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Der Stumme von München

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04.07.2004
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Der Stumme von München

Die Frau saß auf der Parkbank, auf dem Schoß ein Schriftstück, in dem sie las, neben ihr eine Ledermappe. Der alte Mann in dem ebenso alten Mantel und dem zerknitterten und stellenweise schmutzigen Kordanzug stand vor der Frau und sah sie an. Besser gesagt, er stand vor der Bank, denn die Frau nahm keinerlei Notiz von ihm. Sie war teuer und elegant gekleidet und hübsch, aber in ihrem Gesicht lag eine Besorgnis, die zu dieser Tages- und Jahreszeit keineswegs angemessen war- besonders wenn man jung war. Endlich sah die Frau auf und bemerkte den Alten, der plötzlich den Arm ausstreckte und ihr die Hand entgegenhielt. Sie sah ihn zuerst irritiert an, doch dann bekam ihr Gesicht den Ausdruck von leichter Gereiztheit- nicht übermäßig, so als wollte sie bloß eine lästige Fliege vertreiben. „Was soll denn das Betteln am helllichten Tage?“, fragte sie nicht besonders freundlich, aber der Mann antwortete nicht und hielt ihr nur seine Hand hin. „Wie kommen bloß Menschen auf die Idee, zu betteln?!“, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, aber der Alte sagte immer noch kein Wort. „Sind Sie etwa stumm?“, die Frau sah ihn mit deutlichem Ekel an, und er nickte. „Das auch noch!“, die Frau schüttelte den Kopf und fing an, in ihren Manteltaschen zu suchen- offenbar nach einem Geldstück, „nicht einmal mehr im Park kann man seine Ruhe haben. Nicht einmal mehr im Park kann man noch arbeiten...“ Sie suchte weiter, holte eine Münze heraus und gab sie dem Mann, der sie irgendwo in den Falten seines Mantels versteckte. Dann setzte sich der Stumme neben ihr auf die Bank und faltete die Hände im Schoss zusammen, als würde er geduldig auf etwas warten. „Was wollen Sie denn noch?!“, empörte sich die Frau unverhohlen, „ich habe Ihnen Geld gegeben, und Sie machen deshalb, dass Sie wegkommen und mich in Ruhe lassen! Ich verdiene mein Geld nämlich keineswegs mit dem Betteln, sondern mit Arbeit. Und genau das möchte ich jetzt auch fortführen, wie Sie sehen...“ Sie sah den Alten erwartungsvoll an, fest davon überzeugt, dass er jetzt gehen würde. Aber er rührte sich nicht und warf ihr einen fragenden Blick zu. „Na schön!, zuckte sie mit den Schultern, „dann bleiben Sie eben hier sitzen. Aber denken Sie bloß nicht, dass ich Ihnen auch nur eine Minute mehr widmen werde- ich habe nämlich zu tun!“ Der Stumme hob den Blick gen Himmel, und die Frau neben ihm schüttelte den Kopf: „Ich weiß, was Sie meinen“, sagte sie nicht mehr so feindselig, „es ist Feierabend, Frühling, und die Sonne scheint. Und dennoch muss getan werden, was getan werden muss. Auch wenn ich dafür den Englischen Garten als Büro missbrauchen muss!..“ Diesmal schüttelte der Stumme den Kopf und verlieh seinem Gesicht einen verständnislosen Ausdruck. „Sie wollen wissen, warum?..“, lachte die Frau auf, „weil ich ganz am Anfang meiner Karriere stehe. Weil ich besser sein muss als Andere. Weil...“, sie verstummte und blickte leicht ängstlich drein, „weil ich ohne Arbeit nicht weiß, was ich mit mir anfangen soll!“ Der Alte lächelte schwach und runzelte die Stirn, sodass die tiefen Falten darauf noch tiefer erschienen. Aber eben diese verliehen dem Stummen eine so freundliche und harmlose Erscheinung, dass die Frau sich ermutigt fühlte, fortzufahren. „Nein“, sagte sie leise, „das, was Sie mir jetzt empfehlen wollen, kann ich auch nicht tun! Wenn ich ausgehe, geht mir die Zeit verloren, die ich für meine Arbeit brauche. Außerdem- mit wem sollte ich auch ausgehen?..“ Der Stumme seufzte kaum hörbar, aber die Frau, die dicht neben ihm saß, vernahm dies natürlich. „Wenn Sie jetzt denken, dass ich einsam bin“, sagte sie wieder gereizt, „dann täuschen Sie sich. Ich rede jede Woche mit mehr Menschen, als die Meisten in einem Monat...