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- 09.09.2004
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Die Einladung
1. TANTE GABI
Helene Gabriele Mays Gesichtszüge verzerrten sich vor Anstrengung. Ihre Augen wurden zu Schlitzen, ihr Mund zu einem Strich. Die schlaffen Wangen ihres feisten Gesichtes blähten sich zu zwei großen Ballons auf. Ihr Teint verfärbte sich purpurrot. – Sie presste, presste und presste. Ihr Rektum erweiterte sich zur Größe einer Männerfaust. Dann löste sich explosiv glorpsend ein kindskopfgroßer runder Brocken, der geschossartig und kometenhaft ins Klobecken platschte. Darauf folgte ein enormer, brodelnder Schwall dünnflüssigen Materials mit sehr viel Gasbeimengung. Gleichzeitig entspannten sich Frau Mays Gesichtszüge wieder. – Ahhhh. – Ihre aufgeplusterten Wangen kollabierten und flappten mit hörbarem Klatschen auf das unwahrscheinliche Doppelkinn. Sie stöhnte nochmals erleichtert auf; und ihre großen, runden, braunen Glupschaugen wanderten jetzt mit gierigem Funkeln seitlich zum Waschbecken, wo verlockend ein beachtliches Stück Torte vorsorglich angerichtet lag. Sie grabschte danach und begann es schmatzend mit hervorquellenden Augäpfeln zu mampfen, während ihr Darm sich fortwährend glucksend und gurgelnd entleerte.
Verrichteter Dinge erhob sie sich ächzend und beugte sich nach vorne. Mit gewohnter Ungründlichkeit wischte sie sich einmal beiläufig das elefantöse Hinterteil. Dabei schwappte ihr Bauchlappen nach unten und bedeckte ihre (stinkende) Scham bis zur Mitte der Oberschenkel, welche, nebenbei bemerkt, auch kaum noch als solche identifizierbar waren, denn ihr gesamter Körper war eine einzige unförmige, labberige Schwabbelmasse. Sie zog ihren fleckigen Slip nach oben und das wurstpellenartig enge, leopardengemusterte Kleid nach unten. Dann betätigte sie die Spülung. Jedoch wies das Klobecken jetzt immer noch eine ähnlich gemusterte Sprenkelung wie ihr fetziges Leopardenkleid auf. Nur braun auf weiß statt schwarz auf gelb. Sie registrierte es mit einem Schulterzucken und watschelte in die Küche, um den „Universalschwamm“ zu holen.
Es war nur eines ihrer vielen dunklen Geheimnisse, dass sie das Klobecken mit demselben Schwamm reinigte wie ihr feines Meissner-Porzellan. Sie tat dies rein instinktiv. Schließlich standen beide Gegenstände in engem Zusammenhang mit demselben (für sie mittlerweile wichtigsten!) Lebensvorgang. Nämlich mit der Verdauung.
Das war nicht immer so gewesen. Mit neunundvierzig Jahren war Frau May noch immer ledig. Männer waren nie besonders angetan von ihr gewesen. – Zu ihrer eigenen großen Verwunderung. Sie selbst war immer stolz auf ihren sprühenden und geistreichen Charme gewesen, aber vor allem darauf, dass sie doch soo sexy war. Außerdem: Da Frau Mays Eltern schon sehr früh gestorben waren und ihr ein ansehnliches Vermögen hinterlassen hatten, hatte sie noch nicht einen Tag in ihrem Leben arbeiten müssen. Und dasselbe hätte auch für einen potentiellen Gatten gegolten. Doch selbst diese heitere Aussicht schien keinen Mann zu verlocken. Den ersten und einzigen sexuellen Kontakt in ihrem Leben hatte sie irgendwann mit einem ziemlich brutalen Kerl namens Onkel Heinz gehabt. Sie hatte ihn in einer Single-Bar kennen gelernt. Und später hatte er es ihr in einem dunklen Hinterhof so richtig dreckig besorgt. – Aber heutzutage war Frau May völlig alleinstehend, abgesehen von ihrem kleinen Wellensittich, den sie liebevoll „Bubi May“ nannte und ihrem ebenfalls elternlosen Neffen Lutger May. Ihr Lieblingsneffe war heute zum festlichen Abendessen bei ihr eingeladen.
(Wie jeden zweiten Sonntag.)
2. LUTGER
Lutger May. Mittdreißiger, schlank, adrett. Sozialarbeiter in einem Behindertenheim mit leitender Funktion. Hatte gar keine wahrnehmbare Ähnlichkeit mit seiner einzigen lebenden Blutsverwandten. Gemeinsam war ihnen einzig ein gewisser Mangel an realistischer Selbsteinschätzung. Die war bei ihnen beiden allzu optimistisch.
