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Die Bogenbrücke
Die Bogenbrücke
Die Bogenbrücke
Fast ein Märchen
Der alltägliche Weg zur Arbeit führte Herrn Krüger über eine breite, ebene Fußgängerbrücke. Obwohl sie täglich viele Seelen über sich ergehen lassen musste, sie selbst blieb seelenlos, denn sie war aus Beton. Es war - wie gesagt- ein ganz normaler, langweiliger Bau. Irgendwann hatte die obere Baubehörde versucht, ihr etwas Bedeutung durch einen Namen zu geben, aber bald wieder das auf den Bauherrn verweisende Geschnörkel abgenommen. Es hatte niemand interessiert. Mitunter lockerte die Eintönigkeit ein fliegender Händler auf. Ihm sah man den Künstler schon von der Weite an. Aber auch er musste letztendlich von irdischen Gütern leben. Aus diesem Grunde bot er in Schutzfolie eingehüllte Kunst, klassische und auch moderne, feil. Er warf die Exponate einfach kreuz und quer auf den Boden, achtlos verstreut lagen diese zwischen den Füßen der vorbeihastenden Passanten. An einem solchen Tag pflegte es nie zu regnen und Herr Krüger nahm im hellen Sonnenschein gelegentlich gern das eine oder andere Bild in Augenschein. Aber die Unordnung störte ihn. Das Durcheinander stand im krassen Widerspruch zu der strengen Organisation auf seinem Schreibpult. Er stellte dann jedes Mal fest,
“Niemand kauft ihm ein Bild ab! Ja- ja - - warum legt er auch nicht die Bilder ordentlich aus.“
Mit diesen und anderen Selbstgesprächen musterte er die Ware, um anschließend den Dienst anzutreten,
“Manche Bilder“, - so sprach er halblaut vor sich hin- “verführen ja gerade zu einer ganz liederlichen Lebensweise.“
Letztere Gedanken äußerte er, wenn er auf einem dieser Bilder den nackten Rücken einer schönen Badenden betrachtete, die ihm dazu noch verführerisch über ihre Schulter freundlich anlächelte. Regelmäßig schaute er sie sich an und vergewisserte sich unauffällig, dass ihn niemand dabei sah. Doch der Verkäufer las immer in einer Zeitung und blickte nie auf. Eines Tages hatte Herr Krüger gute Laune und beschloss in einer plötzlich aufwallenden Großzügigkeit, dem Brückenverkäufer endlich das Bild der Dame abzukaufen. Doch ausgerechnet in dieser angeregten Kaufstimmung glänzte der Zeitungsleser durch eine kurze Abwesenheit. Auf seinem Stuhl prangte lediglich ein Schild:
- Komme gleich wieder. Geld - bitte in den Hut werfen.
Aber Herr Krüger wollte jetzt kein Geld in den Hut werfen, womöglich hätte jemand das Geld herausgenommen und der Künstler hätte bei der Rückkehr denken müssen, da hat jemand gerade dieses Bild ohne Bezahlung mitgenommen. Der Gedanke, dass er die Ursache für eine solche Verdächtigung sein könnte, kam ihm unerträglich vor und wer weiß, vielleicht hatte der Händler unbemerkt ihn vorher über den Zeitungsrand beobachtet? So wartete er geduldig auf die Rückkehr des Verkäufers. Inzwischen betrachtete er aufmerksam alle Bilder. Ein Bild mit einer Gartenlandschaft und einer steil gekrümmten Bogenbrücke hatte gerade seine Blicke auf sich gelenkt, da sprach ihn jemand von hinten an.
“Wenn Du möchtest, nimm es ruhig mit, hängst Du es auf, hast Du einen Wunsch danach frei.“
Herr Krüger stellte mit Verwunderung fest, dass er geduzt wurde, aber das schien wohl irgendwie mit der Darstellung dieser Seufzerbrücke zusammen zu hängen. Im Bild war nur die Hälfte der Brücke zu sehen. Wo der andere Brückenbogen endete, blieb dem Auge verborgen. Über eine so lustige Brücke, die wie eine fauchende Katze einen großen Buckel über einen Fluss schlug, würde es Spaß machen, darüber zu gehen, dachte noch Herr Krüger in sich hinein.
