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Die farbigen Gefühle

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17.07.2004
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Die farbigen Gefühle

Jana ist vorrübergehend verreist, aus Heidelberg, weg von Hendrik, wohin, das weiß sie selbst noch nicht, sie hat ein unbekanntes Ziel, momentan heißt es Berlin. Hendrik, das ist Janas Freund, und jeder, der Jana kennt, kennt auch Hendrik, er begleitet sie, wenn sie ihn drängt, spricht er sogar, er sagt dann Dinge wie "Liebling, du siehst heute abend aber bezaubernd aus", er hat das gelernt, er hält das für eine Art Beruf, er nennt das Mann und Frau, er küßt sie und hält sie im Arm und lächelt sie vielsagend und vergessend an, er ist anwesend und unterhält, so wie ein Radio anwesend ist und unterhält, mit verschiedenen umschaltbaren Programmen. Irene, das ist Janas Freundin, hatte einmal behauptet, Hendrik sei "hohl". "Aber wie meinst du das denn?", hatte Jana entrüstet gefragt und Irene hatte erwidert, "na hohl, wie ein Kürbis, außen gelb, und innen hohl." Und dann hatten sie sich gestritten, weil Jana ihren Hendrik gar nicht hohl fand, damals.

Jetzt ist es anders, denkt Jana. Jetzt ist mein Hendrik Irenes Hendrik, jetzt ist er eine Fassade, die man einem antiken Baustil zuordnen kann, die man zu lange nicht mehr renoviert hat, von der Brocken herunterbrechen und vorbeilaufende Passanten am Kopf treffen, so daß die Stadt die allgemeine Gefahr ausweisen muß, mit Schildern und Bildern und Haftausschlußerklärungen, so daß Jana sich die allgemeine Gefahr bewußt machen muß, für ihr Glück, für ihre Leichtgläubigkeit. Jana wünscht sich, daß Hendrik mehr von sich erzählt, daß er sagt, was er denkt, im Innersten, seine Motive vor und hinter den Handlungen, dort, wo sie ihn nicht kennt, wo er gar nicht zu existieren scheint, sie ihn nicht fassen kann, denn Janas Welt besteht aus Worten und Gedanken, aus Karten farbiger Gefühle und fühlbarer Notwendigkeiten, in jenen Karten ist Hendriks Seele ein weißer Fleck, ein unerkundetes, vielleicht unerforschbares Land, oder am Ende vielleicht ein Mythos, eine Sage, ein bloßer Wunsch. Hendrik redet nur von einem Thema, von den Möglichkeiten, andere Menschen zu kontrollieren, wenn er redet, redet er nicht von sich, er nennt diese Möglichkeiten Liebe, und Jana hört ihm zu, und Jana weiß ganz sicher, daß sie diese Möglichkeiten Macht nennt, und nicht Liebe.

Es gibt zwei Arten von Menschen, denkt Jana, als sie ihm weiter zuhört. Es gibt Menschen, die tragen das, was Hendrik Liebe nennt, nicht wie einen Umhang, sondern wie ein Skelett in sich, es scheint sie zu bezeichnen, und es sind dann einzelne Komponenten und Triebe, denen man einen aussprechbaren Namen gibt, man sagt dann Ralf, Jule, Klara, Paul, aber man meint sie eigentlich gar nicht, kaum jemand scheint ein Interesse zu hegen, hinter die Kulisse aus beeindruckenden Schattenspielen zu blicken, es müßte eine Enttäuschung sein, weiß man, für den Blickenden wie den Erblickten. Andere Menschen scheinen zu wachsen, denkt Jana, ein Ereignis, eine Person, eine Nähe wird zum Auslöser, und wie von einem Scheinwerfer in einem Theater werden sie von jener Sache beleuchtet, die Jana Macht nennt, ohne sie zu verändern.

"Was bin ich für ein Mensch?", hatte Hendrik gefragt, und Jana war erstaunt über diese Frage die gar nicht zu Hendrik zu passen schien, sie hatte ihn gemustert, seine blauen klaren Augen betrachtet, die viel zu blau waren für jenen Tag, jene Frage, jene Stimmung, sie hatte den Grund seiner Frage erahnt. Nein Hendrik, hatte Jana gedacht, du verstehst es nicht, und sie hatte geanwortet, sie hatte es zu deutlich und zu betont und zu liebevoll gesagt, "du bist ein guter Mensch". Und Hendriks Züge hatten sich entspannt, erleichtert hatte er sein Weißbier geschlürft, sich am Kopf gekratzt, irgendwie affenartig, diesen Satz würde er sich an die Wand hängen, "du bist ein guter Mensch."

