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Die Fesselung

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12.08.2004
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Die Fesselung

Eigentlich sprachen sie nie sehr viel miteinander.
Was gibt es schon zu besprechen, wenn man den ganzen Tag zusammen ist?
Doch nun ist die Situation eine andere. Jetzt haben sie das Bedürfnis zu reden, aber sie können es nicht. Er könnte sie hören. Und wenn er sie hört, könnte alles umsonst sein. Es ist der vierundzwanzigste Tag, der sich seinem Ende zuneigt.

Zu Beginn hatten sie nicht mitgezählt, aber später hatten sie in den Kalender geschaut und zurückgeblättert zu jenem Tag, an dem er zu ihnen gekommen war. Es war der 8. Juni, als er eines Abends vor dem Haus stand. Martha hatte geöffnet, obwohl sie es kaum glauben konnte, daß jemand vor der Tür war. Es regnete und er war völlig durchnäßt. Er war eher wie ein Spaziergänger bekleidet als wie die Wanderer, die früher vorbeikamen. Er trug Sportschuhe, eine kurze Hose von Nike und ein T-Shirt, auf dem ein Basketballspieler abgebildet war. Um die Hüften hatte er ein Kapuzensweatshirt. An Gepäck hatte er einen Rucksack, den er sofort vom Rücken nahm, als sie öffnete. Er wirkte gehetzt, als ob er viel gerannt sei. Das Haar klebte ihm am Kopf und an seinen Ohren hingen die Wassertropfen wie Ohrringe. Sie schätzte ihn Mitte 40, doch die sportliche Kleidung gaben ihm ein jugendliches Aussehen.
"Entschuldigen Sie, kann ich bei Ihnen übernachten?", fragte er und deutete auf das verblaßte "Pension" über der Tür.
Obwohl Henry, ihr Mann, den Schriftzug mehrfach überpinselt hatte, kam sie nach einigen Monaten immer wieder durch. Es war wie ein Fluch. Er war sogar kurz davor gewesen, den Putz mit dem Hammer herauszuschlagen.
Sie kannte diese Frage. Sie war darauf vorbereitet. Früher war das Haus noch auf den Karten der Wanderer, die zum Steinbruch wollten, verzeichnet und sie mußte mehrfach die Leute weg schicken. Henry, hatte am Abzweig, der zu ihrem Grundstück führte, sogar ein Schild aufstellen lassen, auf dem stand: 'Pension geschlossen". In den letzten Jahren hatte die Anzahl der Touristen merklich nachgelassen und war am Ende völlig versiegt, nachdem in der Stadt der Erlebnispark eröffnet hatte. Doch die Antwort, die einerseits Bedauern, anderseits aber auch die feste, unumstößliche Aussage enthielt, kam ihr noch immer automatisch über die Lippen.
"Tut mir leid, wir sind keine Pension mehr. Mein Mann und ich bewirtschaften das Haus schon seit zehn Jahren nicht mehr."
Und doch schloß sie nicht sofort die Tür, wie sie es früher gemacht hatte. Irgendwas an dem Fremden ließ innehalten.
"Was ist los Martha?", rief Henry von hinten.
"Ein Mann, der hier bleiben möchte."
"Was?", Henry kam angeschlurft. Auf der Nase trug er eine dicke Hornbrille, über deren Gläser hinweg er den Fremden musterte.
"Haben Sie das Schild nicht gesehen?"
"Welches Schild?" fragte der Mann.
"Na wo Sie von der Straße abgebogen sind. Oder steht es nicht mehr?"
Der Fremde schüttelte den Kopf.
"Ich komme aus dem Wald", er zeigte in die Richtung, "und ich habe mich verlaufen."
"Wollen Sie zu den Steinbrüchen?"
"Welche Steinbrüche?"
Henry blickte dem Fremden ins Gesicht. Es war offen und zeigte keinerlei Anzeichen, die sein Mißtrauen erweckten.
"Mein Gott Henry, was soll er denn bei den Steinbrüchen? Es wird in einer halben Stunde dunkel", Martha zog den Fremden ins Haus. "Sie sind ja ganz durchnäßt."
"Alle wollen zu den Steinbrüchen", brummte Henry und setzte sich vor den Fernseher. "Sie glauben, sie finden da irgendwelche Steine."
"Fossilien, es heißt Fossilien", Martha hatte dem Fremden ein Handtuch gebracht.
"Das einzige, was Sie finden, ist der Tod."