So eine Scheiße, dachte Lutger. Ist das wirklich schon wieder zwei Wochen her, dass ich bei der fetten Wabbelsau war? Muss das heute schon wieder sein?‘
Er ging durch die dunklen Straßen und badete innerlich in einer Kloake von Selbstmitleid. – Sie war nun mal seine stinkreiche Erbtante. Und bei ihrer Lebensart musste der Cholesterinpegel längst sämtliche Ufer und Dämme überschwemmt haben. Gut möglich, dass sie in wenigen Jahren durch einen Herzinfarkt oder Schlaganfall hinweggerafft wurde. Und sie war nun mal emotional voll auf Lutger fixiert. Er war ihr Sympathie-Träger Numero Uno. Das durfte er sich nicht verscherzen, indem er sie aus einer schlechten Laune heraus zurückwies. Zumal er wusste, wie leicht und schnell sich Tante Gabi (er nannte sie der Kürze halber so) zurückgewiesen fühlen konnte.
Einmal hatte er sie früh abends in ein Restaurant ausgeführt, und eine Gruppe von kleinen Kindern auf der Straße unterbrachen augenblicklich ihr Spiel, als sie Tante Gabis gewahr wurden. Sie deuteten mit Fingern auf sie und lachten sie unbändig und quietschfröhlich aus. Sie kriegten sich überhaupt nicht mehr ein. Das Gelächter folgte den beiden noch eine lange Strecke des Wegs. - Der ganze Abend war unsäglich gewesen. Stunden hatte Lutger damit zubringen müssen, Tante Gabis Kränkung mit zärtlichen Worten zu lindern. Und seither waren sie nie wieder in ein Restaurant (oder sonst wohin) ausgegangen. Lutger bestand jetzt darauf, dass er auf Tante Gabis köstliche Küche keinesfalls verzichten wolle.
Seine eigenen Reaktionen auf sie konnte er kontrollieren. Das Verhalten anderer Leute ihr gegenüber nicht.
Also, was sollte er tun? Sollte er zulassen, dass sie den ganzen Zaster dem Verein Rettet die Walrösser hinterließ?
Sollte er seinen mittlerweile freudlosen, unterbezahlten Job weiter bis zum Rentenalter ertragen, während Tante Gabi längst die Radieschen (mit hungrigem Blick) von unten beäugte? Wie würde er sich fühlen? Wie würde er sich für den verdammten Rest seines Lebens fühlen?
Nein! Er musste die Sache durchziehen, solange sie eben dauerte! Das Ganze leichtfertig zu vermasseln würde er sich niemals verzeihen können! Also Augen zu und durch.
Während er weiter durch die Dunkelheit trabte, nahm er ganz bewusst eine aufrechtere Haltung an. – Herrgott, schließlich war er doch ein Profi! Er erinnerte sich an die Zeit seines Studiums und wie ihm sein Psychologie-Professor Peter Berger plausibel erklärt hatte, dass man jede Situation völlig in den Griff bekommen und selber kontrollieren konnte. Der Gedanke daran richtete ihn auch innerlich wieder auf.
3. TANTE GABI
Nachdem Frau May geschissen hatte, als würde ihr ganzes Leben hinten aus ihr hinausblubbern, putzte sie das Klobecken. Es war gar nicht leicht, hernach wieder aufzustehen. Sie musste sich mit beiden Händen an der Klobrille abstemmen und sehr tief Atem schöpfen, um wieder hoch zu kommen. – Uuuff. Geschafft. – Jetzt war es Zeit, sich um das festliche Abendessen zu kümmern. Selbstverständlich ohne vorheriges Händewaschen. So nahe wie sie sich ihrem Lieblingsneffen fühlte, hielt sie auch das instinktiv für unnötig. Zuerst musste sie jetzt die Ente in den Ofen schieben, dann den Rotkohl und den Knödelteig vorbereiten. Letzterer musste richtig ordentlich durchgeknetet werden. Und das konnte etwas dauern. Aber danach blieb noch genügend Zeit, um sich ihre allerliebste und süßeste Daily-Soap „Wirbelsturm der Liebe“ im Fernsehen anzuschauen.
Etwa eine Stunde später wischte sich Frau May eine Träne der Rührung von der Wange, als die Schlussmelodie ihrer Lieblingsserie verklang und auf dem Bildschirm wieder die unvermeidliche Werbung eingeblendet wurde. In diesem Moment ertönte die Türglocke, und ihr Gesicht hellte sich augenblicklich wieder auf. Sie drückte die Aus-Taste auf der Fernbedienung, und mit einem Schwung, den man ihr eigentlich gar nicht zugetraut hätte, erhob sie sich aus ihrem schicken Ledersofa. Sie eilte hüftschwabbelnd zur Haustüre und öffnete sie.
