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Der Tag, an dem der Kaffeesatz vom Tisch polterte

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21.04.2004
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Der Tag, an dem der Kaffeesatz vom Tisch polterte

DER TAG, AN DEM DER KAFFEESATZ VOM TISCH POLTERTE

Es war der Tag, an dem Hendrik Roller mit dem Rücken die Kaffeetasse vom Tisch riss. Die Kaffeetasse polterte dumpf, der dunkle Kaffeesatz schwappte über den Teppichboden. Er würde die Wohnung in wenigen Monaten besenrein wieder abgeben müssen. Aber es gab noch keinen Besen, der dieses Malheur einfach beseitigen würde. Es gab nur eines, was den Kaffeesatz unsichtbar machen würde: Harte Arbeit. Roller sträubte sich vor solcher (harten) Arbeit. Er sträubte sich überhaupt in den letzten Tagen davor, irgendetwas nachzugehen. Es gab unendlich viele Möglichkeiten, dem Computer und dem Arbeitszimmer auszuweichen. Die Zeitung hoch holen, Zeitung lesen, zum Briefkasten gehen. Post holen - sie kam ja immer später als die Zeitungen, zwei Stunden später nachschauen, ob die Post inzwischen gekommen war, Bücher lesen, den Game-Boy seines Sohnes anschalten und den vergessenen Spielen der Jugend und eigenen Kindheit nachjagen. Aber Roller war nun kein Kind mehr, diese Angelegenheit war auch kein Spiel. Er war jetzt dreißig.
Und mit jedem Tag fiel es schwerer, diesen Zustand zu ignorieren. Obwohl er eigentlich überhaupt keine Lust hatte, dreißig zu sein. Die Instinkte der Jugend schrieen in ihm mulmig nach Widerstand. Damals, vor ein paar Monaten hatte er seinen 30. Geburtstag fast vergessen. Seine Mutter hatte ihm sanft den Weg zu dieser neuen Schwelle gewiesen. Dreißig, dreißig ... 30 30 30, "Junge, du wirst jetzt DREIßIG", hatte es gelegentlich gewispert. 30, das war eigentlich eine lustige Zahl, kombiniert mit einer Null davor, war es die Vorwahl von Berlin. Für Roller war es keine nackte, gefühllose Ziffernkombination, sondern ein Wegweiser auf dem Lebensweg: jetzt war Tempo 30 angesagt. Es genügte nicht mehr, sich hinter dem Schutzschild des Lernenden zu verstecken. Er konnte nicht mehr lapidar sagen: "Ich bin zu spät gekommen, weil meine Mutter mich nicht rechtzeitig geweckt hat." Er musste Verantwortung übernehmen. Deshalb war der Tag, an dem die Kaffeetasse vom Tisch polterte und die Zukunft auf dem Fußboden landete, der Tag, an dem Roller wieder einmal klar wurde, dass es so nicht weitergehen könnte. Und auch nicht würde. Alle Zeichen standen auf Veränderung. Er war jetzt dreißig.
Roller beschloss, verstärkt erwachsen zu werden. Dazu gehörte auch ein passendes Erscheinungsbild. Er sortierte seine Hose, die mit einem großen, gelb-roten Ketchup-Senf-Fleck beschmaddert war, gnadenlos für den gefräßigen Schlund der Waschmaschine aus. "Damit ist jetzt Schluss", sagte Roller zu der braunen Kordhose. "Mit dieser Schlampen-Wirtschaft ist jetzt endgültig Feierabend. Du hast du dir den falschen Tag ausgesucht, um so in der Gegend herumzulaufen."
Er würde jetzt regelmäßig seine Bettwäsche wechseln. Er würde alles so machen, wie richtige Erwachsene es eben so tun. Er würde seinen Sohn pathetisch über die Unwägbarkeiten des Lebens unterrichten, Nutella nicht mehr mit dem Löffel essen, seine Artikel nicht mehr bis auf den letzten Termin aufschieben, den Wetterbericht anschauen und sich auf das Wetter am nächsten Tag einstellen - außerdem konnte man dann prima bei unzähligen Gelegenheiten mitreden über das Thema Wetter - und die passende Wäsche herauslegen. Er würde nicht mehr bei Rot mit dem Fahrrad über die Ampel fahren. Seiner Mutter ordentlich zum Geburtstag gratulieren. Seine Behördenpost pünktlich beantworten, pünktlich Rechnungen bezahlen, im Haushalt nicht mehr nur geringfügig beschäftigt sein - pünktlich den Mülleimer hinuntertragen, rechtzeitig Nachschub an Toilettenpapier besorgen, pünktlich morgens aufstehen, Vermögen aufbauen für noch schlechtere Zeiten, regelmäßig den Zahnarzt besuchen, Blumen gießen, seiner Freundin Schnitt-Blumen schenken - natürlich gezielt zu den passenden, wichtige Anlässen - aber auch einfach nur mal so. Er würde seinen kleinen Fuhrpark in Ordnung bringen: Beim Auto den Rückspiegel reparieren lassen, das Datum jährte sich in wenigen Wochen und den Hinterreifen seines Fahrrades endlich flicken. Er würde sich eine neue Klobürste kaufen. Ja, eine brandneue Klobürste aus dem Fachgeschäft. Eine neue Klobürste war ein prima Symbol für einen Neuanfang. Die Klobürste war der Gendarm unter den Utensilien im Bad. Alle anderen Gegenstände hielten respektvollen Abstand zu diesem Hygiene-Polizist fürs Grobe. Die Klobürste machte die Drecksarbeit, sie war von Natur aus und aus beruflichen Gründen nicht ganz sauber. Man nahm ihre Dienste nur dann in Anspruch, wenn es wirklich unumgänglich war. Mit einer neuen Bürste ließ man den alten Schmutz hinter sich zurück.
Er würde die unvernünftigen Dinge und Angewohnheiten, die seine Jugend so produziert hatte, mit viel Energie abstellen. Er würde es wenigstens versuchen.
Aber heute noch nicht. Nein, heute noch nicht. Roller suchte nach einer vernünftigen Ausrede, um die freudlose Mission vom Erwachsenwerden wenigstens noch um einen Tag zu verschieben. Er hatte heute viel zu tun. Das stand zweifellos fest. Das war Donnerstags eigentlich immer so. Da konnte er sich ja nicht auf zwei Dinge gleichzeitig konzentrieren? Er beschloss, für heute so eine Art freiwilligen Testlauf zu starten. Erst mal nur so, so für ein paar Stunden. Er duschte, brachte seine Haare in Form und kramte die Zeitung aus dem Zeitungsständer. Der Wetterbericht meldete "unbeständig".
Dann trat Roller auf den Flur und ging zum Fahrstuhl. Die Gondel kam. Roller drückte Erdgeschoss. Als im siebenten Stock eine ältere Frau dazustieg, merkte er, dass es wohl unpassend war, in voller Lautstärke Walkman zu hören. Er schaltete das Gerät aus, dann sagte er ernst und mit möglichst fester Stimme: "Guten Tag". "Guten Tag", antwortete die Frau freundlich. Sie trug einen dicken, wetterfesten Mantel. "Es ist schon richtig frisch draußen", sagte sie. Roller spürte, er war hier gerade ganz tief in der Welt der Erwachsenen. Die Dynamik des Augenblicks trieb ihn nach vorne - er bemühte sich um eine ausführlich-erwachsene Antwort. Er sagte wichtig: "Ja, das Wetter ist heute wirklich unbeständig. Es wird jetzt Herbst. Der lässt sich einfach nicht mehr aufhalten. Wie jedes Jahr, man kann das ja förmlich riechen. Aber dieser Herbst scheint mir ein ganz besonderer zu werden. So wie damals, 1981. Können sie sich erinnern." Sie waren jetzt unten angekommen. Ja, die Frau konnte sich an diesen Herbst erinnern. "Auf Wiedersehen", sagte Roller steif.
So einfach war das. Es machte zwar keinen besonders großen Spaß, über das Wetter zu reden. Vor allem nicht, wenn im Walkman Klassemusik wummerte. Aber na und? Roller beschlich eine Ahnung, dass Erwachsenwerden auch viel mit dem Wetter zu tun haben könnte. Das Leben? Vier Jahreszeiten? Frühling ? Kindheit, Sommer ? Jugend, Erwachsenen-Alter ? Herbst. Herbst? Der Herbst war Rollers Lieblingsjahreszeit. Der Vergleich gefiel ihm gar nicht schlecht. Es hätte ungünstigere Jahreszeiten geben können für die ersten Schritte in der Erwachsenen-Klima-Zone. Der Herbst verströmte eine gewisse Gelassenheit, ohne langweilig zu sein. Der Herbst machte sanft klar, wo die Dinge hingehören. Man konnte nicht mehr im T-Shirt auf die Straße gehen. Aber der Herbst schimpfte nicht, er schickte durch eine ordentliche Erkältung die Nachricht zur Eigenverantwortung. Er hatte interessante Farben, und gelegentlich bescherte er sogar noch ein paar recht schöne Tage.
Heute nicht. Heute war zum ersten mal richtiges Sauwetter. Deshalb beschloss Roller, mit dem Auto zur Mensa zu fahren. Nein doch nicht, dachte er. Denn das war umweltschädlich und kostete Benzin: Es war einfach unvernünftig. Die Bewegung würde ihm außerdem gut tun. Als Roller mit dem Fahrrad um die Ecke des Wohnblocks kurvte, blies ihm eine kühle Herbst-Wind-Böe ins Gesicht. Das Rad schlingerte über den Gehweg. Da kam ihm eine vage Ahnung: auch der Herbst besaß so seine Tücken. Da war die unjugendliche Tugend vom Durchhalten gefragt.