Der Fremde schaute kurz auf. Er sah, wie Henry zu dem Bild auf dem Fernseher starrte.
"Ihr Sohn? Es tut mir leid."
"Es braucht Ihnen nicht leid zu tun", herrschte Henry ihn an. "Sie haben ihn ja nicht mitgenommen und zum Klettern überredet."
Der Fremde schaute zu Martha, die ihren Mann mit einer Mischung aus Trauer und Verärgerung ansah. "Gleich morgen früh bin ich weg."
Dann seufzte sie und drückte den ihn auf einen Stuhl. "Sie können in Peters Bett schlafen. Und ein paar Sachen, die ihnen passen, finden wir auch."
"Danke."
"Bestimmt haben Sie noch nicht zu Abend gegessen, nicht wahr?"
Der Fremde nickte und schaute zu Henry, der noch immer regungslos auf das Bild über dem Fernseher blickte.
Das Zimmer des Sohnes, befand sich im Obergeschoß gleich neben ihrem Schlafzimmer. Die drei Gästezimmer im anderen Flügel des Hauses waren seit fast zehn Jahren unberührt. Leb- und nutzlos, wie der paralysierte Teil eines Gelähmten.
Während der Fremde aß, bezog Martha das das Bett. Henry saß schweigend am Tisch und starrte auf die Kerben in der Tischplatte. Ab und zu fuhr er mit dem Finger über eine der Rillen. Es war, als ob die Vergangenheit sie eingeholt hätte. Ein unerwarteter Gast, den sie solange fernhalten konnten.
"Henry!", hörte dieser die Stimme seiner Frau. "Würdest Du einen Stuhl für unseren Gast holen.
"Wozu?", wollte er fragen, doch er unterließ es, denn der Fremde hört plötzlich auf zu kauen und betrachtete ihn mit Interesse. "Ja ich hole ihn", antwortete er statt dessen und machte sich auf, das Gewünschte zu holen. Er brauchte eine Taschenlampe, denn sie hatten alle Lampen aus den Fassungen entfern.
Als er zurückkam, war Martha bereits wieder in der Küche und der Fremde auf seinem Zimmer. Er stellte den Stuhl vor die Tür und klopfte. Ohne das Öffnen abzuwarten, ging er wieder hinab. Er wollte den Fremden nicht sehen, im Zimmer seines Sohnes.
Etwa eine halbe Stunde später waren sie auch im Bett. Scheinbar schlief der Fremde noch nicht. Sie hörten seine Schritte im Zimmer, wie er hin und her lief. Henry konnte sich nicht erinnern, dies bei seinem Sohn gehört zu haben.
"Was hältst Du von ihm?", fragte er seine Frau.
"Er ist nett", murmelte Martha im Halbschlaf.
"Ja", brummte er. "Morgen nach dem Frühstück sind wir ihn los."
Die Schritte verstummten. Etwas später lauschte er dem beruhigenden Atem seiner Frau und war kurz darauf ebenfalls eingeschlafen.

In der Nacht, spürte Henry, wie ihn jemand am Arm packte. Er schreckte hoch. Seine Frau saß im Bett und atmete schnell.
"Da ist was", flüsterte sie.
Es war jemand auf dem Gang, das konnten sie deutlich hören. Unterdrückte Schritte auf dem Holzboden, als bemühe sich jemand, leise zu sein. Gerade wollte Henry aus dem Bett schwingen, da hörten sie den Schrei und dann ein Poltern. Er erstarrte in der Beweung. Martha hielt den Atem an. Sie lauschten, doch sie konnten nichts hören. Henry stand mit einem Ruck auf.
"Paß auf", flüsterte Martha.
Dann öffnete er die Tür und schaute in den Gang. Es war stockdunkel. Henry trat aus dem Zimmer und tastete sich zum Lichtschalter. Nachdem er sich blinzelnd an die Helligkeit gewöhnt hatte, ging er nach vorn und sah, wie der Fremde unten an der Treppe lag, das linke Knie war in ungewöhnlichem Winkel gebogen. Er war vollständig angezogen und hielt seinen Rucksack vor der Brust umklammert. Kurz darauf kam auch Martha.
„Um Gottes willen, was ist denn passiert?“, rief sie und eilte die Treppe hinab.
„Ich bin über etwas Weiches gestolpert“, ächzte er.
„Miska!“ entfuhr es den beiden.
Marta blickte sich um und begann die Katze zu rufen. Doch diese schien wie vom Erdboden verschluckt.