Draußen stand Lutger, ihr über alles geliebter Neffe. Er lächelte sie an, auf seine so typische offene Art, mit glänzenden, gemütsvollen und warmen Augen, die einfach niemals lügen konnten.
4. LUTGER
Sein spezielles Lächeln hatte Lutger May schon Jahre zuvor vor dem Spiegel geübt und einstudiert. Mehr oder weniger zu beruflichen Zwecken. Es war sehr hilfreich für alle möglichen Interaktionen, sei es mit Mitarbeitern oder mit seinen behinderten Schützlingen. Natürlich kam es ihm genauso gut zustatten, wenn es darum ging, Tante Gabi zu umgarnen. Als nächstes umarmte er sie wortlos, knutschte sie auf die Backe, drückte sie und zwickte sie herzlich mit beiden Händen in die Bauchschwarte. Tante Gabi kicherte kokett und schmiegte sich sanft an ihn.
Kurz darauf erschrak Lutger bis ins tiefste Knochenmark. Behutsam schob er sie ein Stückchen von sich weg zur Türöffnung hinein. – Es war wie eine Heimsuchung: Denn urplötzlich hatte er verspürt, wie etwas zwischen seinen Beinen ganz erstaunlich angeschwollen war. Blitzschnell wie im Zeitraffer hatte sich vor seinem inneren Auge ein Film abgespult, in dessen Verlauf er Tante Gabi um ihre Achse gedreht und ihren Oberkörper nach vorne gebogen hatte. Dann hatte er ihren Rock hochgehoben, den Slip heruntergerissen und begonnen, genussvoll schmatzend ihren Arsch auszulutschen, während Tante Gabi vor Vergnügen wie ein Ferkel gequiekt hatte. Diese Phantasie war eine unwiderstehliche Mischung aus abgrundtiefem Ekel und unbändigem Verlangen gewesen, durch deren Nachhall er nach wie vor erregt und gleichzeitig schockiert war.
Lutger May hatte auch ansonsten etwas seltsame Neigungen: Gelegentlich liebte er es, sich Porno-Filme mit Liliputaner-Darstellern anzuschauen. Und für sein Leben gern vernaschte er unschuldige, minderjährige Blondinen. Einige wenige Male hatte er sich sogar bei der Vorstellung ertappt, wie es wohl wäre, eines seiner behinderten Schützlingskinder zu schänden. Aber diese Dinge geschahen mehr oder weniger unbewusst. Und sie zu verdrängen, sie nicht als Teil seiner Persönlichkeit zu begreifen, fiel ihm normalerweise nicht schwerer als ein Fingerschnipsen. Seine Besuche bei Tante Gabi hingegen waren immer geprägt gewesen von Selbstkontrolle, Beherrschtheit und genau kalkuliertem Verhalten. Eben genauso wie er auch seinen Job ausübte. – Diesen anderen Dingen frönte er nur während seiner Freizeit oder im Urlaub. Nie waren sie in Zusammenhang mit existentiellen Belangen aufgetreten. Und umso irritierender war die Situation für ihn jetzt. Zumal seine Phantasien noch nie eine solchermaßen abartig inzestiöse Gestalt angenommen hatten. Und mit solcher vulkanischen Intensität! – Er lächelte etwas verlegen.
„Na komm, lass uns reingehen.“ sagte er. „Es ist schon etwas kühl, und drinnen ist es viel gemütlicher.“
„Ja sicher.“ erwiderte Tante Gabi, ebenfalls lächelnd. „Aber das ist trotzdem eine sehr schöne Begrüßung gewesen.“
Lutger schluckte.
„Natürlich! Du bist doch auch meine allerliebste Lieblingstante.“
„Alter Schmeichler du! Also, komm schon rein. Das Essen ist gleich fertig.“
Gemeinsam betraten sie das ebenso pompös wie geschmacklos ausgestattete Haus. Lutger fragte sich zum wiederholten Male, wie ein Mensch es nur in solch einer Einrichtung aushalten konnte. Der vertraute Gesamteindruck, Tante Gabi in ihrer gewohnten Umgebung, törnten Lutger gleich wieder ab. Die blassrosa gehaltenen Töne der Sitz- und Schrankmöbel erinnerten ihn an seine verpfuschte Kindheit. Und die dabei entstehenden Gefühle hatten mit Geilheit gar nichts mehr zu tun. Also vergaß Lutger, wie es ihm eben noch ergangen war, in dem Moment, als es aufhörte. Wenn irgend etwas nachließ, stand Lutger nämlich automatisch darüber. Egal wie viel (oder ob überhaupt) er zum Nachlassen beigetragen hatte. Dies war eine seiner hervorragensten Qualitäten als Mensch und Sozialarbeiter.