Am nächsten Tag fährt Jana zurück nach Heidelberg. Auf der Zugfahrt sitzt sie mit einem jungen Landvermesser im Abteil, er redet von Maßen und Längen und Winkeln, er redet von Höhen und Tiefen und Dreiecken, er spricht langsam, sein Notizbuch ist gelb liniert, sein Körper vollführt mechanische, akkurate Bewegungen, er ist vorhersehbar und bemüht und jenseits aller Falschheit, irgendwie liebevoll, denkt Jana, sicher hat er ein klares und reines Herz, dessen Orte so deutlich und unzweideutig auffindbar sind, wie die Kreuzungen in den Schachbrettstraßen New Yorks, sie beneidet ihn darum und sieht die Dunkelheit in ihrem Herz und einen kleinen Moment lang stellt sie sich vor, wie glücklich sie wäre, sich diesem Menschen hinzugeben, sie streift seinen Ärmel beim Hinausgehen und wünscht ihm Glück, er merkt es nicht. Später streift Jana durch die Stadt, unruhig, suchend, sie ist stumm, innerlich, vor Erwartung, am Nachmittag beginnt es leicht zu regnen, der graue Himmel stülpt sich über ihre Einsamkeit wie eine warme Wolldecke.

Sie trifft Hendrik am Abend, in einem kleinen Cafe. Sie erzählt ihm, wie froh sie sei ihn zu sehen, wie schön, daß sie wieder zurück sei, es fällt ihr nicht schwer all das zu sagen, sie streift seine Hand, die feinen Härchen, sie lacht, weil sie bei Hendrik immer lacht, weil es ihr leicht fällt zu lachen, wenn sie nichts fühlt. Er erzählt von der Arbeit, er spricht und sucht jenen Blick der Anerkennung in ihren Augen, er findet ihn, er grinst zufrieden, er sieht sie an, ob sie nicht wegfahren wolle, mit ihm, bald, Jana sagt ja, sie wünsche sich wieder mehr Zeit mit ihm, und er erwidert, natürlich tue sie das, er formt fahle Worte mit seinen Lippen, am Ende erzählt er wieder von der Arbeit, Jana lächelt stumm und lieb und wunderschön, sie fühlt nichts, sie hat nichts übrig für diesen Menschen, aber das weiß sie nicht, und er weiß es nicht.

Später am Abend, in seiner Wohnung, fragt Jana Hendrik, "Ist Macht für Dich wie ein Scheinwerfer oder wie ein Gerüst?" Hendrik versteht die Frage nicht, in seinem Blick sammelt sich die ganze arrogante Bedrängnis eines nach Macht strebenden Lebens, er trägt eine ernste Miene wie immer, er gleitet davon wie ein Aal, spielt die Rolle eines Abgeklärten, spricht von Unabhängigkeit, von der Philosophie in der Unkenntnis des Anderen, er schleicht dann davon, er entschuldigt sich tausendmal, er sei müde, von der Arbeit, er geht ins Bett, er schläft ein, sein Verhalten ist scheinbar tadellos, sie weint scheinbar grundlos.

Später liegt Jana wach, sieht zu Hendrik, dem Schlafenden, das stetige Auf und Ab seines Brustkorbs, so berechenbar, Leere füllt sie. Sie fragt sich, ist da etwas, das ich nicht sehe, übersehe ich etwas, ist da noch mehr? Oder ist das alles, Hendrik, mein Hendrik, dieser Körper, diese Gedanken, diese Worte, vor mir wie die Inventurliste eines Werkzeugkastens, jeder Bestandteil klar in seiner Form, Funktion, Gefahr, Harmlosigkeit. Ist das Sicherheit? Womöglich ist es Betäubung, denkt Jana dann. Hendrik mit seiner aufgesetzten Art, mit seiner Bemühung, seine fehlende Aufrichtigkeit zu vertuschen, Jana denkt, Hendrik ist eine Zeitbombe der Enttäuschung die irgendwann losgeht, ganz sicher, ganz ganz sicher. Hendrik ist ein sinkendes Schiff, auf dem ich stehe, denkt sie, und es gibt nur eine Sicherheit, nämlich die des Verlassens.