“Es ist praktisch unverkäuflich für mich, alle wollen keine halben Sachen, ob es sich nun um Rücken oder Brücken handelt, “
scherzte der Kunsthändler und drückte das gute Stück dem Betrachter einfach in die Hand. Die Bogenbrücke trug eine Inschrift:
Gehst Du über meinen Bogen- begleiten dich auf und ab die Lebenswogen.
Etwas unsicher, da er ja nun nicht seinen festen Vorsatz des Kaufes verwirklicht hatte und zudem nichts geschenkt haben wollte, dankte er dem Spender und schlich sich mit der Rolle unter dem Arm davon. Gleich am Abend hängte er das Bild gegenüber seinem Schaukelstuhl auf. Aus dem Stuhl betrachtete er es mit einer leichten linken und rechten Kopfneigung, ob es nun wirklich akkurat gerade hing. Zufrieden mit seinem Werk wiederholte er schließlich seinen Wunsch auf der Brücke, einmal in seinem Leben über eine solch harmonisch gebogene Brücke gehen zu können. Das hätte er aber nicht so laut aussprechen sollen, denn schon ging sein Wunsch- wie vorausgesagt - in Erfüllung. Noch mit dem Hammer in der Hand und dem Ersatznagel zwischen den Zähnen stand er verdattert auf der Brücke. Verblüfft sah er von der Brücke in seine eigene Stube hinein und seine Augen folgten mechanisch dem geisterhaft sanft hin und her wippenden Schaukelstuhl. Er wandte sich dem anderen Ende des Bogens zu. Das kunstvoll gebaute Holzgerüst überspannte ein stehendes Gewässer in einem idyllisch sich dahinziehenden Garten. Die Szene atmete eine geradezu gespenstische Stille. Selbst seine zaghaften Schritte auf dem Holz der Brücke klangen gedämpft wie auf einem weichen Rasenteppich. Er überquerte nun die Brücke in ihrer ganzen Länge und da sie am Ende nicht den Boden ebenerdig berührte, sprang er eine Stufe hinunter und dachte noch, bei einem solchen Aufprall muss ich jetzt aufwachen. Doch nein - er stand jetzt auf dem Gartenweg und konnte den Verlauf des Weges weiter verfolgen, der sich leicht schlängelnd im dichten Blätterwald mit der herrlichen Blütenpracht an der nächsten Biegung verlor. Dem Auge bot sich die Landschaft als eine natürliche Fortsetzung des Gartens seines aufgehängten Bildes dar. Langsam entglitt ihm der Hammer aus den Händen, und er spuckte den immer noch festgehaltenen Nagel aus. Gewöhnlich brauchte er diesen, da er den ersten Nagel jedes Mal krumm und schief schlug. Er ging vorsichtig einen Schritt weiter und dann noch einen. Plötzlich bemerkte er, dass ihm Kräfte wuchsen und er beschwingter sich fortbewegen konnte. Mit dem Abstand von der Brücke wurde er zudem jünger. Noch nicht konnte er feststellen, dass auch die Welt um ihn herum in die Vergangenheit mitlief. Drehte er sich um und rannte ein paar Schritte zurück, wurde er sofort wieder älter, mürrischer und die Kräfte verließen ihn rascher als sie in der anderen Richtung zunahmen. Er wiederholte sorgfältig das sonderbare Spiel. Es blieb aber alles so wie vorher. Vergeblich versuchte er sich jetzt diesem Phänomen zu entziehen. Die Bogenbrücke des Künstlers war nichts anderes als eine ganz raffiniert ausgeklügelte Zeitfalle, die nicht nur die Zeit sondern auch seine Kräfte und im gewissen Rahmen seine Größe beeinflussen konnte. Wollte er in einem stabilen Zustand verharren, durfte er die Entfernung zur Brücke nicht verändern. Inzwischen hatte er aber schon eine derartig große Weglänge zurückgelegt, dass eine Umkehr alle