„Bist du immer noch so eine Leseratte?“ fragte Tante Gabi. „Während ich die Ente aus dem Ofen hole, kannst du dir gerne eines meiner Bücher aussuchen.“
Lutger warf einen geringschätzigen Blick auf das Regal mit den vielen Arzt- und Liebesromanen. Er schauderte, als Tante Gabi ihm gerade den Rücken zuwandte.
„Danke, Tante Gabi. Aber ich glaub, die hab ich alle schon gelesen.“
Während Tante Gabi in der Küche herumhantierte, schnupperte Lutger vorsichtig. – Ah, da war er wieder, dieser ewig präsente, wenn auch subtile Geruch nach Scheiße und Schweiß. Der erinnerte ihn ebenfalls an seine verpfuschte Kindheit, und ihm wurde, wie immer bei dieser Gelegenheit, ganz beklommen zumute. Jetzt begann also wieder der übliche innere Spießrutenlauf. In Gedanken verfluchte er seinen Psychologie-Professor Peter Berger, der offenbar keine Ahnung gehabt hatte, wovon er da immer geredet hatte. Dies hier war die Wirklichkeit und keine Vorlesung über das innere Wesen des Menschen. Hier blieb ihm nur seine Schauspielkunst; nur sich selbst konnte er hier kontrollieren, keinesfalls die Situation. Die galt es zu erleiden und standhaft zu ertragen; hier war er nur Opfer und keinesfalls ein Täter.
Der Gedanke, Tante Gabi irgendwie um die Ecke zu bringen, die Kuh, die keine Milch sondern nur Exkremente von sich gab, einfach zu schlachten, kam ihm nicht zum ersten Mal. Aber seine Selbsteinschätzung war immerhin realistisch genug, um zu wissen, dass ihm dafür das Format fehlte. Nicht etwa, dass er moralische Bedenken gehabt hätte. Er hatte einfach nicht die Nerven und den Mut für so eine riskante Aktion. Ganz zu schweigen von der Sauerei, die dabei entstehen würde. Dafür war er einfach zu empfindsam. Er seufzte selbstmitleidig.
„Alles in Ordnung bei dir da draußen?“ rief Tante Gabi aus der Küche.
„Ja klar.“ heuchelte Lutger. „Ich hab gerade nur an eine Textstelle aus einem deiner Romane gedacht.“
„Die können einem ganz schön zu Herzen gehen, nicht wahr?“ meinte Tante Gabi, die jetzt mit der gebackenen Ente auf einer Anrichteplatte aus der Küche hervorgewatschelt kam. „Hast du deinen Cousin Bubi May schon begrüßt?“
„Eh nein. Ich hole das gleich nach dem Essen nach.“
Dieser blöde Piepmatz, der in seinem Käfig ständig vor dem Spiegel hockte, sich an der Querstange, auf der er saß, einen abrubbelte und dabei ein Mordsgeschrei veranstaltete, ging Lutger ganz besonders auf den Geist. Tante Gabi hätte ihm einen großen Gefallen getan, hätte sie anstelle der Ente „Bubi May“ zum Abendessen serviert. – Zumal das die ganze Prozedur erheblich verkürzt hätte.
Tante Gabi trug die Ente zu der bereits gedeckten Tafel und richtete sie auf deren Mitte an. Das Essen sah im Ganzen wirklich nicht schlecht aus. Aber Lutger war der Appetit schon längst vergangen. Er wusste nämlich, was als nächstes kommen würde. Sie setzten sich beide gemeinsam an den Tisch. Tante Gabi rückte geräuschvoll mit ihrem Stuhl so nahe wie möglich an die Tischkante. Dann konnte das Spektakel beginnen: Tante Gabi beim Mampfen!
Nicht etwa, dass sie die Ente tranchiert hätte. Sondern sie griff mit beiden, bloßen Händen nach dem Vogel, krallte die fetten Wurstfinger hinein und riss zwei große, saftige Stücke Fleisch heraus. Die Haut hing in triefenden Fetzen davon herab; sie legte das Fleisch auf den Teller und schaufelte einen zweiten und dritten Berg Rotkohl und Knödel dazu. Zum krönenden Abschluss leerte sie noch den halben Inhalt der Saucenschüssel darüber. Sie griff nach dem Besteck wie ein Ritter nach Streitaxt und Schwert. Dann begann sie das Zeugs in sich hineinzuschaufeln. Ihre Kiefer mahlten dabei so schnell und kräftig wie ein Fleischwolf, so dass sie sich immer größere „mundgerechte“ Stücke nacheinander reinschieben konnte. Die Knödel, groß wie Minigolf-Bälle, verschlang sie am Stück. Und fortwährend hingen ihr schwabbelnde Fleischfetzen aus beiden Mundwinkeln.
