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Die Brüder an der Wand
Es war ein schöner, warmer Herbstmorgen. Rahim saß auf der Straße und spielte mit den kleinen Holzfigürchen, die sein Vater ihm geschenkt hatte.
Immer, wenn er aus der Stadt zurückkam - und der Vater kam immer erst sehr spät aus der Stadt zurück - nahm sich der Vater ein Paar Minuten Zeit, um für seinen jüngsten Sohn Spielzeug zu schnitzen.
Einmal war der Vater mit Rahim weit weg gefahren, um in der Al-Aksa-Moschee zu beten. Danach hatte der Vater Rahim die jüdischen Geschäfte gezeigt, und Rahim hatte ganz große Augen gemacht vor Staunen, wie viel schönes Spielzeug es dort zu sehen gab.
Der Vater hatte Rahim gesagt, er könne ihm kein Spielzeug kaufen. Rahim hatte gebettelt und gefleht und konnte den Vater schließlich überreden, ihm eine kleine Zinnfigur zu kaufen. Diese Zinnfigur bewahrte Rahim wie einen Schatz. Er trug sie immer bei sich, spielte jedoch niemals damit und gab sie niemals her.
Vor allem versteckte Rahim die Figur vor seinen Geschwistern. Er hatte fünf ältere Brüder und zwei ältere Schwestern. Sie schliefen alle in einem Raum.
Eigentlich hatte Rahim sieben Brüder und drei Schwestern. Die beiden älttesten Brüder waren jedoch nur auf der Wand im Wohnraum.
Die Brüder an der Wand waren etwas besonderes, sie waren Helfer von Gott. Rahim bewunderte sie, obwohl er nicht genau wußte, was seine Brüder eigentlich für Gott getan hatten. Es mußte etwas sehr Gutes gewesen sein, denn jeder in der Gegend war stolz auf diese Brüder. Rahim hätte sie gerne einmal kennengelernt, aber die Brüder waren an einem besseren Ort, wo Gott sie für ihre Mühen belohnte.
Die Schwester hing nicht an der Wohnzimmerwand, sie stand klein auf einem Tischchen. Die Schwester war keine Helferin Gottes gewesen, Rahim erinnerte sich, das sie sehr dünn war, noch dünner als die übrigen Kinder, die er kannte, und immer sehr müde.
Gestern war sein Onkel zu den Brüdern gegangen. Die Leute trugen sein Bild durch die Straßen, auch Rahim durfte mitgehen. Man feierte den Onkel und schimpfte auf die Juden, denn wegen ihnen mußte der Onkel zu den Brüdern gehen.
Die Juden hatten den Onkel krank gemacht. Rahim hatte gesehen, daß er Flecken auf der Brust gehabt hatte, als man ihn in die Trage gelegt hatte. So trugen sie ihn zu den Brüdern. Rahim konnte nicht den ganzen Weg mitgehen, da der Vater und er von Juden mit Anzügen und Sonnenbrillen abgedrängt wurden. Der Vater hatte Rahim am Arm gepackt und ihn mit sich gezogen, und beide waren ohne sich umzusehen bis nach Hause gerannt.
Rahim blickte die Straße hinunter, über die der Vater und er gestern heimgekommen waren. Man hatte dort wohl noch gefeiert und ein Feuer entzündet, denn dort lag verkohltes Holz auf der Straße.
Ein Geräusch wurde immer lauter und lauter. Rahim war sich sicher, ein Rattern zu hören. Da kamen Leute angerannt, einige von ihnen kannte Rahim, andere meinte er bereits vom sehen zu kennen, viele waren ihm fremd.
Rahim lauschte angestrengt den Geräuschen. Die fremden Leute schrien beim Rennen etwas, das er zuerst nicht verstand. Dann sah er hinter den Leuten eine ratternde grüne Raupe den Berg hinaufkommen. Die ersten Leute waren Rahim inzwischen so nahe, das er sie verstehen konnte: "Rennt, lauf, so schnell ihr könnt", riefen sie sich gegenseitig zu. Die Mutter kam aus dem Haus gestürzt, hinter ihr die Geschwister - der Vater war bereits in die Stadt unterwegs - und riß ihn noch unsanfter mit sich als der Vater am Vortag.
Sie rannten mit den anderen, weit in die Siedlung hinein, bis sich Rahim schon nicht mehr auskannte.
Dann setzten sie sich irgendwo nieder und lauschten auf die schrecklich lauten Geräusche, die zu ihnen herüberdrangen. Einmal kamen Lastwagen die Straße entlang, und alle spielten auf einmal Verstecken, doch die Lastwagenmänner fanden sie nicht.
Als Rahim endlich mit den Geschwistern und der Mutter zurückkehren konnte, fanden sie ihr Haus nicht mehr wieder. Es mußte aber an dieser Stelle gewesen sein, denn Rahims Holzfigürchen klebten plattgewalzt im harten Sandboden. Die Juden hätten das alles gemacht, sagte die Mutter.
Der Vater war inzwischen auch wieder eingetroffen. Er und die Mutter standen Arm in Arm schweigend da, wo das Haus gewesen sein mußte, weil ja die plattgewalzten Holzfigürchen dort waren.
Rahim schlich sich den Hang hinter dem Haus hinunter zu einem kleinen Rinnsal. Hier tastete er nach dem Zinnfigürchen in seiner Tasche. Sie war noch da. Und da wußte Rahim, das trotzdem alles gut werden würde.