 
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Hallo Hendrik,

kein schlechter Text. Mein Gefühl war: Der Text kommt langsam ins Rollen, ist in der Mitte recht gut, und fällt ganz am Schluss wieder etwas ab.

Am Anfang dachte ich: Der Hendrik im Text ist wieder mal so ein Oblomow-Typ, den kenn ich schon, der hat zu nix Lust und deswegen wird in der Geschichte nicht viel passieren. (Bemerkung am Rande: Außerdem passt hier m.E. sprachlich und logisch einiges nicht. Kaffeesatz, der vom Tisch poltert? Und dann wieder schwappt? Den man mit einem Besen vom Teppich wegkriegen kann? Kann man Kaffeesatz mit einem Schrubber von einem Teppichboden wegkriegen? Wenn mir das passiert wär, ich würde es eher mit Küchenpapier probieren oder so. Das find ich alles nicht besonders überzeugend.)

Interessant wurde es für mich, als die Vorsätze kamen, da schreibst du schön konkret und die Reihung bringt Tempo rein:

Er würde seinen Sohn pathetisch über die Unwägbarkeiten des Lebens unterrichten, Nutella nicht mehr mit dem Löffel essen, seine Artikel nicht mehr bis auf den letzten Termin aufschieben, den Wetterbericht anschauen und sich auf das Wetter am nächsten Tag einstellen, die passende Wäsche herauslegen.... Er würde nicht mehr bei Rot mit dem Fahrrad über die Ampel fahren.
Hier würde ich mal über die Klammersätze nachdenken, die verlangsamen es wieder - für mein Gefühl. Aber diese Stellen fand ich gut.

Als es dann hieß: Heute noch nicht, war ich wieder etwas gelangweilt. Das würd ich da nicht hinschreiben, damit die Spannung bis zum Ende bleibt.

Im Aufzug ist er dann ja ganz artig, der Hendrik. Redet übers Wetter, den Herbst. Lustig auch die ironische Passage: "gelegentlich beschert er sogar noch ein paar recht schöne Tage."

Aber der letzte Absatz? Dass der Herbst (oder das Erwachsensein) seine Tücken hat, war mir nach dem öden Gespräch im Aufzug schon klar.

Die Frage, die ich mir ab der guten Vorsatz-Passage gestellt habe, war: Wann scheitert Hendrik mit seinen guten (guten?) Vorsätzen oder scheitert er eventuell doch nicht?

Ich finde, du gibst keine Antwort auf diese Frage. Mein Vorschlag: Anfang kürzen, gleich mit den Vorsätzen anfangen, damit sich der Leser gleich die richtige Frage stellt: Wird er das durchziehen? Darauf eine plausible Antwort finden und diese bis zum Schluss rauszögern.

Grüße,
Stefan

 

Hallo Leixoletti,

danke für Deine Mühe. Sorry, dasss ich erst jetzt zum antworten komme, war viel unterwegs. Gebe Dir in deinen Kritikpunkten recht, muss aber dazu anmerken, dass es nur der erste Teil ist, später soll dann auch die Antwort auf die Fragen gegeben werden. Es ändert aber nichts an einer gewissen Unlogik z. B. "poltern" und "schwappen". Werde mich gleich mal dransetzen. Noch mal vielen Dank.

Liebe Grüße,
Roller

 

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