seine Kräfte aufbrauchen würde, bevor er je das Brückengeländer hätte ergreifen können. Es gab also kein zurück mehr für ihn. Mit einem etwas schwammigen Gefühl in der Magengegend fügte er sich in sein Schicksal und ging weiter. Die Grenze der Gartenlandschaft war bald erreicht, und so sah er in ein Tal mit einer Stadt. Die Zeit lag inzwischen so weit zurück, dass er das Mittelalter erreicht hatte. Wäre er noch weitergegangen, irgendwann müsste er dann in oder lange vor der Steinzeit landen und schließlich so groß und stark wie ein Dinosaurier werden. Der Tag neigte sich aber jetzt dem Ende entgegen und beendete zunächst seine Wanderung. Wenigstens der Sonnenuntergang und damit die Tageslänge bleiben unverändert, tröstete sich Herr Krüger. Da jegliche Veränderung- wie gesagt- sofort aufhörte, wenn er die Entfernung zur Brücke nicht mehr vergrößerte, wählte er einen Querweg zu der Stadt. Die Torwachen musterten den in einem komischen Aufzug mit viel zu kurzen Ärmeln und deshalb etwas dümmlich wirkenden, jedoch voller Kraft strotzenden Naturburschen. Der Hauptmann sah in ihm jedoch gleich einen billig anzuwerbenden Kandidaten für seine Stadtwache. Er zwirbelte also seinen Schnauzbart in eine respekterheischende Position hoch, das hieß mit anderen Worten, er dachte nach. Dann deutete er auf die schwere Lanze in der Torstube hin und ermunterte den Neuankömmling, diese einmal anzuheben. Was blieb dem so Aufgeforderten jetzt übrig, er brauchte ja schließlich ein Nachtquartier. Es war eine lange Lanze, die drei Krieger gleichzeitig zu tragen hatten, um einen Panzerreiter aus dem Sattel zu heben. Herr Krüger nahm die Lanze, hielt diese wie ein Bleistift zwischen Zeige- und Mittelfinger, warf sie in die Höhe und fing sie spielend mit einer Hand wieder auf. Dann zerbrach er sie mit ungeheuerem Vergnügen in zwei Stücke. In seinem Büro hatte Herr Krüger nie einen Bleistift bisher zerbrochen. Dem Hauptmann klappte der Unterkiefer herunter. Das hieß wiederum, keine weiteren Kraftproben ausdenken. Am Ende käme der Neue vielleicht noch auf dumme Gedanken.
In ein Wachregiment eintreten wollte Herr Krüger auf keinen Fall. Auch wären seine Kräfte bei einem Ritt in die Richtung der Zeitbrücke schnell geschwunden. Lange konnte eine solche Eigenschaft ja nicht verborgen bleiben. Also verließ er heimlich die Stadt. Die Nachbarstadt brachte zunächst auch keine Lösung. Die Stadt war schon so weit von der Zeitbrücke entfernt, dass er jetzt mühelos das schwere Stadttor mit dem Daumen hätte aufdrücken können. Diesmal gelang es ihm, unbemerkt an der Torwache hinter einem Leiterwagen mit Stroh in die Stadt zu gelangen. Herr Krüger hatte darauf ein Schild bemerkt, das ihn den Weg zu einem Stadtweisen wies. Es gab früher in jeder größeren Stadt einen solchen. Wie gesagt, früher eben, heutzutage sind diese längst ausgestorben. Er klagte also dem allseits verehrten Meister sein Missgeschick. Der so Angesprochene war durchaus nicht überrascht über seine Geschichte und hatte Mitleid mit ihm, denn er kannte das seltsame Zeitsyndrom. Nur seine schlauen Folianten sagten nichts darüber aus, wie diese Zeitachse ohne Komplikationen wieder umzukehren sei. Der Alte versprach ihm aber, darüber nachzudenken. Also verdingte sich Herr Krüger inzwischen als Holzhacker bei einem Wirt des Gasthauses am Markt. Schon nach einem