- Komm, lang zu! - versuchte sie zu sagen, mit einer zufällig gerade frei gewordenen Hand wedelnd .Aber es klang mehr wie: omm, wang chu!
Als sie wieder nach dem fehlenden Besteckteil greifen wollte, fiel ihr Blick auf selbiges, und sie wirkte für einen Sekundenbruchteil wie erstarrt. Offenbar erkannte sie, dass es sich sowieso nur um das Messer handelte, das sie gar nicht brauchte. – Ja, ja. Wozu Speisen zerkleinern? Für Tante Gabi sollte es einen Besteckteil geben, um sie zu vergrößern!
Lutger wollte sich gerade dafür bewundern, dass er in solcher Situation noch Humor bewahrte, als er mit Schrecken bemerkte, wie Tante Gabis nunmehr freie Hand unter dem Tisch auf ihn zugewandert kam. Gerade so, als wäre sie selbständig geworden. Denn Tante Gabi setzte ihr Gelage – mittlerweile nur mit Gabel bewaffnet – so fort, als würde nichts anderem ihre volle Aufmerksamkeit gelten.
Lutger kannte das schon. Oh, nein! Wieso hatte er nur daran nicht mehr gedacht?
Die Hand erkrabbelte sich ihren Weg in Lutgers Schritt und begann sanft, wenn auch etwas hektisch, seinen Sack zu kraulen. Gleichzeitig fing im Hintergrund, wie auf Kommando, der Wellensittich an zu kreischen. Lutger erschrak ein zweites Mal und wusste im selben Moment, was der blöde Vogel da gerade wieder tat.
Das schlimmste an all dem war, dass sich Lutger gegen die dadurch entstehende Erregung nicht wehren konnte. Diese wurde zwar hart eskortiert von Gefühlen des Ekels, der Schuld und Brechreiz. Nichtsdestotrotz war sie unleugbar vorhanden. (Schließlich war er auch nur ein Mann!) – Warum tat Tante Gabi das nur immer wieder? – Und Lutger beantwortete sich seine Frage selbst: Sie tat dies, wie so vieles andere – rein instinktiv.
Tante Gabi wuchtete jetzt ihren Oberkörper nach vorne und langte nach einem der knochigen Entenflügel. Gierig schlug sie noch in der Bewegung ihre Zähne hinein und ließ sich dann unter krachendem Kauen in die Lehne zurückfallen. Daraufhin geschah etwas Ungewöhnliches: Inmitten des Kauvorgangs verharrte sie, die Augen wuchsen in zunehmender Schreckensweitung. Sie gab einen gutturalen Laut von sich, der sich etwa wie ein Rülpser anhörte. Aber nicht ganz. Dann ein Brüllen aus tiefster Bauchgegend. – Rooaaah! – Ihr Griff um Lutgers Sack wurde schlagartig zum Schraubstock. Lutger brüllte ebenfalls auf und wurde beinahe ohnmächtig. Glücklicherweise löste sich Tante Gabis Hand genauso abrupt von seinen Weichteilen, und ihre Arme begannen nun wie Ruder blind in der Luft umherzupaddeln. Ihr Gesicht wurde zuerst rot, dann violett. Die Augen traten aus den Höhlen. Synchron dazu blähten sich die Wangentaschen auf. Ihr Kopf schnellte nach vorne und pustete einen Hagelschauer zerkleinerten Mundinhalts über die gesamte Tafel einschließlich Lutger. Nochmals bäumte sie sich auf, die Zunge quoll aus ihrem verschmierten Mund. Und Lutger, der zwischenzeitlich wieder alles klar registrierte, konnte einfach nicht glauben, was er da sah.
Sie gab den Löffel ab! Sie krepierte! Sie machte die Nippelung. Sie hatte sich wahrhaftig und buchstäblich zu Tode gefressen! – Bingo!
Ihr Rücken zuckte weiter im Disco-Takt vor und zurück, ihre Schultern nach oben und unten. Schaum trat aus ihrem Mund, mit bizarr hervorgedrehter Zunge. Die Augen starrten bereits blicklos. Das Zucken stoppte, als ob jemand abrupt die Zeit anhielt; und ihr Oberkörper verharrte einen Augenblick wie in Schwerelosigkeit, schwankte ganz leicht. Dann schwappte er schlaff, nur noch der Schwerkraft gehorchend, mit einem gewaltigen Pflatscher nach vorne. Tante Gabis Gesicht lag in der Rotkohlschüssel wie in einem Krimi von Agatha Christie. Und Lutger rückte hektisch den Stuhl hinter sich und erhob sich schwankend mit weichen Knien und schmerzenden Hoden.
