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Der Sohn

zut

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18.06.2003
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Der Sohn

Ich habe einen Sohn. Und trotzdem kann ich nicht viel über mein Verhältnis zum Sohn sagen.
Ich habe meinen Sohn zu früh verloren. Anders kann ich es nicht formulieren.
Natürlich Kinder ändern sich schnell, aber bei ihm war es zu extrem. Er verschloss sich immer mehr. Er redete nicht mehr mit mir, hatte Zweifel an seinem Können und entwickelte Depressionen. Als ich ihn nach Gründen für sein Verhalten fragte, antwortete er nicht. Er sagte nur, dass er mit mir nichts zu tun haben wolle und ich ihn in Ruhe lassen solle. Diese Antwort gab er mir acht lange Jahre.
Ich sah, wie er älter wurde, wie er versuchte mit dem Erwachsenwerden zurecht zu kommen. Doch was ich eigentlich sah, war eine leblose Hülle ohne Wille, ohne Freude und ohne Lebenslust. Er machte all das, was auch seine Freunde taten, hörte die gleiche Musik, interessierte sich für die gleichen Mädchen und trug die gleichen coolen Kleider wie die anderen. Kurz, er verhielt sich normal für sein Alter. Aber das tat er nur, wenn er mit seinen Freunden zusammen war. Wenn er allein war, konnte man ihn kaum ansprechen, er sass einfach da und machte nichts, schaute nicht fern, hörte keine Musik, las keine Bücher. Er sass einfach nur da.
Seine Lehrer sagten, dass er sich nicht konzentrieren könne, dass er sich nicht am Unterricht beteilige. Vermutlich hätte er kein Selbstvertrauen. Vor noch nicht allzu langer Zeit war er fröhlich, unterhielt sich mit anderen und wollte immer das letzte Wort haben. Und jetzt? Jetzt, war er schüchtern und schämte sich für jeden Fehler, den er machte.
Ich sah das alles und konnte doch nur tatenlos zusehen, weil ich Angst hatte. Ich hatte Angst, ihn ganz zu verlieren, falls ich ihn drängen würde zu sagen, was mit ihm los war. Ich gebe zu, ich war der Situation nicht gewachsen.
Eines Tages setzte er sich aus eigenem Antrieb, plötzlich neben mich, zum ersten Mal seit acht Jahren. Er erzählte mir, was er empfand. Er fühlte sich verlassen und von allen missverstanden. Er sagte, dass er sich ausgegrenzt fühlte, obwohl er eigentlich Freunde hatte. Er konnte sich das alles nicht genauer erklären.
Ich werde nie vergessen, wie er das sagte. Seine Stimme zitterte und sein Gesichtsausdruck war und ist nicht zu beschreiben, es schien, als wären all seine Zweifel in seinem Gesichtsausdruck. Und ich sass nur da und starrte ihn an. Ich war unfähig, meine Gedanken zu ordnen geschweige denn sie zu formulieren. Er sass da und weinte sich aus und ich fand keine tröstenden Worte. Konnte seinen Hilfeschrei nicht erfüllen. Noch heute schaudert es mich, wenn ich an diesen Abend auf der Couch denke. Das waren die letzten Momente, von denen ich wirklich behaupten kann, ich wäre mit meinem Sohn zusammen gewesen.
Ein paar Wochen später war er verschwunden. Ich weiss nicht, wo er heute ist. Ich will auch nicht wissen, was mit ihm los war – aber ich weiss es. Ich weiss es und es quält mich, Tag für Tag und Nacht für Nacht. Mich quälen immer wieder die gleichen Gedanken:
Hätte ich ihn aus seinem Gefängnis befreien können? Hätte ich nicht irgendetwas für ihn tun können?
Für mich wäre es einfacher gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass er wegen einer unglücklichen Liebe oder wegen einer anderen kurzfristigen Sache weggegangen ist. Dann hätte ich noch Hoffnung und müsste mich nicht mit so vielen Schuldgefühlen beschäftigen. Ich will nicht wissen, dass es für ihn bei mir nichts mehr gab, wofür es sich gelohnt hätte zu bleiben.
Ich habe meinen Sohn zwei Mal verloren und ich weiss, dass ich ihn nicht wieder finden werde. Auch nicht im Jenseits. An so was kann ich nicht mehr glauben. Ich hoffe für ihn, dass er jetzt frei ist, frei von Angst, frei von Leid und Schmerzen. Ich hoffe, dass er sich befreien konnte aus der Umklammerung, die ihn zu dem gemacht hat, was er war.
Ich werde meinen Sohn nicht wiederfinden, aber ich hoffe, dass es ihm jetzt besser geht, dort, wo er jetzt ist. Wo immer das sein mag.

 

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