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Dibbuk

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21.05.2004
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Dibbuk

* Dibbuk me Ruach ra:.
hebr. für Umklammerung durch den bösen Geist. Alte Vorstellung der Besessenheit durch einen Dämon oder ruhelosem Totengeist. (A. d. Ü.)

*Ba'al Shem:
hebr für Herr der Zeremonie, entspricht dem katholischen Exorzisten. (A. d. Ü)


Jetzt
(bezieht sich auf November 1935)

Der alte Mann lag im Sterben, sein keuchender Atem erfüllte das Zimmer und übertönte manchmal sogar das rhythmische Piepsen der Herzlungenmaschine. Seine mageren Hände wanderten ziellos über die weiße Fläche des Deckbettes. In dem Delirium, das von den Morphinen verursacht wurde, die wir ihm gegeben hatten, begann er zu reden. Seine Worte waren undeutlich und fast nicht zu verstehen. Inzwischen war der Rabbi eingetreten und begann die Psalmen zu singen. Eine Stunde später war der alte Mann, der 114 Jahre gelebt hatte, tot. Zwei Monate später teilte mir ein Anwalt mit, ich wäre der Erbe des Besitzes von Nathan Wiesengrund geworden. Es war kein Vermögen vorhanden, sondern nur eine alte Kiste und die Habseligkeiten des Alten. Es gab keinen Schlüssel, so dass ich das alte Schloss, auf dem eine mehr als achtzig Jahre alte Zollmarke klebte, aufbrechen musste. Es dauerte einige Zeit, denn der massive Stahl gab nicht nach. Endlich sprang der Deckel auf und aus der Kiste, die seit mehr als acht Jahrzehnten nicht geöffnet worden war, drang ein schwacher Geruch nach altem Moder. Der Inhalt war, da die Kiste faktische luftdicht versiegelt gewesen war zwar vergilbt, aber noch vollständig erhalten. Zu oberst lag ein langes weißes Gewand, dessen Schnitt einwenig an ein altes Nachthemd erinnerte, allerdings wies der vergilbte Spitzenbesatz an den Ärmeln und dem Halsausschnitt auf einen anderen, dunkleren Verwendungszweck hin. Es war ein jüdisches Totenhemd. Unter dem zusammengefalteten Gewand lag ein langes, gewundenes Widderhorn, welches ein silbernes Mundstück aufwies. Es war ein, Shofar, ein Zeremonialhorn. Darunter in Leinen gehüllt, lag ein Stapel alter Papiere, die in jiddischer Sprache geschrieben waren.

Ich gebe hiermit eine vollständige Übersetzung dieser hochinteressanten Dokumente.

18.02.1842

Shalom Nathan,

Wie geht es Dir, dort in der Stadt? Ich jedenfalls beneide Dich glühend tun die Chance, an der Universität zu studieren. Hier im Städtl läuft alles seinen gewohnten Gang. Nur Reb Mendel hat sich wieder mit Deinem Taten gestritten. Du weißt ja, wie die beiden sind. Vor allem seit dein Tate Dich nach Frankfurt geschickt hat, statt Dich hier zum Rebbe ausbilden zu lassen, hat Reb Mendel eine….

(die nächsten sieben Zeilen sind unleserlich)

Shoshana hat mich immer noch nicht gefragt, ob ich….

(die nächsten sieben Zeilen sind unleserlich)

Langsam aber sicher scheint sie ihren Taten den Gedanken an unsere Heirat….

(unleserlich)

Jedenfalls werde ich mit Jehuda über den Kauf des Häuschens reden.

Es segne Dich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs

Dein Moishe

27.03.1842

Nathan,

Verzeih mir, dass ich so unvermittelt zum Kern der Sache komme. Reb Mendel weigert sich, uns seinen Segen zu geben. Er weiß nicht, dass Shoshana schwanger ist. Was sollen wir tun, 0 Herr der Heerscharen, ich weiß mir keinen Rat mehr. Wir haben alle gegen uns, selbst der….

(unleserlich, 15 Zeilen)

Keine Hilfe bekomme.

Moishe

04.04.1842

Nathan,

Alles ist zu Ende, der Tate hat mich hinausgeworfen, Reb Mendel will mich vor das Rabbinatsgericht bringen. Ich will nicht mehr leben, ich habe Shoshana ins Verderben gestürzt.

Bete Kadish für mich

Moishe

06.04.1842

Shalom mein Sohn,

Ich bitte Dich, komm sofort nach Hause zurück. Moishe hat sich selbst entleibt, Shoshana hat das Kind verloren und ist in tiefe Depression gefallen.