Seine Gedanken fuhren Achterbahn und überschlugen sich dabei. Was sollte er jetzt tun? Was war geschehen? – Moment. Eines war hier klar. Es war ein Unfall gewesen. Tante Gabi hatte ein Stück Entenknochen in den falschen Hals bekommen. Es war in ihre Luftröhre geraten, und sie war daran erstickt. Also keine Probleme Behördlicherseits für ihn. So weit, so gut. Was also als nächstes? Einen Krankenwagen rufen. Klar. Wenn er es nicht tat, würde er sich ganz unnötig doch noch verdächtig machen.
Er wandte sich um, hob schon einen Fuß für den ersten Schritt in Richtung Telefon – und hielt mitten in der Bewegung inne.
Moment mal! Falls Tante Gabi noch am Leben war, würde er sich mit diesem Anruf doch noch ein grandioses Eigentor schießen! Er musste sich zuerst davon überzeugen, dass sie auch wirklich tot war.
Angewidert wandte er sich wieder Tante Gabi zu, näherte sich ihr mit zögerlichen Schritten. Ihre beiden Arme lagen über die Tischplatte ausgebreitet. Lutger prüfte den Puls zuerst an einem, dann am anderen Handgelenk. Nichts. Keine sichtbare Atmung. Okay. Er prüfte den Puls an der Halsarterie. Nichts. Das war noch nicht sicher genug. Sein Gesicht wurde zur Grimasse, als er sein Ohr auf ihren linken Oberrücken legte. Kein Herzschlag. Nichts.
Das war immer noch nicht sicher genug.
Er musste die kalte Wabbelsau in ihrem Stuhl wieder aufrichten. Er musste in ihre leeren Augen sehen. Er musste ihr einen Taschenspiegel vor Mund und Nase halten, um zu sehen, dass sie auch wirklich nicht mehr atmete. Und er musste sein Ohr direkt auf ihren Brustkorb legen. Wenn er sie von hinten an den Schultern fasste und dann sein eigenes Körpergewicht voll einsetzte, konnte es gelingen. Schließlich ging es hier, verdammt nochmal, um eine ganze Menge. Also frisch ans Werk!
5. TANTE GABI
Dunkelheit. Tiefste, schwärzeste Dunkelheit. Und Stille. Keinerlei Empfindung, die auf Wahrnehmung beruhte; aber nicht wie im Tiefschlaf. Frau May erkannte sich selbst als Präsenz, war sich ihrer bewusst. Nur war da sonst nichts. Gar nichts. Auch ihr Körper existierte nicht. – Unmöglich, denn auch die Zeit existierte nicht. Deshalb konnte auch kein Gedanke existieren. Es war nur schlichte Präsenz in stiller, erstarrter Dunkelheit..
Ihr Bewusstsein formte ein Wort. – Ich. – Das Wort war ein Gedanke. Also, es geschah etwas. Es verging Zeit. Das Wort (der Gedanke) wurde zu einem weißen Punkt in der Dunkelheit, den sie sehen konnte. Etwa wie der weiße Punkt auf dem Bildschirm eines Fernsehers, kurz nachdem er abgeschalten wurde. Nur dass dieser Punkt, umgekehrt wie beim Fernseher, wuchs, sich allmählich zum Fleck ausdehnte. Bald konnte sie Bewegung innerhalb des Flecks erkennen. Konturen und Schatten, als ob sie den Mond durch eine dünne, vorbeiwehende Wolkenwand sah. Dann wurde der Fleck ein erleuchteter Bildschirm, dessen Umrisse begrenzt wurden durch die umliegende Dunkelheit, welche sich immer weiter zurückzog, so dass der Bildschirm zunehmend wuchs, bis kein Bildschirm mehr da war.
Sie befand sich in ihrem Wohnzimmer. Sie hatte es nicht gleich erkannt, denn es aus der Vogelperspektive zu überblicken, war ihr völlig ungewohnt. Dennoch wunderte sie sich nicht darüber. Als Kind hatte sie das freie Schweben oft im Traum erlebt.