„Miska, Miska. Ksksksk“, Martha machte ein Geräusch wie kaltes Wasser, das auf eine heiße Herdplatte fällt.
„Hör verdammt noch mal auf, davon wird sein Bein auch nicht besser! Hilf mir lieber, ihn auf das Sofa zu legen.“
"Ja geben Sie mal ihren Rucksack her."
"Nein!", die schrille Stimme des Fremden ließ sie zurückweichen. "Ich brauche diesen Rucksack."
"Gut, gut. Dann legen Sie Ihren Arm um meinen Hals. Martha nimm seine Beine."
"Aber vorsichtig!", der Fremde biß die Zähne aufeinander.
Mit mehreren Unterbrechungen trugen ihn die beiden zum Sofa. Martha holte ihm eine Decke, denn oben konnte der nun nicht mehr schlafen.
"Morgen rufe ich Joe an, der kann ihn in die Stadt fahren", brummte Henry.
"Aber Joe kommt erst in vier Tagen", sagte Martha.
Der Fremde war aufmerksam dem Gespräch gefolgt und schaltete sich dazwischen. "Kein Problem", sagte er. "Ich rufe einen Freund an, der holt mich morgen ab."
"Na hoffentlich", brummte Henry.
Damit gingen sie schlafen.

Am nächsten Morgen, als Martha später als sonst herunterkam, sah sie, wie sich der Fremde etwas gegen das Knie hielt.
"Eis", lächelte er. "Ich habe den Eisautomaten da hinten in der Ecke repariert, die Sicherung war nur defekt. Statt Schokoladeneis jetzt gestampftes Eis."
"Aber wie soll das gehen?"
"Pappbecher. Ich habe sie mir geliehen, sie lagen in dem Schrank da hinten."
"Aber sie können doch nicht einfach in den Schrank gehen!"
Er achtete nicht auf sie, sondern wuchtete sich hoch und sprang auf einem Bein zum Automaten. Dann öffnete er die Schiebetür und holte einen Becher heraus. Er ließ das Eis in seine Socke gleiten.
"Und dann mit diesem Hammer hier zerschlagen", er schlug mit dem Hammer auf die Socke ein ein.
"Wer hat Ihnen erlaubt, meinen Hammer zu nehmen?", Henry kam die Treppe hinunter.
"Er lag unter der Eismaschine", sagte der Mann.
"Er hat die Eismaschine repariert", fügte Martha hinzu.

Sie warteten den ganzen Tag auf den angekündigten Bekannten des Fremden. Obwohl dieser ihm nachmittags die Dringlichkeit noch einmal erklärte. Henry nickte, als der Fremde ins Telefon sagte, er sei eine Last für die Leute.
Doch er kam nicht. Also mußte der unfreiwillige Gast noch eine Nacht auf dem Sofa bleiben. Am nächsten Tag erreichte er seinen Freund schon früh am Morgen und erfuhr, daß dieser endlich unterwegs sei. Am Vortag war wohl etwas mit seiner Frau dazwischengekommen. Als es Mittag wurde und er erneut anrief, stellte sich heraus, daß der andere eine Panne hatte und es mindestens zwei Tage brauchen würde, bis das Auto wieder flott sei.
"Dann ruf´ Joe an", sagte Martha, als der Fremde auflegte.
Henry schaute finster nach draußen.
"Das ist Blödsinn Martha. Dann müßte er ja morgen extra herkommen, wo er doch übermorgen sowieso kommt, um die Sachen zu bringen."
"Wer kommt?", fragte der Mann.
"Ihr Taxi", brummte Henry.
Sie legten fest, daß der Fremde in zwei Tagen von Joe auf dessen Rückweg mit in die Stadt genommen würde. Damit brauchte dieser vorerst nicht belästigt werden.
Henry war es wichtig, daß Joe nicht unnötig belastet wurde. Martha sah das anders.

