mal anders, was mir besonders gut gefallen hat.
Ich kann einfach nichts zum Bemängeln finden. Die Geschichte hat was, ist wunderschön und sehr traurig. :)

Griasle,
stephy

 

@ Mäni

Vielen Dank für dein nettes Kompliment. Ich bin ebenfalls ein bisschen nachlässig und schreib im Moment fast nichts mehr. Aber bei dem Wetter :).

@ stephy

Danke! Zuerst wollte ich sie eigentlich länger schreiben, doch dann dachte ich, dass eigentlich alles gesagt worden ist.
Zu den Schutzengeln habe ich ja oben schon was gesagt.

Liebe Grüsse!
Berian

 

Hallo Berian!
Ich kann mich den anderen nur anschließen. Eine schöne, obwohl traurig, Geschichte.
Die Sichtweise mit den Schutzengeln finde ich persönlich ziemlich gut und auch überzeugend.

bye und tschö

 

Obwohl ich nur wiederholen kann, was all die anderen bereits gesagt haben, möchte ich mich ihnen anschließen: Ein wirklich schöne, unter die Haut gehende Geschichte!

Aragorn

 

Hallo zusammen!

Ich möchte mich auch bei euch für das supernette und positive Feedback bedanken.
Ich bin froh, dass die Geschichte so gut ankommt.

Liebe Grüsse!
Berian

 

Hallo Berian,

ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen. Deine Geschichte war wunderschön, einfühlsam und obwohl sie traurig war, gibt sie dem Leser HOffnung. HOffnung, daß es vielleicht doch etwas oder jemanden gibt, der die Menschen beschützt, für sie da ist, oder, wie Du selber sagtest, ihnen hilft, schlimme Ereignisse zu verarbeiten. Wirklich schön! Auch die Idee war mal was anderes. Darauf wäre ich gar nicht gekommen.

Aber eines habe ich nicht verstanden: Am Anfang schreibst Du, daß der Schutzengel alles sieht, sie hat aufwachsen sehen und alles! über sie weiß. Wieso war er an dem besagten Tag dann nicht dabei? Auch wenn er nicht hätte helfen können, müßte er dann doch wenigstens dabei gewesen sein. Oder?

Lieben Gruß,
Alexa333

 

@alexa333

Ich glaube, ich hab da etwas ein bisschen undeutlich formuliert. Ist mir selbst erst jetzt aufgefallen. Der Schutzengel sieht das Geschehene nur in ihren Träumen, er ist nicht wirklich dabei. Nur wenn sie schläft, ist er da.

@Samn

Danke auch dir!

@Annette
Hey Katze! Dein Lob bedeutet mir genausoviel wie das von Bo. Ich bin sehr froh, dass euch meine Geschichte so gut gefällt. :-x

Liebe Grüsse!
Berian

 

Ich finde die Idee ziemlich gut. Der Text ist auch schön geschrieben und so, aber ich hätte es gut gefunden, wenn zum Ende hin die Hilflosigkeit des Schutzengels und sein eigener Schmerz, der durch ihr Leid verursacht wurde, mehr thematisiert worden wäre.
Vielleicht wäre es auch ganz gut gewesen, wenn er nicht nur eine Beobachterrolle eingenommen hätte, sondern auch wirklich etwas verändert hätte. Vielleicht nicht unbedingt zum Guten, denn das hätte der Geschichte jegliche Glaubwürdigkeit genommen und 'ne Menge Kitsch gespendet. Aber wenn sein Leiden sich dann negativ auf ihr Empfinden auswirkt, und er dann beschließt zu gehen, wäre es für meinen Geschmack wesentlich dramatischer gewesen, und ich stehe auf Dramatik. :) Dann hätte man den schmerzlichen Verlust vom Engel auch schön thematisieren können...
Naja, wäre dann ja eine völlig andere Geschichte gewesen. Die Idee fand ich halt ganz cool, und hatte eigentlich dann was anderes erwartet.
Aber dass bin nur ich, und anscheinend gefällt allen anderen die Geschichte so viel besser, also nimm meine Kritik nicht so sehr zu Herzen. :)

 

Hey Questionmark

Danke für dein Feedback. Ich nehme mir deine Kritik sehr wohl zu Herzen :-).
Das wäre wirklich eine ganz andere Story geworden. Nun, ich habe mich für meine Variante entschieden und so belasse ich sie auch.
Meiner Meinung nach kann der Schutzengel auch nicht einfach gehen, er muss bei ihr bleiben.

Liebe Grüsse!
Berian

 

Hallo Sabrina!

Danke für dein Feedback.
Den Doppel-s gibt es bei uns in der Schweiz nicht, deshalb ist das schon richtig so.

Liebe Grüsse!
Berian

 

Hallo Berian,

so eine Geschichte, wie Du sie geschrieben hast, habe ich schon einmal in einem anderen Forum gelesen. Die beiden aehneln sich wirklich sehr!
Ich mag die Idee des Schutzengels, meine Vorstellung eines solchen beschraenkt sich aber nicht auf die Traumwelt.

Viele Gruesse

Jabberwock

 

Da bin ich bei der zweiten Geschichte von dir, die ich mir vornehme, und auch diesmal hast du keinen Verriß zu befürchten. Du hast Talent, Mädchen, und das beweist du auch hier, indem du sehr gefühlvoll an ein krasses Thema rangehst.
Den Schutzengel als Protagonisten einzuführen ist originell, und in einer wirklich kurzen Geschichte transportierst du sehr viel. Nur der allerletzte Satz ist hart an der Grenze zum Kitsch, aber alles vorher macht ihn mehr als wett.

Louis Cyphre

 

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