Dein Tate
Möge Gott Dich segnen.

12.04.1842
Ich habe beschlossen, ein Tagebuch zu führen, um alles festzuhalten, was ich über meine unglücklichen Freunde in Erfahrung bringen kann. Gestern habe ich Frankfurt verlassen und habe mich auf den Weg nach Galizien gemacht.


16.04.1842

Kaum hatte ich die Grenze überquert, wurde ich wieder zum Bürger zweiter Klasse. Es ist hart, Frankfurt zu verlassen und in die drangvolle Enge Galiziens zurückzukehren.

19.04.1842
Es traf mich wie ein Schlag. Das ganze Städtl ist von einer dumpfen Angst befallen. Sie haben Moishe außerhalb des Friedhofs verscharrt und ihm den Trost der Thora vorenthalten. Sie wollen mich nicht zu Shoshana lassen. Reb Mendel ist nach Krakau gefahren und hat jeglichen Kontakt zu seiner Tochter verboten.

20.04.1842
Ich war heimlich in den Hof des Hauses geschlichen, das Fenster war offen. Ich habe sie schreien gehört, und was das für Schreie waren. Den Rest der Nacht verbrachte in an meinem Schreibtisch und starrte die Petroleumlampe an. Ich konnte nicht schlafen, nicht nach diesen Schreien.

21.04.1842
Nichts ist passiert. Ich habe den Verdacht, dass alle auf etwas Bestimmtes warten.

22.04.1842
Diese Warterei zermürbt mich langsam.

23.04.1842
Heute ist Reb Mendel zurückgekehrt. Er wirkte abgehärmt und gramgebeugt. In seiner Begleitung war ein alter Rebbe, dessen Augen von tiefer Weisheit erfüllt waren. Er suchte zehn Männer der Gemeinde aus, ich gehörte zu ihnen. Reb Mendel wollte protestieren, doch der Alte schnitt ihm das Wort ab. Er führte uns in die Synagoge und hieß uns beten. Er sagte er sei der Ba'al Shem und hier, um den
Dibbuk me Ruach ra *zu brechen. Wir erschauerten und begannen mit größter Inbrunst zu beten.


24.04.1842
Nachdem wir einen ganzen Tag gebetet und gefastet hatten, legten wir weisse Totenhemden an und bekamen je ein Shofar. Dann versammelten wir uns im Zimmer Shoshanas. Sie lag auf dem Bett und war so bleich wie eine Tote. Das schwarze Haar lag wie ein zerrissenes Tuch auf dem weißen Kissen. Ihre Arme und Beine waren an die Bettpfosten gefesselt. Der Ba'al Shem begann das Shama' Jisroel und Shoshana öffnete die Augen. Aber diese Augen waren nicht braun sondern blau. Es waren Moishes Augen. Sie sprach mit seiner Stimme und flehte um Erbarmen, Er sprach von seiner Liebe zu ihr und weigerte sich, sie zu verlassen. Der Ba'al Shem beschwor ihn bei seiner Liebe zu ihr, ihre Seele freizugeben und ihren Körper zu verlassen. Er schrie auf und begann zu weinen. Dann schloss er ihre Augen. Der Ba'al Shem wies ihm den Weg, und ein Zittern durchlief ihren Leib. Sie schlug die Augen wieder auf und ich sah, dass ihre Iris wieder braun war. Es waren wieder ihre eigenen Augen, Moishe war verschwunden. Wir banden sie los und hielten Wache an ihrem Bett, während sie friedlich einschlief.

25.04.1842
Hilf, o Herr der Heerscharen, das Grauen ist zurückgekehrt. Shoshana ist…..
(die folgenden elf Zeilen sind unleserlich, nur der Hinweis ,auf rot leuchtende Augen ist etwas deutlicher, so als hätte der Autor diese Worte mehr gemalt als geschrieben.)

26.04.1842
Der Dämon ist in ihren Leib gefahren und zwingt sie zu gotteslästerlichen Taten. Es ist grauenhaft. Sie hat eine Wolke Fliegen ausgespieen, die durch das Städtl geflogen sind und das Vieh getötet haben. Der Ba'al Shem verbrannte Räucherwerk, um die Fliegen zu vertreiben. Wir bliesen Shofar um die Lästerungen und Zauberworte von Ba'al Zebul, dem Herrn der Fliegen, die Kraft zu nehmen. Es ist uns klar geworden, dass Moishe nur Besitz von ihrem Körper ergriffen hat, um den Dämon zu blockieren.

