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Die Brüder an der Wand

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21.04.2002
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Die Brüder an der Wand

Es war ein schöner, warmer Herbstmorgen. Rahim saß auf der Straße und spielte mit den kleinen Holzfigürchen, die sein Vater ihm geschenkt hatte.
Immer, wenn er aus der Stadt zurückkam - und der Vater kam immer erst sehr spät aus der Stadt zurück - nahm sich der Vater ein Paar Minuten Zeit, um für seinen jüngsten Sohn Spielzeug zu schnitzen.
Einmal war der Vater mit Rahim weit weg gefahren, um in der Al-Aksa-Moschee zu beten. Danach hatte der Vater Rahim die jüdischen Geschäfte gezeigt, und Rahim hatte ganz große Augen gemacht vor Staunen, wie viel schönes Spielzeug es dort zu sehen gab.
Der Vater hatte Rahim gesagt, er könne ihm kein Spielzeug kaufen. Rahim hatte gebettelt und gefleht und konnte den Vater schließlich überreden, ihm eine kleine Zinnfigur zu kaufen. Diese Zinnfigur bewahrte Rahim wie einen Schatz. Er trug sie immer bei sich, spielte jedoch niemals damit und gab sie niemals her.
Vor allem versteckte Rahim die Figur vor seinen Geschwistern. Er hatte fünf ältere Brüder und zwei ältere Schwestern. Sie schliefen alle in einem Raum.
Eigentlich hatte Rahim sieben Brüder und drei Schwestern. Die beiden älttesten Brüder waren jedoch nur auf der Wand im Wohnraum.
Die Brüder an der Wand waren etwas besonderes, sie waren Helfer von Gott. Rahim bewunderte sie, obwohl er nicht genau wußte, was seine Brüder eigentlich für Gott getan hatten. Es mußte etwas sehr Gutes gewesen sein, denn jeder in der Gegend war stolz auf diese Brüder. Rahim hätte sie gerne einmal kennengelernt, aber die Brüder waren an einem besseren Ort, wo Gott sie für ihre Mühen belohnte.
Die Schwester hing nicht an der Wohnzimmerwand, sie stand klein auf einem Tischchen. Die Schwester war keine Helferin Gottes gewesen, Rahim erinnerte sich, das sie sehr dünn war, noch dünner als die übrigen Kinder, die er kannte, und immer sehr müde.
Gestern war sein Onkel zu den Brüdern gegangen. Die Leute trugen sein Bild durch die Straßen, auch Rahim durfte mitgehen. Man feierte den Onkel und schimpfte auf die Juden, denn wegen ihnen mußte der Onkel zu den Brüdern gehen.
Die Juden hatten den Onkel krank gemacht. Rahim hatte gesehen, daß er Flecken auf der Brust gehabt hatte, als man ihn in die Trage gelegt hatte. So trugen sie ihn zu den Brüdern. Rahim konnte nicht den ganzen Weg mitgehen, da der Vater und er von Juden mit Anzügen und Sonnenbrillen abgedrängt wurden. Der Vater hatte Rahim am Arm gepackt und ihn mit sich gezogen, und beide waren ohne sich umzusehen bis nach Hause gerannt.
Rahim blickte die Straße hinunter, über die der Vater und er gestern heimgekommen waren. Man hatte dort wohl noch gefeiert und ein Feuer entzündet, denn dort lag verkohltes Holz auf der Straße.
Ein Geräusch wurde immer lauter und lauter. Rahim war sich sicher, ein Rattern zu hören. Da kamen Leute angerannt, einige von ihnen kannte Rahim, andere meinte er bereits vom sehen zu kennen, viele waren ihm fremd.
Rahim lauschte angestrengt den Geräuschen. Die fremden Leute schrien beim Rennen etwas, das er zuerst nicht verstand. Dann sah er hinter den Leuten eine ratternde grüne Raupe den Berg hinaufkommen. Die ersten Leute waren Rahim inzwischen so nahe, das er sie verstehen konnte: "Rennt, lauf, so schnell ihr könnt", riefen sie sich gegenseitig zu. Die Mutter kam aus dem Haus gestürzt, hinter ihr die Geschwister - der Vater war bereits in die Stadt unterwegs - und riß ihn noch unsanfter mit sich als der Vater am Vortag.
Sie rannten mit den anderen, weit in die Siedlung hinein, bis sich Rahim schon nicht mehr auskannte.
Dann setzten sie sich irgendwo nieder und lauschten auf die schrecklich lauten Geräusche, die zu ihnen herüberdrangen. Einmal kamen Lastwagen die Straße entlang, und alle spielten auf einmal Verstecken, doch die Lastwagenmänner fanden sie nicht.
Als Rahim endlich mit den Geschwistern und der Mutter zurückkehren konnte, fanden sie ihr Haus nicht mehr wieder. Es mußte aber an dieser Stelle gewesen sein, denn Rahims Holzfigürchen klebten plattgewalzt im harten Sandboden. Die Juden hätten das alles gemacht, sagte die Mutter.
Der Vater war inzwischen auch wieder eingetroffen. Er und die Mutter standen Arm in Arm schweigend da, wo das Haus gewesen sein mußte, weil ja die plattgewalzten Holzfigürchen dort waren.
Rahim schlich sich den Hang hinter dem Haus hinunter zu einem kleinen Rinnsal. Hier tastete er nach dem Zinnfigürchen in seiner Tasche. Sie war noch da. Und da wußte Rahim, das trotzdem alles gut werden würde.