Am fünften Tag kam Joe vorbei. Er arbeitete auswärts als Bauleiter und kam alle zwei Wochen bei Henry und Martha vorbei. Dabei brachte er immer ein paar Sachen aus dem Supermarkt mit. Dies war eine alte Angewohnheit von ihm, die aus der Zeit stammte, als Martha mit einer schweren Gehirnerschütterung im Bett gelegen hatte, weil sie in der Scheune von der Leiter gefallen war und Henry infolgedessen keinen Meter von ihrem Bett wich. Joe besorgte damals regelmäßig die Lebensmittel, die Martha sonst selbst herstellte. Sie backte Brot, machte Käse, Milch und Joghurt und ab und zu schlachtete Henry eins von den Hühnern. Eigentlich kamen die beiden recht gut aus, und brauchten nur wenig. Als Martha jedoch krank war, kam Joe zum Glück bereits am dritten Tag vorbei. Er fuhr sofort in die Stadt, um den beiden ein paar Lebensmittel zu besorgen. Da Henry sich weigerte, sie ins Krankenhaus schaffen zu lassen, schließlich hatten sie dort auch seinen Sohn sterben lassen, kam Joe alle vier Tage vorbei und brachte ein paar Sachen. Später, als Martha bereits wieder einfache Tätigkeiten verrichten konnte, kam er seltener und irgendwann pegelte es sich so ein, daß er alle zwei Wochen nach dem Rechten sah und ein paar Sachen vorbeibrachte. Ein Jahr später verkaufte Henry aufgrund seiner schlechten Augen seinen Wagen. Nun waren sie vollkommen abhängig von Joes Besuchen, denn ansonsten ließ sich niemand bei ihnen blicken.
Für jenen fünften Tag war also beschlossen worden, daß der Fremde nun lange genug in ihrem Haus wohnte. Obwohl sie sich für seinen Zustand schuldig fühlten, denn Miska war immerhin ihre Katze, schien es doch besser, wenn er sich in der Stadt von einem Fachmann behandeln ließ. Dementsprechend wurde Joe auch von Martha empfangen.
"Joe gut, daß Du kommst, wir haben einen Verletzten.“
„Mein Gott Martha, ist was mit Henry?“
Doch der Genannte trat soeben aus dem Haus und kam auf den Wagen zu, um Joe die Hand zu schütteln.
„Hallo Joe, nein danke, mir geht´s gut, aber bei uns hat sich einer eingenistet und wir werden ihn nicht los, weil er ein dickes Bein hat.“
Joe lachte.
"Heimlicher Besuch, was?. Ein dickes Bein, was Henry? Laß mich nur die Pakete ins Haus tragen, dann schauen wir uns dein dickes Bein mal an."
"Nein nicht Henry, sondern unser Gast.", Martha stockte, "Wie heißt er eigentlich?"“
Henry zuckte mit den Schultern. Joe blickte zwischen den beiden hin und her. Sie waren die letzten, bei denen er einen Gast vermutete. Allerdings machten die beiden auch nie Scherze. Scheinbar hatte ihnen die Sommersonne doch etwas zugesetzt. Er beschloß sofort wieder zu fahren und nicht, wie sonst, noch auf ein Bier zu bleiben. Er trug die Pakete ins Haus, legt sie auf den Tisch und wendete sich zum Gehen, als Martha ihn zurückhielt.
„Warte Joe, Du musst ihn mitnehmen.“
„Wen meinst du Martha?“
Sie stand kerzengerade da und starrte an ihm vorbei. Ihr Gesicht war aschfahl.
„Oh mein Gott“, murmelte sie. „Henry! Henryyyy!“
Ihre Stimme kreischte schrill durchs Haus. Joe trat verwundert ein paar Schritte zurück.
Henry kam ins Haus gerannt und blieb schnaufend am Küchentisch stehen.
„Was ist denn los?“
„Er ist weg.“
„Wer?“
„Na, der Mann.“
Henry blickte zum Sofa und riß die Augen auf.
Joe hatte das Gefühl, daß die beiden übergeschnappt waren. Sie schauten fassungslos auf das Sofa, hinter dem der Fernseher eine Tennispartie übertrug.
„Das gibt es doch gar nicht“, murmelte Henry. Es war aufgeräumt, als sei der Fremde nie dagewesen. Nur die brummende Eismaschine deutete darauf hin, daß er dagewesen sein mußte.
„Das ist das Match von gestern abend“ Joe deutete zum Fernseher. „Agassi wird noch gewinnen.“
„Er ist nicht mehr da“, keuchte Martha und krallte die Finger in Joes Jacke. „Der Mann ist nicht mehr da."
„Na dann ist ja alles bestens“, Joe löste vorsichtig die Hand von seinem Arm und beeilte sich nach draußen zu kommen. Die beiden wurden ihm unheimlich. Joe wußte, daß sie oft eigentümlich waren, er hatte sich daran gewöhnt und beachtete es nicht, aber so schlimm hatte er sie noch nie erlebt. Er sprang ins Auto und ließ den Motor an. Gerade als er losfahren wollte, kam Henry aus dem Haus gerannt. Joe wartete unwillig, bis der Alte am Truck angelangt war.