“ Der Stumme lächelte unauffällig, denn an der Reaktion der Frau erkannte er, dass seine Vermutung richtig war. Er hob die Arme in die Höhe und zuckte mit den Schultern, als wollte er die nächste Frage stellen. „Ich weiß doch auch nicht, was mir noch fehlt“, sagte die Frau jetzt traurig, „alles, was ich mir jemals wünschte, habe ich bereits. Und doch fehlt etwas. Ich weiß auch nicht, was es ist...“, wiederholte sie und verstummte, jetzt in Gedanken versunken. Der Alte schüttelte mehrmals leicht den Kopf, als wollte er sich selbst sagen, dass ausgerechnet er wüsste, was der Frau neben ihm fehlen würde. „Ich habe seit drei Wochen nicht mehr mit meiner Mutter telefoniert“, sagte die Frau plötzlich, „wahrscheinlich ist es sie, die mir so fehlt...“ Erneut schüttelte der Stumme den Kopf, aber jetzt so, dass die Frau es sehen konnte. „Außerdem fehlt mir Berlin“, fuhr sie jetzt lauter fort, „oder meinen Sie, dass es einfach ist, in einer Stadt zu leben, die einem vollkommen fremd ist?..“ Der Alte machte einen großen Kreis mit den Armen und brachte die Frau dazu, sich die noch blühende Natur um sie herum genauer anzusehen. „Ich weiß, dass München auch eine schöne Stadt ist“, interpretierte sie das Zeichen des Stummen, „aber... sie wäre noch schöner, wenn meine Mutter hier wäre!“ Sie drehte sich mit dem ganzen Oberkörper zu dem Stummen und sagte aufgeregt: „Ich muss doch etwas tun- aber was nur?..“ Der Stumme drehte sich auf der Bank um, streckte seinen Arm erneut aus, und die Frau folgte diesem metaphorischen Pfeil mit den Augen. In der Ferne, fast schon nicht mehr sichtbar, erspähte sie eine Telefonzelle. Hastig packte sie das Schriftstück, in dem sie gelesen hatte, verstaute es in der Ledermappe, sprang auf und lief davon, so schnell und entschlossen, dass man genau erkennen konnte, dass sie eine Entscheidung gefällt hatte. Sie vergaß, sich von dem Stummen zu verabschieden, doch das schien ihm nichts auszumachen. Er saß nur da und schmunzelte.
Eine Weile später stand der Alte erneut vor einer Parkbank und hielt erneut einem sitzenden Menschen die Hand hin. Der Mann, der auf dieser Bank saß, war ebenso jung wie die arbeitswütige Frau. Aber er las und arbeitete nicht. Er starrte geradeaus auf den dunkelblauen kleinen See, der umso schöner aussah, da er inmitten einer grünen Wiese lag. Es erschien seltsam, fast unnatürlich, dass sein attraktives Gesicht mit den stechend blauen Augen versteinert wie eine Maske wirkte. Man würde wahrscheinlich nicht sagen können, ob Trauer auf diesem Gesicht zu erkennen war oder irgendeine andere Art von Emotionen- er starrte einfach vor sich hin. Viel schneller als die Frau zuvor bemerkte er den bettelnden Mann, griff hastig nach seinem Portemonnaie und reichte dem Bettler eine Münze. Doch danach sah er nicht genervt weg, sondern blickte zu dem Mann auf und lächelte ihn mitfühlend an. Der Alte setzte sich neben ihm auf die Bank, aber der junge Mann zeigte keinen Ekel, keine Gereiztheit und keine Reserviertheit. „Haben Sie auch niemanden, mit dem Sie reden können?“, fragte er den Alten, und dieser schüttelte den Kopf, lächelte und zeigte auf seinen Mund. „Oh Verzeihung!“, dem Mann wurde klar, dass er, ohne es zu wollen, taktlos gewesen war, und er sah den Stummen schuldbewusst an, „aber es ist wieder einmal so, dass ich alles falsch mache!..“ Der Alte blickte ihn mit einem überraschten Gesichtsausdruck an und schüttelte verneinend den Kopf, als wollte er sein Gegenüber beruhigen. „Aber es stimmt!“, fuhr der Mann fort, „ich mache alles falsch. Und bin mir dessen nicht einmal vollständig bewusst...“ Der Stumme krümmte seine Mundwinkel wie in einem ironischen Lächeln, als wäre ihm das Problem des jungen Mannes bereits sonnenklar. „Ich bin eine Maschine geworden“, fuhr dieser traurig fort, „eine Maschine ohne große Gefühlsregungen, ohne Fantasie, ohne Träume. Und wenn ein Mensch an diesem Punkt angekommen ist, dann hat er aufgehört, zu leben!