Am nächsten Tag gehen die beiden spazieren und Hendrik schweigt, wie er immer schweigt, wenn Fragen offen im Raum stehen. "Schweig doch nicht so!", sagt Jana vorwurfsvoll und Hendrik fuchtelt mit den Armen und schmeißt mit den Phrasen herum und schweigt. Er denkt das, was er nicht sagen will, weiß Jana, er ahnt, was ihr fehlt, sie kann es beinahe körperlich spüren, sein Schweigen ist eine Lüge. "Manchmal glaube ich, ich kenne dich gar nicht, wenn du so schweigst", sagt Jana dann vorwurfsvoll. Jana muß an Irene denken, die sagte, daß Jana Hendrik sehr wohl kennt, wenn er schweigt. Irene sagte, daß es deswegen so unerträglich ist, weil das ganze Fehlen so unübersehbar wird. "Das Fehlen von was?", hatte Jana damals unterschwellig boshaft gefragt und Irene hatte geantwortet, "na von allem."

Manchmal weiß man nicht, was fehlt, aber etwas fehlt, schließt Jana jetzt vage und dennoch vergräbt sie wie ein Hund knochige Überzeugungen, ohne aufzuhören an sie zu glauben, sie glaubt weiter an die Attraktivität des Mannes neben ihr und spürt zugleich jenen tiefen Mangel, kein Mangel am Menschen, mutmaßt sie, aber eine Unfähigkeit, eine verschlossene Tür, ein fehlender Buchstabe im Alphabet, den er nicht aussprechen kann, nicht kennt, nicht gelernt hat, aber den sie, Jana, zum atmen braucht. Wie die immerwährende Rezitation eines altbekannten, vertrauten Textes, eine Liturgie aus Lebensfragmenten, deren innerer Kern verloren gegangen ist, oder nie da war, sie ahnt, ihr Leben könnte enden als eine Kombination vorgegebener Puzzleteile, als eine endlose Herumschieberei derselben Dinge und am Ende der gleichen Gefühle, ohne daß etwas daran wirklich, nah, lebendig wäre. Sie bekommt Angst.

Wochen vergehen in einer Spannung von anderen unfertigen Gedanken und dem langsamen Verschwinden des Winters, ein Rückzug auf Raten mit gelegentlichen Rückfällen. Stunden, Tage, Monate, Minuten, alles fließt ineinander. Sie hört auf, ihm zu glauben, sie besitzt keinen Grund mehr, ihm liebevoll zuzuhören auch wenn sie ihm lächelnd zuhört, sie weiß, er hat nicht die blasseste Ahnung, was sie braucht, und eines Tages wird sie ihm das sagen. Überzeugungen, eng verhaftet in längst vergangenen Gesprächen, dem Herzen Sicherheit bekundend, lösen sich in Stücken los und fliegen weg wie Schmetterlinge, bestimmt und verräterisch, als läuteten unhörbare Glocken einer fernen Kirche, als durchdringe ihre innerste Welt ein nur für Eingeweihte wahrnehmbares Signal, bald fallen turmuhrgroße Gewißheiten um, unerwartet still, leise und ohne Staub, man merkt es kaum, Lawinen bedrohlicher Ausmaße setzen sich in Bewegung, lautlos und mächtig. Ein Gefühl von Schwindel ergreift sie.

"Es ist alles so anders", sagt sie bald, sie sagt es zu Hendrik, zu Irene, zu allen, und niemand versteht es. Sie sagt es in den Raum, fordernd, so als erwarte sie eine Antwort, und Antworten kommen bereits viele an ihr verwirrtes Herz, zu viele, als daß sie diese noch den Fragen zuordnen könnte. Sie fragt die einen, die sie nicht verstehen, wieso die anderen sie nicht hören wollen. "Gibt es da etwas zu verstehen?", fragt Hendrik und Jana denkt "Idiot". Bald träumt sie von zersplitterten Welten und trostspendenden Hellsehern, die sie bei der Hand nehmen, und alles wissen, und alles verstehen, und nichts wissen, und nichts verstehen, die sie lieben und niemals verehren und immer für sie da sind. Sie sieht in Hendrik nur noch einen leeren Stein, einen Stein mit großen Mund, der nichts in sich trägt, eine Hülle, die mit ihr spricht, im Versuch jene Macht zu erhalten, die er Liebe nennt, und während sie bei ihm sitzt und er ihre Hand hält, ist sie ihm schon so fern, spürt Leere und Enge im Lachen.