"Verzeih uns Joe", sagte Henry, "Sie ist ein bisschen mitgenommen. Seit vier Tagen hat sie das Haus gar nicht mehr verlassen. Sie ist es nicht gewohnt, wenn jemand da ist. Sie hat aufgepasst, war nervös, weil wir Besuch hatten. Nun ist er weg. Muß zurück in den Wald gegangen sein. Gottseidank."
Henry lächelte.
Joe blickte auf sein Tacho, wo der Drehzahlmesser sprang. "Du weißt Henry, daß ich euch mag. Ich bin der einzige, der noch zu Euch hält. Das weißt Du doch, oder Henry?"
"Ja Joe."
"Also sag Martha, sie soll sich ausruhen, ich hab´ das Gefühl sie ist nicht ganz ausgeglichen."
Henry blickte zur Tür, wo seine Frau stand, sie hielt die Hand über die Augen, da die untergehende Sonne sie blendete. Scheinbar wollte sie nicht allein ins Haus zurück.
"Okay Joe, ich werd´ drauf acht geben, bis später" Henry klopfte aufs Dach und ging in Richtung Haus. Joe wendete auf dem Vorplatz und fuhr langsam den Weg bis zur Straße runter. Im Rückspiegel beobachtete er, wie Henry seine Frau in den Arm nahm und beide ins Haus gingen.
Als Martha durch die Innentür trat, stieß sie einen spitzen Schrei aus und hielt die Hand vor den Mund. Henry blickte zum Sofa. Dort saß der Fremde und schaute das Tennismatch.
„Joe ist schon weg, nicht wahr?“, fragte Martha tonlos, den Blick nicht von dem Fremden lösend.
Statt einer Antwort ging Henry zum Sofa und machte den Fernseher aus.
"Wo waren sie?"
"Auf der Toilette", sagte der Fremde und machte den Fernseher wieder an.
Henry blickte hilflos zu Martha. Sie ging zum Fernsehr und zog den Stecker heraus.
"Ist Joe wieder weg?", fragte der Fremde leichthin.
"Ja!"
"Kann es sein, daß Joe Dich nicht so besonders mag, Henry?"
"Das geht Sie gar nix an!", rief Henry aufgebracht.
"Vielleicht, weil Du die Gemeinde in Verruf gebracht hast?"
"Was soll..."
Der Fremde warf einen Zeitungsausschnitt, der sorgfältig ausgeschnitten und auf ein weißes Blatt geklebt war, auf den Boden.
"Wo haben Sie das her?"
"Das ist von mir", meldete sich Martha.
"Was?"
"Ich dachte damals, man sollte es aufheben. Ich dachte, es gehöre dazu... zu allem", murmelte sie und Tränen stiegen ihr in die Augen. "Ich wußte gar nicht, daß es noch da ist."
"Es lag im Schrank", sagte der Mann. "Du hast also Touristen mit Waffengewalt von Deinem Grundstück fernhalten wollen und zwei von ihnen schwer verletzt."
"Sie haben meinen Sohn getötet!", brach es aus Henry heraus.
"Es war ein Unfall!"
"Sie haben ihn mitgenommen und nicht auf ihn aufgepaßt", schluchzte der alte Mann. "Auf meinen einzigen Sohn haben sie nicht aufgepaßt."
Jetzt weinte er hemmungslos. Er zitterte am ganzen Leib und Tränen liefen seine Wangen herab.
"Wie weit ist es bis zum Steinbruch?", fragte der Fremde plötzlich.
"Zwanzig Kilometer", antwortete Martha an Henrys Stelle. Sie sah, daß er dazu nicht mehr fähig war. Er weinte wie ein Kind. Martha nahm ihren Mann und drückte ihn an sich. Sie geleitete ihn die Treppe hinauf. Von oben sah sie, wie der Fremde sich mühsam nachdem Stecker für den Fernseher bückte. Das war am Abend des fünften Tages.

Am nächsten Morgen sagte Henry, daß er jetzt im Krankenhaus anrufen werde, damit sie jemand vorbeischickten.
"Das geht nicht", sagte der Fremde traurig aber bestimmt. "Ich habe keine Versicherung. Sie werden mich nicht mitnehmen."