Womit war sie doch gerade noch beschäftigt gewesen? Aah ja. Essen. Ente mit Rotkohl und Knödel. Lecker. Der Gedanke allein genügte schon, um sie Richtung Esstisch in Bewegung zu setzen. Es bedurfte nicht der geringsten Anstrengung. So herrlich leicht hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Da war jetzt der Esstisch. Da war auch die Ente. Aber was war das? Ihr Neffe Lutger über eine fremde, fette Frau gebeugt, die auf ihrem Platz saß und auf der Tischplatte ein Nickerchen machte! Das Leopardenmuster! Die Schlampe trug auch noch ihr Kleid. – Was war hier los?
Die Frau machte kein Nickerchen. Sie lag mit dem Kopf in der Rotkohlschüssel. Und Lutger fühlte ihren Puls. Er sah besorgt und zutiefst erschrocken aus! Allmählich dämmerte Frau May, welches Szenario sich ihr tatsächlich darbot. Aber sie wollte es noch nicht wahr haben.
„Was, zum Donner, macht die fremde Frau hier?“ wetterte sie los. Aber Lutger reagierte nicht darauf. Kein Wunder. Sie selber hatte sich auch nicht wettern gehört. Also war es wahr. Sie war tot. Nie wieder gebackene Ente. Nie wieder Schokoladencremetorte. Sie nahm es mit einer Gelassenheit hin, die sie zuerst selbst überraschte. – Ja, warum auch nicht? – Nie wieder Hunger. Nie wieder Verdauungsprobleme. Nie wieder sie auslachende und hinter ihr her laufende Kinder auf der Straße. Und Lutger würde es gut haben. Sie konnte diese Welt mit ihrer Tücke der beengenden Körperlichkeit ohne Zurückblicken verlassen. Jetzt konnte sie sich unbegrenzt ausweiten. Auch Wände waren keine Begrenzung mehr. Als erstes konnte sie das Wohnzimmer verlassen, durch das Dach in den freien Himmel entschweben und dann ins ewige Licht. (Sie hatte darüber einmal eine Sendung im Fernsehen gesehen.) Aber irgendetwas hinderte sie daran; das machte ihr Angst. Etwas zog sie . . .
Lutger machte sich jetzt irgendwie an ihrem Körper zu schaffen! Was tat er da? Er war hinter das tote Stück Fleisch getreten und versuchte es im Stuhl aufzurichten. Er zog daran wie ein Besessener. Jetzt mit Schwung, und er brachte es hoch. Nein. Er hatte zuviel Schwung genommen und landete rücklings auf dem Fußboden. Der tote Körper fiel, ebenfalls rücklings, auf ihn drauf.
Frau May fiel auch. Sie fiel so, wie sie es ebenfalls schon in frühen Träumen erlebt hatte, mit dem Sichtfeld nach unten gerichtet. Sie hatte keine Angst mehr jetzt. Sie würde keinen Aufschlag spüren. Aber in dem Moment, als sie den Aufschlag hätte spüren sollen, spürte sie etwas anderes. Etwas in ihrer Brust (?), das sich löste . . . etwas schweres. Etwas, das darin steckte, schoss wie ein Sektkorken durch ihren Hals und Mund – heraus. Ein Mechanismus setzte sich automatisch in Gang. Jetzt fühlte sie Anstrengung. Ihr Blick fiel zur Zimmerdecke, und ihre Lungen füllten sich saugend wie Staubsauger mit Luft.
6. LUTGER
Puh. Die Leiche war mit ihrem Arsch genau auf Lutgers Magengrube gelandet. Und seine Nüsse hatten auch noch mal was abgekriegt. Jetzt lag er unter dem Schwabbelberg begraben. Die Situation war so absurd, dass er noch nicht einmal mehr Ekel empfand. Ihm war nach Lachen und Weinen gleichzeitig zumute. –Wurde er jetzt hysterisch? Konnte es sein, dass er völlig durchdrehte und wahnsinnig wurde? Was würde wohl sein Psych.-Prof. Berger dazu sagen? – Fragen über Fragen. Lutger sah Peter Berger vor sich, wie er den Geschehnissen hier beiwohnte, mit einem dämlich schüchternen Lächeln auf seinem alles verstehenden Müsli-Gesicht. Er konnte nicht verhindern, dass sein Zwerchfell zu beben begann. Es war wie ein Juckreiz, und ein Kichern enthüpfte ganz unwillkürlich seiner Kehle. Als nächstes begann er gackernd zu lachen. Und die Leiche über ihm schüttelte sich bei jedem Lacher mit. Selbst als sein Gewieher verebbte, schien die Leiche noch irgendwie herumzuwackeln.
Dann bekam Lutger den größten Schreck seines bisherigen Lebens. Die Leiche wackelte nicht. Sie bewegte sich! Sie hustete und schnaufte wie eine Dampflokomotive. Waren das entweichende Rest-Körpergase? – Seine vage Hoffnung zerbrach, als sich Tante Gabi , anstatt einfach von ihm herunterzurollen, mit einem Ächzer aufsetzte. (Und wieder mit vollem Gewicht auf seine Magengrube.)