Irene ist ganz anders. Irene will nichts wissen. Irene will gar nichts. Sie ist einfach nur da. Wie ein Baum, wie ein Wald, in den eine Seele hineingeht, und herausgeht. Wie ein ruhiger Fluß. "Mit dir kämpfe ich nie", sagt Jana zu Irene. Irene zuckt mit den Schultern und schlürft zufrieden ihren Tee wie ein Wasserfall, ein Jahrtausende alter, durch den das Wasser von Generationen floß, und der sich von nichts beunruhigen läßt. Beide Frauen, Jana und Irene, sitzen im Garten, reden, Irene sagt fröhlich: "im Frühjahr kann man Gedanken und Blumen zählen", ihr Körper schwebt dabei über dem Stuhl wie ein Ufo, das auf einer texanischen Farm landet, und Jana muß grinsen über diesen kleinen dummen Satz, den nur Irene sagen kann. Wenn Hendrik hier wäre, würde er zusammengekauert die Schultern krümmen, sein Blick wäre arrogant und leidend und machthungrig und traurig, Jana würde das spüren, was Hendrik Liebe nennt, aber es wäre nur ein Vorwurf, ein schlechtes Gewissen, es wäre all das nicht, was Jana sucht, und würde sie ihm das sagen, sie würde ihn damit verletzen, ohne ihn verletzen zu wollen.

Jana lächelt weiter, und sie sagt "Irene", sie sagt es stechend, kurz, so wie eine Spruchformel für einen alten aztekischen Gott oder die Inkarnation einer geheimen magischen Kraft, einer guten, und Irene, immer noch schwebend, schreckt aus ihren Gedanken hoch, mustert Jana. "Im Grunde hattest du Recht mit Hendrik", sagt Jana mit klarer Stimme, und überlegt, und Irene fragt ungeduldig "mit was denn?", und Jana antwortet: "na das mit dem hohl sein." Irene blickt ungläubig drein. "Wenn man all das Getue wegnimmt, bleibt nur noch ein erbärmlicher Kern übrig, irgendein farbloses graues Ding, das man nicht fühlen kann, nichts wofür man einen weiten Weg gehen würde", sagt Jana und sie merkt, wie sie etwas sagt, das sie wochenlang unausgesprochen dachte, ihr Mund bildet jetzt eine schmale Linie, ihre Augen starren im Tunnelblick auf der Suche nach einem Impuls, ihr Gesicht ist völlig ausdruckslos und blass, selbst Irene glaubt nicht, daß sie es zu lesen versteht. Wie ein Vorhang legt sich Betäubung oder Konzentration über Janas Blick, ein Vulkan brodelt, oder ein totes leeres Land erstreckt sich dort im Tiefgrün ihrer Augen, niemand weiß es. "Es ist ein wenig, als würde man im Wald spazieren gehen", sagt Jana dann nach einer langen Pause, "man denkt, man sieht eine Tür in einem Baum, einen Funken Gold hinter einer Lichtung - Irene?", Jana mustert Irene und dann den Boden, streicht ihr Haar zurück, vorbei an ihren jetzt glänzenden grünen Pupillen, "man denkt, vielleicht gibt es mehr als... als man sieht... als man denkt zu sehen... man kommt näher, und näher, und man sieht es: die Tür ist nur ein Stück Rinde." Und Irene seufzt und steht auf ohne aufzusehen und geht zu Jana und nimmt sie in den Arm, und Jana sieht Irene an, verwirrt, offen, unbetäubt jetzt, ist das ihre Irene?

Jana nuschelt erstaunt, "Irene, du bist ja total selbstlos", und es klingt wie ein Witz, wie eine empörte Feststellung, so wie "nehmen sie Ihre Hand da weg", gar nicht ehrlich, obwohl es so gemeint war. Irene fängt das kichern an, wie eine schlecht geölte Wasserpumpe klingt sie, ihre Haare wirbeln ihr durchs Gesicht wie ein freigelassener Schwarm Moskitos, sie hält sich den Bauch, wie ein dicker Mann, der zuviel getrunken hat und über einen dreckigen Witz lacht, aber Irene ist dünn und zierlich und ihr Herz, ihr Gesicht, strahlt, was Hendrik nicht weiß, denkt Jana, in ihren Gesten und Bewegungen liegen Buchstaben jenes Alphabets, das ihm immer verborgen bleiben wird, und das er noch nicht einmal erkennen würde, würde er nun danebenstehen.