27.04.1842
Es ist getan, der Ba'al Shem hat dem Ba'al Zebul in den Sheol zurück gezwungen. Es war grauenhaft, und nichts in der Welt wird mich jemals dazu bringen, es zu beschreiben.

28.04.1842
Es ist furchtbar. Ich werde Europa verlassen nach Amerika gehen, denn in dieser Nacht ist Shoshana gestorben. Ich allein hielt Wache an ihrem Bett, als es geschah. Etwas löste sich aus ihren, Augen, etwas, das wie ein dunkler Blitz wirkte und drang in mich ein.

15.05.1842
Ich sitze auf dem Deck des Schiffes, das mich in die neue Welt bringen wird. Etwas ist in mir, und es versucht, mit mir Verbindung aufzunehmen. Ich spüre eine schier unerschöpfliche Kraft in meinem Körper, die nicht menschlich zu sein scheint. Bin ich verflucht? Trage ich den Keim des Bösen in mir? Ich werde die Dinge, die daran erinnern in eine Kiste schließen und hoffen, dass sie eines Tages zur Warnung dienen.

Jetzt (Nov ,35)

Damit endeten die Aufzeichnungen. Ich aber dachte an den Lichtreflex, den ich kurz vor dem Tod des Alten zu sehen glaubte. Danach hatte ich tagelang Kopfschmerzen. Aber in letzter Zeit scheine ich über unerschöpfliche Kraftreserven zu verfügen.


Bernhard Morgenthal für SK.

 

Nochmal hallo Bernie

Da haben wir ja schon deine zweite Geschichte, und ja: sie hat mir besser gefallen. :D
Stil und Ton waren wie gehabt einwandfrei. Doch diesmal bringst du uns gleizeitig auch etwas die jüdische Mystik näher. Wir erfahren interessantes über Begriffe und Rituale, die diese Geschichte allemal lesenwert machen. Der überspringende Lichtblitz ist ein altbekanntes Syspensemittel (zumindest gab es ihn schon in anderen Formen) und die Story bleibt zwar eine verkürzte Variante des "Exzorzisten", aber in gewisser Weise ist sie neu.

Ich fands sie auf jeden Fall interessant, schon allein wegen der Mühe der Recherche, die du dir sicherlich machen musstest.


mfg Hagen

Ach so, hier noch ein paar Fehlerchen:

versiegelt gewesen war zwar vergilbt
fehlendes Komma nach "war"
Es war ein, Shofar,
Komma zuviel nach "ein"
Dich glühend tun die Chance
tun -> um

 

Danke Hagen, Bernie hätte sich sehr über Deinen Kommentar gefreut.Ich habe die Geschichte in seinen Aufzeichnungen gefunden und leider nicht alle Fehler richtig erfasst.
Liebe Grüße
Anna, Bernies Mutter

 

Hallo Anna,

ich finde es mutig und lobenswert, die Geschichte deines Sohnes hier bei kg.de zu posten. So manch guter Text schlummert vielleicht irgendwo tief verborgen in einer Schublade und bleibt unentdeckt; Autoren brauchen aber nun mal Feedback. :)

"Dibbuk" halte ich für eine recht gelungene Kurzgeschichte, der Inhalt kam mit Überzeugungskraft bei mir an. Gleichzeitig konnte auch ich etwas näher in die jüdische Mystik eintauchen, Recherche war sicherlich nötig. Ich kann mich Hagens Meinung also anschließen.

Nachdem ich den ersten und äußerst anschaulich beschriebenen Abschnitt gelesen habe, war ich sehr neugierig auf die übersetzten Aufzeichnungen, und sie waren wirklich interessant. Dass sie unvollständig waren, störte mich dabei nicht. Durch das hohe Alter des Papieres kann es gut möglich sein, dass man nicht mehr alles entziffern kann, und soweit genügend erklärende Hinweise aus dem leserlichen Textabschnitten vorhanden sind (was meiner Meinung nach der Fall ist), kann man sich den Rest ja selbst dazudenken.

Der Text hinterlässt eine bedrückenden und traurigen Eindruck auf mich, Moishe muss sich – ebenso wie Shosana – ziemlich elend gefühlt haben, als aus der Hochzeit nichts wurde und Shosana ihr Kind verloren hat.

Die Idee, dass ein Dämon in ihr schlummert, und auch ein derartiges, horrendes Ende, bei dem das Böse noch immer zu existieren und "nicht totzukriegen" scheint, mag nicht neu sein, tut der Geschichte meines Erachtens aber keinen Abbruch.

Hab den sich zu lesen lohnenden Text gerne gelesen. :thumbsup:

Viele Grüße,

Michael :)

 

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