“ Der Alte schüttelte erneut den Kopf, aber diesmal nicht verneinend. „Sie sind ein glücklicher Mensch, dass Sie nicht reden können“, sagte der junge Mann plötzlich, und diesmal schien er nicht zu fürchten, taktlos zu sein, „man verletzt die Anderen nur mit Worten“, er machte eine Pause, „ich... verletze die Menschen mit Worten. So sehr, dass es niemanden mehr in dieser Stadt gibt, dem ich etwas bedeuten würde. Der mir etwas bedeuten würde...“, er seufzte kaum wahrnehmbar, „das ist wohl der Preis des Erfolges!“ Der Stumme blickte ihn mit weit geöffneten Augen an, sodass sein Gesicht jetzt fast furchteinflößend aussah. „Sie meinen, ich habe Angst, den Frühling allein zu verbringen?“, lachte sein Gegenüber auf, „ich habe keine Angst!“ Aber dann drehte er sich abrupt zu dem Stummen. „Na schön!“, atmete er aus, als würde ihm das Sprechen schwer fallen, „Sie können es ja doch niemandem erzählen. Ich fürchte mich in der Tat davor, die Sonne und die erwachende Natur allein ertragen zu müssen. Aber nichts anderes wird mir jetzt übrigbleiben, da niemand mehr um mich herum ist. Selbst meinen besten Freund habe ich mit meinem maßlosen Ehrgeiz vertrieben...“ Der Alte schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Ich bereue es ja“, sagte der junge Mann schnell, als würde er auf jeden Fall verhindern wollen, dass der Stumme schlecht von ihm denke, „aber ich habe niemals gelernt, den ersten Schritt zu machen“, erneut seufzte er, „es werden noch einmal 30 Jahre vergehen- und ich werde es doch nicht lernen!“ Der Stumme zeigte keine Reaktion, als ließe er die Worte des jungen Mannes auf sich wirken. Aber als dieser ihn erwartungsvoll ansah, sah er den zeigenden Arm des Alten und erblickte die Telefonzelle. „Was soll`s!“, sagte er dann ergeben, „mehr als eine ehrliche Abfuhr unter Männern kann mir ja nicht passieren...“ Er stand auf und lief in Richtung der Telefonzelle, aber nicht schnell, sondern so gelassen, als würde er etwas tun, was er schon längst hätte tun wollen. Der Stumme, der erneut kein Abschiedswort gehört hatte, lächelte und nickte mehrmals wie zu sich selbst...
Aus der Ferne sah der Stumme, wie die teuer gekleidete Frau mit der Ledermappe die Telefonzelle verließ. Auf ihren Lippen strahlte so ein unbeschwertes und fröhliches Lächeln, dass der junge Mann mit den blauen Augen, der jetzt vor der besetzten Telefonzelle wartend hin und her lief, unvermittelt stehen blieb, und den gleichen intensiven Blick, mit dem er eben noch den See betrachtet hatte, auf sie richtete. Sie verharrten für ewig lange Sekunden regungslos auf der Stelle, und der Stumme lächelte zufrieden, wie ein märchenhafter Zauberer, dessen Magie Wirkung zeigte... Die Beiden standen immer noch vor der Telefonzelle, sie, die ihr Vorhaben bereist in die Tat umgesetzt hatte, und er, der das, was er tun wollte, jetzt völlig vergaß, und stellten einen perfekten Gegensatz dar: Sie, zierlich und mit dunklen Haaren, die mit ihrem blassen Teint exotisch zusammenwirkten, und er, viel größer als sie, dessen immer noch anhaltende Bräune des Winterurlaubs leicht unnatürlich zu seinen dunkelblonden Haaren aussah. Sie redeten, und obwohl der Stumme ihre Worte nicht hören konnte, schien er zu verstehen, was sie sich sagen wollten. Nach einer Weile liefen die Beiden lächelnd nebeneinander auf den Ausgang zu, und das Lächeln von jedem Einzelnen schien genau so hell zu strahlen wie die junge Sonne selbst. Sie überquerten die belebte Straße und verschwanden in einem kleinen Café.
Lächelnd lief der Stumme den schmalen Kiesweg entlang. Auf den schon grünen Wiesen, den Parkbänken, überall im Englischen Garten waren Menschen, die zusammen mit ihren Liebsten den Frühling begrüßten. Einige von ihnen erkannte der Stumme- vor einer Woche, einem Monat oder einem Jahr sah er neben jedem von ihnen auf einer Parkbank und verhalf ihnen stumm und unaufdringlich zum ihrem Glück. Aber in dieser Naturidylle inmitten einer Großstadt gab es immer noch Viele, die Reden, aber nicht hören und nicht fühlen konnten. Und deshalb gab es für einen Stummen wie ihn immer viel zu tun. Der Stumme von München fasste einen einsamen Menschen auf einer Parkbank ins Auge und lief zielstrebig auf ihn zu.