Tag hatte er das ganze Winterholz für den Wirt zerkleinert. Jedoch bevor er nun den ganzen Stadtwald abholzte, suchte ihm rechtzeitig der Gelehrte in der Schankstube auf. Der Wirt hatte ihn inzwischen alkoholisieren müssen, da keine Arbeit mehr für ihn anlag. Herr Krüger begann nämlich schon aus Langeweile die Stadtmauer abzubauen, weil er meinte, die sei nun nicht mehr notwendig. Er, Herr Krüger, sei ja nun da und werde mit allen Feinden schon fertig werden. Glücklicherweise erinnerte sich just in diesem Moment der betagte Denker an ein schon vergessenes Bild im Stadtarchiv, das genau dem vom Holzhacker beschriebenen Bild entsprach. Als Krüger das Stichwort Bild mit Brücke hörte, wurde er sofort nüchtern und eilte auf Einladung des Gedankensuchers schnurstracks zu dem alten Turm, in dem das Archiv untergebracht war. Seit hunderten von Jahren hatte man Aufzuhebendes lieblos in den Turm geschmissen. Hin und wieder musste der Turm dazu noch als Schuldturm herhalten. Vielleicht lagen auch noch ganze Gerippe von Schuldnern, die man einfach vergessen hatte, auch noch darunter. Aber für eine genaue Bestandsaufnahme war jetzt keine Zeit. Er räumte und räumte die Gerätschaften von rechts nach links oder warf sie gleich von der Brüstung des Turms hinunter. Hinter vielem Gerümpel fanden sie endlich ein vom Zahn der Zeit sehr mitgenommenes Gemälde. Es zeigte exakt die andere Hälfte der Bogenbrücke von dem Bild des Herrn Krüger. Nach der ersten Freude, strich sich Krügers Turmbegleiter nachdenklich den langen weißen Bart, denn er wusste nichts mit dem Bild anzufangen. Wie sollte er nun den Kraftmenschen in dieses Bild verbannen, um die Stadt vor weiteren Schaden zu bewahren? Herr Krüger wischte erfreut über ein solches Wiedersehen lustig mit dem Ärmel über das staubige Bild. Als ordentlich erzogener Mensch duldete er auch im Mittelalter keinen Staub. Und was den Schaden betrifft, es galt schließlich Ordnung in diese Stadt zu bringen. Mit der Überzeugungsarbeit gab es eben Schwierigkeiten. Unter der Staubschicht kam eine unleserliche Inschrift zu Tage. Die Worte entstammten offenbar aus einer noch weiter zurückliegenden Zeit. Der Begleiter schaute eine ganze Weile gespannt auf die Zeilen, dann rief er in dem Gewölbe aus, “Heureka, ich hab’s“. Er konnte es entziffern. Wer sonst? Der geheimnisvolle Inhalt lautete,
wenn Du die Inschrift auf meiner anderen Seite errätst, kannst Du über meinen Bogen gehen.
Herr Krüger stammelte jetzt vergeblich die Worte, die er auf seinem Bild gelesen hatte. Er verwechselte dauernd Wogen mit Bogen. Bis der Alte, der sorgfältig die stoßweise vorgetragenen Worte gehört hatte und diese sich richtig zusammensetzte. Anschließend half er Herrn Krüger auf die Sprünge. Schweiß stand den beiden auf der Stirn als endlich der Stadtunhold die Reihenfolge nicht mehr verwechselte. Es reichte nun nicht einmal die Zeit für einen Abschied oder einen Dank dem Meister auszudrücken, denn Schwupps - schon stand er wieder auf der Zeitbogenbrücke. Jetzt durfte er nur nicht in die falsche Richtung über diese gehen. Nach einigem hin und her, klappte es auch hier und Herr Krüger traf vollkommen nüchtern vor seinem Schaukelstuhl ein. Da er nur einen Wunsch damals gewährt bekam, konnte er die Zeitreise nicht wiederholen und deshalb nahm ihm niemand seine Geschichte später ab.
Ende