"Was soll das denn...", Henry hielt verunsichert inne. In diesen Dingen kannte er sich nicht aus. "Dann rufe ich die Polizei." Er wählte.
"Nein bitte nicht!", der Fremde war plötzlich schnell oben und humpelte zum Telefon.
"Warum nicht?"
"Weil ich von der Polizei gesucht werde", er entwand Henry den Hörer und legte auf.
Martha ließ den Teller fallen, den sie gerade wegstellen wollte.
"Was haben sie getan?", stotterte sie.
"Nichts schlimmes", lachte der Fremde. "Ich habe ein wenig Geld von meinem Arbeitgeber auf mein Konto umgeleitet. Keine Bange, ich bin kein gemeingefährliches Subjekt. Ich erschieße keine Leute, obwohl ich eine Waffe habe."
Er zog die Pistole aus dem Rucksack und legte sie auf den Tisch. Der schwarze Lauf glänzte im Schein der Sonne.
"Eine Makarov", flüsterte er heiser. "Bulgarisches Fabrikat."
Dann lächelte er das Ehepaar an, das sich an den Herd zurückgezogen hatte.
"Was gibt es heute zum Abendessen? Ich glaube, ich habe Lust auf eine Hühnerbrust."
Das war am sechsten Tag.

Noch in der Nacht besprachen Martha und Henry, was sie nun machen sollten.
"Wir müssen die Polizei rufen"“, sagte Martha. "Er ist gefährlich."
"Du hast recht", nickte Henry. "Aber was, wenn er uns als Geiseln nimmt, wenn sie anrücken?"
"Wir müssen ihn vorher überrumpeln."
"Wir?"
"Du!"
"Hör´ zu Martha, ich bin über 60 und..."
"Er hinkt Henry, er hinkt!", ihre Stimme vibrierte.
"...und er hat eine Waffe!"
"Du hast auch eine!"
Sie schwiegen, von unten hörte man den Fernseher. Das Jingle einer Gameshow ertönte.
"Was ist?"
"Ich weiß nicht, wo sie ist", murmelte Henry.
"Du lügst. Du holst sie morgen sofort vom Dachboden! Sie liegt auf dem dritten Querbalken rechts außen."
Eine Holzplanke knarrte. Die beiden fuhren auf.
"Ist da wer?", fragte Martha automatisch.
Henry bedeutete ihr zu schweigen. Er schlich zur Tür und lauschte. Doch er hörte nur den Fernseher. Er wagte nicht, nach draußen zu schauen.

Als Henry am nächsten Tag auf den Dachboden ging, war die Waffe nicht da. Was ihn verwunderte war, daß er keine Spuren erkennen konnte. Seit zehn Jahren war niemand mehr auf dem Boden gewesen und es hatte sich eine Staubschicht gebildet. Die Planken waren alle mit einem gleichmäßigen Teppich überzogen. Nichts deutete darauf hin, daß jemand da gewesen war. Vielleicht hatte sie auch gar nicht da oben gelegen und er hatte sie tatsächlich woanders verstaut.
"Ich hab´ sie", sagte er, als sie ihn danach fragte.
"Wo?", fragte sie, doch soeben kam der Fremde aus dem Bad und strahlte sie an.
"Guten Morgen.", lachte er. "Wie wär´s Martha, wenn wir mal wieder ein Huhn schlachten würden."
"Das geht nicht, Herr", sagte sie.
"Wieso nicht Martha?"
"Wir haben nur noch fünf. Sie haben die letzten Tage immer eins gegessen. Es müssen immer mehr als fünf sein, sonst legen sie keine Eier mehr und dann haben wir bald keine mehr."
"So ein Blödsinn", er kam lächelnd näher. "Solange ein Hahn da ist und mindestens ein Huhn, gibt es Eier, oder etwa nicht?"
Plötzlich gefror sein Lächeln. Er fasste ihr unters Kinn und hielt den Kopf nach oben.
"Gewiß", presste sie hervor.
"Sehr gut, ich werde es selber schlachten."

Am zehnten Tag, als der Fremde wieder einen Anfall hatte, fragte Martha wieder nach der Waffe.
Sie hatten beobachtet, daß die Anfälle von Tag zu Tag schlimmer wurden.