 

Hallo LadyMiracle,

leider hat mir deine Geschichte nicht ganz so gut gefallen.
Deine Geschichte wirkt auf mich ein wenig konstruiert: Die Frau verändert sich für mein Empfinden zu schnell. Erst ist sie angeekelt und empört, und im nächsten Satz ist sie einfühlsam genug, den Stummen auch ohne Worte zu verstehen und vertraut sich ihm direkt an? Und die Tatsache, dass zwei Menschen die Zeichensprache verstehen und sich einem Wildfremden öffnen, verstärkt mein Gefühl, dass es unrealistisch ist. Aber wart doch einfach mal ab, vielleicht geht es anderen anders als mir ;)
Was mich außerdem irritiert hat, war die Tatsache, dass der Stumme hören konnte. Das ist selten, aber es kommt natürlich vor, von daher mein Fehler, dass ich zu Beginn einen Taubstummen assoziiert hatte. Für deine Geschichte ist es natürlich wichtig, dass der Mann hören kann, klar.
Zwei Sachen haben mir wirklich gut gefallen: zum einen die Tatsache, dass scheinbar unbedeutende Begegnungen mit einem Fremden lebensverändert sind, das mag ich, wenn kleine Dinge so viel Einfluss haben. Was ich noch schön fand, war der Kontrast - Menschen, die nicht hören können und der Stumme, der nicht reden kann.
Zwei Sachen sind mir noch aufgefallen:

Die Beiden standen immer noch vor der Telefonzelle, sie, die ihr Vorhaben bereits in die Tat umgesetzt hatte
Außerdem kommen sowohl vor als auch nach Gedankenstrichen ein Leerzeichen.

Ich hoffe, meine Antwort bleibt nicht lange die einzige :)
Liebe Grüße
Juschi

 

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