"Warum lachst du?", fragt Jana, und Irene antwortet, "weil es wie ein Vorwurf klingt: du bist ja total selbstlos!" Jana schweigt, denkt, seltsam, was man mit Worten alles anstellen kann, und was Worte mit einem anstellen können, selbst im Denken verwirren sie einen, und sie denkt an Hendrik, wie er sich immer verteidigt, und wie wenig sie von ihm spürt, wie wenig sich hinter seinen leeren Worten versteckt. Jana denkt an Liebe und Macht, und daran, daß man manchmal Kontrolle über die Worte verliert und die Worte ihre eigenen Wahrheiten bilden, ihre Realitäten. Indem man ein Wort sagt, ändert sich die Realität, grübelt sie, und manchmal ganz anders, als es auf der Anleitung zur Bedienung des Wortes steht und dann wünscht sie sich, sie hätte zu dem Landvermesser im Zug ein paar solche Worte gesagt, ein paar Worte, die alles verändert hätten, sie muß an die unzähligen Worte an Hendrik denken, die nie etwas verändern, sie folgert: Liebe ist, wenn Worte etwas verändern.

"Wäre ich die, die er in mir sieht", sagt Jana, "dann könnten wir beide glücklich sein. Aber er weigert sich zu begreifen, daß ich jemand anders bin. Vielleicht kann er es nicht begreifen. Wenn er es begreift, ist es zu spät." Und dann träumt Jana, wovon sie immer träumt, daß sie eines Tages aufwacht und jedes Wort den anderen so erreicht, wie es in ihrem Kopf entstand, und sie sagt zu Irene, irgendwie glücklich über den bloßen Gedanken: "wenn man einmal so einen Satz mit solchen Worten hätte, das müßte doch für ein ganzes Leben halten, oder?" Und Irene schaut in den Himmel und zuckt mit den Schultern.

Jana trägt einen kleinen Ring am Finger, sie hält ihn fest, so als müßte sie ihn fragen, ob es so sei mit den Worten, oder vielleicht auch, ob Irene noch Irene ist, oder eine Hellseherin. Der Ring sagt nichts, er glitzert geheimnisvoll. Der Ring läuft, im Gegensatz zu Hendrik, nicht weg, wenn er gefragt wird, er lenkt nicht ab mit nichtssagenden Phrasen, er hat nichts zu verbergen, Jana weiß, wer er ist, sie kann ihn herumdrehen und abnehmen und er bleibt immer derselbe. Hendrik würde ganz anders werden, wenn sie ihn verläßt, weiß Jana, Hendrik würde schweigen. Wenn der Ring schweigt, schweigt er vielsagend und nicht aus Berechnung. Ringe sind gute Freunde, schließt Jana, weil sie einen nicht anlügen und nicht im Stich lassen. Vielleicht sollten wir reingehen, denkt Jana, und dann denkt sie: Irene sieht glücklich aus, wenn sie lacht.

Was hatte sie eigentlich gesucht, bei Hendrik? Hatte sie gedacht, die Freiheit würde warten, wie eine kleine Fee, versteckt in einem Knopfloch seiner teuren Anzüge? Daß der richtige, wahre Hendrik aus jenem Hendrik, den sie kannte, eines Tages herausspringen würde, wie ein Mann aus der Schachtel? Jana fragt das Irene. Und Irene sagt: "vielleicht hast du zu lange darauf gewartet, daß mit ihm etwas passiert, und darüberhinaus ganz übersehen, was mit dir passierte." Vielleicht hat sich der Grund meines Wartens selbst erledigt, denkt Jana. Und dann beschließt sie, daß man es selbst in die Hand nehmen muß, das Glück, daß die Menschen sie, Jana, einfach nicht wert sind. Sie zerbrechen zu leicht, man muß sie zu oft austauschen, sind ihren Einsatz, die zahllosen Stunden des Wartens, Sehnens, Hoffens, nicht wert. Und schließlich ist der Weg zu weit um andauernd das Werkzeug auszutauschen.