Begonnen hatten die Symptome bereits am vierten Tag, nachdem der Fremde angekommen war. Er fing plötzlich an zu schreien und stieß sich mit dem Kopf gegen die Wand. Beim ersten Mal nur ganz kurz, so daß beide nicht sicher waren, was da gerade passiert war. Aber die Anfälle schienen regelmäßig zu kommen. Manchmal dauerte es zehn Minuten, manchmal auch mehrere Stunden. Während dieser Anfälle schloß sich der Fremde in das Zimmer ein und sie hören das Stoßen seines Kopfes gegen die Wand. Oft heulte der Mann dabei oder schrie so laut, daß es im ganzen Haus widerhallte. Während dieser Zeit saßen Martha und Henry oft am Tisch, hielten sich bei den Händen und hofften, daß es bald zu Ende sei.
Sie hatten mehrfach gemeinsam überlegt, wen sie anrufen könnten, um Hilfe zu holen, aber ihnen fiel bloß immer Joe ein, der, falls er ihnen Glauben schenken sollte, bestimmt gleich die Polizei mitbringen würde. Damit würde er sie als Geiseln nehmen, wenn jemand versuchte das Haus zu stürmen.
Sie diskutierten auch, in den Wald zu flüchten. Aber Martha war dagegen, sie hatte Probleme mit der Hüfte und sie wollte das Haus nicht dem Fremden überlassen.
"Er braucht Hilfe Henry", sagte sie. "Wir müssen ihn überrumpeln. Mit der Waffe müssen wir ihn überrumpeln."
Henry, der sich nicht traute, ihr die Wahrheit zu sagen, nickte jedes Mal.
"Ja wir überrumpeln ihn Martha, wir erwischen ihn und dann ist es vorbei."
Und wenn sie nach der Waffe fragte, hatte er Ausflüchte und sagte er, sie sei an einem sicheren Ort, aber er müsse sie noch reinigen und den Mechanismus überprüfen.
An jenem zehnten Tag passierte etwas, was es Henry unmöglich machte, das Verschwundensein der Waffe auch weiterhin zu verschweigen. Der Fremde war inmitten eines schlimmen Anfalles. Sie hatten gehört, wie er hinter dem Haus anfing zu schreien. Dann war er mit dem blutigen Beil ins Haus gekommen. Er schrie und schwang es im Kreis, so daß sie sich beide ins Schlafzimmer flüchteten. Sie fürchteten um ihr Leben. Sie dachten er würde die Tür einschlagen, aber er schrie und tobte über den Gang, dann war es wieder einen Augenblick still, bevor wieder seine Schreien ertönte, aus einer anderen Ecke des Hauses. Scheinbar rannte er im ganzen Haus umher. Sie waren sicher, daß er verrückt geworden war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie in ihrem Zimmer fand. Doch endlich fiel die Tür nebenan ins Schloß, er schrie nicht mehr, sie hörten nur das Klopfen des Schädels gegen die Wand.
Benommen gingen beide nach unten. Als sie unten waren, drehte sich Martha plötzlich ruckartig zu Henry um und faßte ihn am Arm.
"Wo ist die Waffe?" flüsterte sie und er spürte, wie sie zitterte.
Er blickte schuldbewusst zu Boden.
"Wo?", sie packte so fest zu, daß es schmerzte.
"Sie war nicht da", seufzte er.
"Was?", fragend schaute sie in sein Gesicht. Dann verstand sie.
"Du Feigling!", sie ließ ihn los und blickte kurz nach oben, von wo ein langezogenes Heulen ertönte. Dann erklomm sie zielstrebig die Treppe und anschließend auch die Leiter zum Dachboden.
Henry blickte ihr nach und setzte sich seufzend an den Küchentisch. Vor ihm auf dem Tisch lag das Beil, an dem noch das Blut von dem Huhn klebte. Für einen Augenblick kam ihm ein Gedanke, doch er verwarf ihn sofort wieder. Er hätte keine Chance.
Ihr gellender Schrei ließ ihn zusammenzucken. Einen Augenblick unterbrach sogar der Fremde seine Aktivitäten. Eine lähmende Stille legte sich über das Haus, geradeso als hätte jemand alle Geräusche abgestellt. Als der Fremde wieder mit seinem Klopfen einsetzte, hatte Henry bereits drei Stufen der Treppe zurückgelegt.
Sie kniete auf dem Boden und schluchzte. Er ging langsam auf sie zu. Doch noch bevor er sie erreichte, drehte sie sich um. Beinahe hätte er sie nicht erkannt. Der blanke Hass hing ihr in den Augen. Ihre Hände waren blutig. Er blickte auf ihren Schoß und erschrak. Zwischen all dem Blut erkannte er das vertraute gescheckte Fell von Miska!