 

Hi,

ich kann Kris nur zustimmen. Eine sehr bewegende Geschichte, die sich durch diese Perspektive des Kindes von ähnlich thematisierten Geschichten abhebt.

Das mit dem Geschäft habe ich ebenfalls nicht so ganz nachvollziehen können.

Einen kleinen Fehler habe ich noch gefunden:

Rahim hatte gesehen, das er Flecken auf der Brust gehabt hatte, als man ihn in die Trage gelegt hatte.

hatte gesehen, dass...

Auch änderst du am Ende die Zeit und springst dann wieder zurück in die "alte". Das solltest du dir nochmal anschauen.

Ansonsten schließe ich mich Kris' Worten an: großes Lob.

Gruß, Pandora

 

Freut mich, das die Geschichte euch gefällt.
Sie ist deshalb in dieser Form entstanden, weil ich gemerkt habe, das die ständige Konfrontation mit bewaffneten Krisen in TV und Printmedien mich zunehmend zynisch werden läßt.
Es war eine Art Therapie, sich in ein Kind hineinzuversetzen, das in dieser Welt aufwachsen muß, sie aber nicht richtig verstehen kann.
Dazu ein Zitat aus einem Interview mit Schmidts Regierungssprecher Bölling, der das unmenschliche der Roten Armee-Fraktion mit folgenden Worten umschrieb:
"Das schlimmste war, das sie dachten, für ihre phantastischen Utopien Menschenleben opfern zu dürfen."
Diesen Satz möchte ich allen Machthabern und Ideologen der Welt gerne an den Kopf schmettern, wenn sie wieder Kriege führen, unter denen sie selbst am wenigsten zu Leiden haben.
Das Leiden trägt das Gesicht toter Kinder, des Leidens der Eltern. Das Leiden ist unpolitisch und kennt keine ethnischen oder Staatsgrenzen.

@Pandora: Ups, ein Zeitfehler! So etwas darf eigentlich nicht passieren, gleich überarbeiten... So.
Das mit dem daß hab' ich halt nie richtig gelernt. Gut, ist keine Entschuldigung.

@Kristin: Ich hab die Sache mit dem Geschäft noch einmal überdacht und glaube, das die eigentliche Frage wäre, warum er mit dem Sohn durch ein jüdisches Geschäftsviertel geht. Warum er in dem Laden kauft, könnte man vielleicht damit erklären, das dem Vater unterbewußt bewußt wird, das der Konflikt eigentlich nicht auf dem Rücken des Sohnes ausgetragen werden sollte. Bewußt dachte ich es so, wie ich es dargestellt habe: Er kauft diese eine Figur, um seinem Jüngsten, der vielleicht sein Liebling ist (den ältesten hat er ja nicht mehr), eine Freude zu machen, weil das Spielzeug in den jüdischen Geschäften nun mal schöner ist, weil die Kundschaft mehr Geld besitzt - was jetzt nicht heißen soll "der Jude macht immer Geschäfte", sondern einfach auf die Information zurückgeht, das die Arbeitslosigkeit unter den Palästinensern extrem viel höher liegt als unter jüdischen Israelis - sofern sie nicht zu den russischen Juden gehören, die entweder bei der Armee dienen oder größtenteils ebenfalls arbeitslos sind.

Heavens, so lang wollt' ich eigentlich gar nicht schreiben, nun ist es einmal so. Hoffe, euch gefallen die nächsten Geschichten genauso gut,

Yours sincerely, the MadProf

 

Hey Prof,
beeindruckende Geschichte. Bin froh, dass mal jemand nicht nur die politischen Aspekte des Konfikts aufgezeigt hat, sondern sich auch mal mit den Auswirkungen auf Kinder beschäftigt hat.
Was die Geschichte für mich noch besser gemacht hätte wäre, wenn du deine Geschichte aus beiden Sichtweisen, die eines jüdischen und eines palästinensischen Kindes, geschildert hättest. Wäre das vielleicht Anreiz zu einer neuen Geschichte? Würde vor allem zeigen, dass der Konflikt für beide Seiten schlimm ist, am schlimmsten für die Kinder.
Ansonsten alle Achtung.
Gruß Roman

 

Hi Mad, ich kann mich den anderen nur anschließen, die geschichte ist verdammt gefühlvoll und bewegend, greade weil sie nur aus einer, und zwar unpolitischen Sicht geschrieben ist.
Wie schreibt Kästner in "Konferenz der Tiere"?
"Mir tun nur die Kinder leid"
Die Kinder welche alles , und sei es auch noch so Sinnlos ertragen müssen, selbst wenn sie meistens gar nicht verstehen können um was es geht.

 

Ich glaube nicht, dass die Hereinnahme eines zweiten Kindes die Geschichte politisch gemacht hätte, im Gegenteil. Es hätte die Bedeutung des Kinder hevorgehoben, die Politik in den Hintergrund gerückt. Vielleicht zwei Kinder von denen nicht explizit gesagt wird welches jüdisch und welches palästinensisch ist?!?
Vor allem da es in dem Konflikt nicht nur die Kinder die palästinensischen Kinder trifft, sondern alle, egal welcher Religion sie angehören!!!

 

Genau, ich mag ja alles sein, aber p.c. ist halt nicht mein Ding. Ich neige vielleicht dazu, mich auf die Seite zu stellen, die von der Mehrheit eher negativ gesehen wird. Ich selber wohne nahe am KZ Fuhlsbüttel und bin kein Judenhasser, obwohl ich deren Religion ebenso wenig wie jede andere Religion mag.

 

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