Später gibt es eine Weile nichts mehr zu reden, und Jana schweigt, und Jana und Irene sitzen wieder im Garten, stumm. Irgendwann sagt Irene dann endlich doch "gehen wir rein?" und es klingt endgültig, wie das Pfeifen des Schaffners bei der Abfahrt eines Zuges und das darauffolgende sich Schließen der Türen. Ob Irene weiß, wie es ist, wenn man die Türen schließt und abfährt? Dieser Gedanke macht Jana wütend, weil niemand weiß, wie arm sie dran ist, denkt sie, wie einsam sie ist, nicht einmal Irene weiß es. Am liebsten würde sie in die Welt hinauslaufen und jedem einzelnen verdammten Menschen ins Gesicht brüllen, wie verdammt arm sie dran ist, jetzt wo Hendrik schon weit weg ist, und kein Ersatz in Sicht und sie total verloren. Aber die Nacht ist kühl und klar und Sterne stehen dort, wo selten jemand den Blick hinwendet, und Jana hält ihr Herz für einen Stern, aber sie ahnt, es könnte ein sterbender Stern sein, der seine Planeten mit in den Untergang reißen wird.

Irene weiß nichts von alldem, Irene wendet ihren Blick wieder auf Jana. "Du siehst total fertig aus", bemerkt sie, und Jana lächelt und schweigt und denkt, alles, was je fertig war, ist jetzt unfertig, und es überfällt sie ein Trotz, niemals wieder etwas anzufangen. Jana denkt, wie wenig man doch voneinander weiß, selbst wenn man Hunderte von Worten ausgetauscht hat. Tausende von Worten zerbrechen, wenn eine Handlung alles widerlegt. Hendriks Handlung war das "ja" und das "nein" zur falschen Frage, das Gehen und das Bleiben zur falschen Zeit, das Fehlen von Etwas im entscheidenden Moment, der Anruf, das Lachen, das Schweigen, der Satz, und: der Moment, die ihn als Heuchler enttarnten. Jana beschließt, daß Hendriks Handlungen von einem Wesen stammen, das sie nicht kennen will, und sie begreift nicht, wie ihre geliebten Worte sie so im Stich lassen konnten, und sie sieht ein, wie furchtbar sie sich geirrt hat. "Du hast ihn gemocht, am Anfang, nicht wahr?", fragt Irene unvermittelt. Jana nickt stumm. Sie will nicht darüber nachdenken, daß irgendwo unter all diesem Schrott ihr alter Hendrik vergraben sein könnte, daß es vielleicht all das immer noch gibt, was sie liebte an ihm, eine kurze Hoffnung bäumt sich zum letzten Mal auf, einen Moment lang leuchtet nochmal eine vage Idee über einem dunklen Land, doch dann ertrinkt alles in der Erinnerung an Hendriks Reaktionen, an seine Worte, an seine dummen Behauptungen und Schlußfolgerungen und Meinungen, an die tausend Indizien, wie ein Felsen umgreift sie die Überzeugung, daß er keine Ahnung hat, wer sie ist, wie es in ihr aussieht, daß er noch nicht einmal eine Karte bei sich trägt, in der es weiße Flecken gibt.

Jana macht Schluß mit Hendrik als der Sommer zu Ende geht, es ist an einem frühlingshaft lauen Abend als sie die Worte und Gedankengänge spricht, die sie sich über Wochen und Monate zurechtgelegt hat, im stillen, alleine, ohne Hendrik, Worte, die keinen Zweifel mehr zulassen. Hendrik sieht sie an und schüttelt den Kopf und wartet lange und schweigt. Jana sagt zu Hendrik: "bitte geh." Er geht dann irgendwann, sein Kopf ist gesenkt, es ist so, wie Jana es sich gedacht hatte, wie Jana es will. Jana steht später alleine am Rand einer Wiese und weint, sie wartet auf ein Zeichen, das nicht kommt, am Abend geht sie zu Irene und sagt "Hendrik ist weg", ihre Stimme klingt mechanisch wie die Stimme der Sprecherin in der telefonischen Zeitansage, ihr Mund scheint zu sagen "es ist null Uhr null und null Sekunden." Irene nickt und sagt nichts.