„Ach, du meine Güte. Ach du meine Güte.“
Tante Gabi schlug eine Hand vor den Mund. Sie begriff augenblicklich das ganze Ausmaß dessen, was mit ihr geschehen war. Sie war völlig fassungslos.
„Tante Gabi, könntest du bitte von mir runtergehen?“
„Aber natürlich! Oh, mein Liebling! Oh, mein Retter!“
Sie strahlte Lutger an mit einem Blick voller Liebe, erhob sich und ging gleich wieder in die Hocke, um ihm aufzuhelfen.
„Meine Güte, was hätte ich nur ohne dich getan? Wenn ich mir vorstelle, du wärst nicht hier gewesen! Nicht auszudenken!“
Mit Tante Gabis Hilfe erhob sich Lutger nun ebenfalls. Er machte Anstalten, seine Frisur in Ordnung zu bringen, aber als er die vielen Speisereste und Fettflecken auf senem Anzug sah, ließ er die Arme resigniert wieder sinken.
„Das war doch selbstverständlich.“ seufzte er „Man ist doch füreinander da. Setzen wir uns erstmal. Jetzt ist ja alles wieder okay."
Tante Gabi antwortete nicht. Sie sah aus, als würde sie angestrengt nachdenken. Roch sie etwa Lunte?
“Ja, setzen wir uns.“ sagte sie nach längerer Pause. „Wir müssen etwas miteinander besprechen.“
Sie setzten sich wieder an den Esstisch auf ihre alten Plätze. Lutger klopfte das Herz bis zum Hals. Sollte alles umsonst gewesen sein? All die Jahre mit der grässlichen Hälfte all ihrer Sonntage?
„Was heute passiert ist,“ begann Tante Gabi „könnte morgen wieder geschehen. Oder übermorgen. Und keiner wäre da, um mir zu helfen.“
Darauf kannst du wetten, dachte Lutger. Bei deinen Essgewohnheiten! Laut sagte er: „Hauptsache, es ist heute nochmal gut gegangen.“
„Nein, damit gebe ich mich nicht zufrieden. Ich habe eine wichtige Entscheidung getroffen. Ich möchte, dass du hier bei mir einziehst.“
Lutger war wie vom Donner gerührt. Dazu fiel ihm erst mal nichts mehr ein.
„Eh, meinst du wirklich, dass das nötig . . .“
Tante Gabis Hand wanderte jetzt wieder zärtlich in Lutgers Schritt. Nur diesmal schaute sie ihm dabei in die Augen. „Komm,“ sagte sie „wir machen es uns richtig schön. Es wird wieder ganz genauso wie zu der Zeit, als du noch ein kleiner Junge warst. Du brauchst auch nicht mehr arbeiten zu gehen. Mein Geld reicht für uns beide. Und mir ist einfach am allerwichtigsten, dass du immer bei mir bist.“
Lutger wusste, dass von seiner Entscheidung jetzt alles abhing. Noch hatte er die Freiheit, sich zu entscheiden. Er konnte jetzt aufstehen und sagen: Tante Gabi, ich scheiß auf dein Geld. Lass mich bloß in Ruh! Er konnte sich abwenden, dieses Haus für immer verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Dann würde er sein gewohntes Leben weiterführen. – Aber konnte er das wirklich? Was war, wenn Tante Gabi ihn morgen enterbte und übermorgen an ihrer Kotze erstickte? Und das nach all dem, was er bis jetzt durchgemacht hatte! Würde es in seinem restlichen Leben noch einen einzigen Tag geben, an dem er sich nicht in den Arsch biss? Konnte er dann jemals wieder glücklich werden? Er wusste die Antwort.
„Du hast Recht.“ sagte er. „Wir beide gehören einfach zusammen. Man kann sich seiner Bestimmung nicht in den Weg stellen. Ich werde noch heute nacht anfangen zu packen.“
Tante Gabi lächelte.
„Schön, dass wir das geklärt haben. Dann wird es jetzt Zeit, dass ich das gute Essen wieder aufwärme.“
7. NOCHMAL LUTGER
Als Lutger May in dieser Nacht (ein letztes Mal) zu sich nach Hause ging, dachte er viel an seine schönen Liliputaner-Videos und an die neue fünfzehnjährige Aushilfe in der Behindertenwerkstatt. Von all dem hieß es nun, sich zu verabschieden. Aber so war das nun mal: Man konnte im Leben nicht alles haben.
Aug. – Sept. 01