Jana wird vorrübergehend verreisen, weg aus Heidelberg, weg von Hendrik, wohin, das weiß sie selbst noch nicht, sie hat ein unbekanntes Ziel, momentan heißt es Madrid. Hendrik, das war Janas Freund, und jeder, der Jana kannte, kannte auch Hendrik. An manchen Tagen wird Jana an ihn denken, sie wird dann Szenen und Gespräche wiedererleben, sie wird sich an einzelne Worte und ganze Formulierungen erinnern, wie Schatten werden sie ohne Veränderung aus dem Nichts auftauchen, in der Mitte des Tages oder in der Mitte der Nacht, sie wird sich fragen was dieses oder jenes war, Jana wird es nie wissen. Janas Welt bestand aus Worten und Gedanken, aus Karten farbiger Gefühle und fühlbarer Notwendigkeiten, in jenen Karten war Hendriks Seele ein weißer Fleck, ein sagenumwobenes Land, eine Hoffnung, die sie noch nicht vollständig verstanden hatte, der Jana unbekannte Tiefen und geheimnisvolle Täler zuschrieb, in dem alles möglich zu sein schien, in deren Wäldern noch viele Feen und Geister und Überraschungen wohnen konnten. Nun ist der weiße Fleck einer Gewißheit gewichen, nun ist die Hoffnung einer Realität gewichen, Jana, die Archäologin ihrer eigenen Vergangenheit, hat eine Sage widerlegt, die ihr als wahr erschien, Jana hat im harten Boden gegraben bis ihre Finger bluteten, sie hat Scherben gefunden, verräterische, und all die Worte als eine Ansammlung beliebiger Geschichten entlarvt, sie trägt ein zersplittertes Indiz jener vergangenen Ära in ihrem Herzen: nichts von alledem hat jemals stattgefunden.

 

Die Geschichte hat mich gefesselt, beeidruckt. Sie ist so gar nichts, steht still, verharrt in Gedanken, die kreisen, nicht von der Stelle kommen. Die Länge der Sätze, an manchen Stellen störend, sind vermutlich bewußt eingesetzt, vielleicht aber auch ein Ausdruck individuellen Stils.

Die Monotonie des Textes ist auf erschreckende Weise bindend. Man kann sich nicht entziehen.

Ort ist Heidelberg, doch erkenne ich keinen Grund, die Handlung nicht in Frankfurt, Hamburg oder Berlin spielen zu lassen. Der Ort ist beliebig. Und doch wird er genannt, vielleicht, um dem Rezipienten die Illusion einer Orientiertheit zu vermitteln. Die Figuren bleiben leer; geradezu leitmotivisch. Weder wirkliche Fakten über ihr Leben werden geliefert, noch zeigen sie wirkliche Interessen oder Motivationen.

Leben im Vakuum. Der Text selbst beschreibt das als:

Stunden, Tage, Monate, Minuten, alles fließt ineinander.
Es ist alles gleich. Und gleichzeitig. Und nichts ist in Bewegung. Es gibt keinen Eingang, keinen Ausweg. Was war vergeht ohne Erinnerung, nichts bleibt, es fließt weiter, irgendwie, ohne daß da eine Veränderung wahrnehmbar wird.

Die Gegenüberstellung der Abstrakte Liebe und Macht, in der Geschichte zweier Menschen Bezeichnung für ein gleiches Bezeichnetes, bleibt nur die Idee einer Charakterisierung, die Protagonistin bleibt ebenso vage wie ihr Gegenüber. Sie denkt nur, die Gedanken sind tief, doch letztlich ohne Wirkung, wie die Unterscheidung von 'lieben' und 'verehren'. Sie deuten nur an. Alles bleibt wolkenhaft ungreifbar und umfassend.

Und diese wunderbaren und ungewohnten Bilder, wie z.B.:

Leere und Enge im Lachen
oder diese gewaltigen Sätze wie z.B.:
Jana denkt an Liebe und Macht, und daran, daß man manchmal Kontrolle über die Worte verliert und die Worte ihre eigenen Wahrheiten bilden, ihre Realitäten.
Das alles ist stark. Vielleicht solltest Du aber dennoch noch einmal über den Text lesen, da geht noch mehr.

Noch zwei kurze technische Anmerkungen zum Ende, die vermutlich beide auf die Herkunft zurückzuführen sind.

1. 'schmeißen': besser 'werfen'
2. 'mit was': besser 'womit'

 

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