"Dieses Schwein!", Martha wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Das Blut verteilte sich in ihrem Gesicht. "Ich bringe ihn um. Ich bringe ihn um!"
„Still. Beruhig´ Dich.“, Henry nahm sie in den Arm.
Sie strampelte sich los und hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein. "Warum?", schluchzte sie. "Warum Miska? Sie hat ihm doch nix getan. Eine Katze, es war doch nur eine Katze."
Henry gab ihr eine Ohrfeige. Sie verstummte und gibberte leise vor sich hin. Er nahm seine Frau in den Arm und blickte an die Stelle, wo früher die Waffe gelegen hatte. Der Fremde war ihnen immer einen Schritt voraus.
"Es tut mir leid", murmelte er. „Aber wir dürfen uns nicht gehen lassen. Er merkt alles. Er ist uns immer einen Schritt voraus."
"Wir müssen etwas tun", flüsterte sie.
"Ja aber was?"
"Wir schließen ihn in dem Zimmer ein."
"Das geht nicht, weil er sich von innen einschließt und den Schlüssel stecken lässt."
"Dann schließen wir ihn im Haus ein."
Schon als Martha diesen Gedanken aussprach, wusste sie, daß er sinnlos war. Sie mussten Hilfe holen, egal ob er es merkte oder nicht. Henry nickte, er hatte den selben Gedanken. Er stieg die Leiter vom Dachboden herab, im Zimmer des Fremden war es wieder still, doch das war ihm egal. Er rannte die Treppe herunter, ging geradewegs auf das Telefon zu und nahm den Hörer ab. Dann wählte er die Nummer der Polizei. Bereits vor der dritten Zahl merkte er, daß das Telefon tot war. Er hängte langsam auf. Oben im Zimmer des Fremden ertönte nun ein unnatürliches Heulen, aber ihm war, als würde es in ein gellendes Kichern übergehen. Den ganzen Abend des zehnten Tages saß das Ehepaar zusammen und wartete darauf, daß etwas passierte, doch der Fremde kam nicht herunter.
Auch am elften Tag ließ er sich nicht blicken. Sie wußten nicht, ob er einen Anfall hatte oder nicht, denn nur ab und zu erklang das Klopfen aus dem Zimmer ihres Sohnes.

Am Abend des folgenden Tages öffnete sich die Tür und der Fremde erschien an der Treppe. Er hatte sich ein Handtuch um den Kopf gewickelt. Ein Teil seiner Stirn war blau. Henry und Martha saßen am Tisch und schauten erwartungsvoll zu ihm hoch. Sie lösten den Blick auch nicht von ihm, als er sich gesetzt und die Serviette umgebunden hatte. Auf dem Tisch stand ein großer Topf mit einem knusprigen Braten. Dazu gab es Kartoffeln und Rotkohl.
„Mmh Martha, was ist der Anlass für dieses Festessen?“, fragte er und rieb sich die Hände.
„Wir haben unser letztes Huhn gerettet“, Martha lächelte schwach und gab ihm einige Kartoffeln auf den Teller. „Und Sie haben lange nichts gegessen. Gestern mußten wir ohne Sie essen. Noch etwas Soße zum Braten?“
"Ja danke sehr.", er nickte ihr aufmunternd zu. „Ich habe unglaublichen Hunger. Aber was ist es denn?“
"Kosten Sie doch erst mal!", Henry konnte sich nicht mehr beherrschen. "Ich war auf der Jagd. Es ist eine Überraschung."
"Mmh riecht das gut.", er hob die Gabel und blickte beide an. Sie starrten mit angehaltenem Atem auf das Fleischstück. "Wollt´ Ihr denn gar nix essen."
"Nahein", Henry prostete ihm mit dem Wein zu. "Wir haben schon gegessen. Es fehlt ja ein Stück wie Sie sehen, wir konnten uns nicht beherrschen und haben schon genascht, nicht wahr Martha?" Er versuchte, ihr unter dem Tisch ein Zeichen zu geben.
"Au!", der Fremde verzog das Gesicht. "Das war mein Bein."
Plötzlich verhärtete sich seine Miene, ruckartig stand er auf und humpelte mit der Gabel in der Hand zu Martha.
"Willst Du nicht mal etwas von der knusprigen Lende kosten Martha.", er hielt sie fest und zwang ihr den Mund auf.
"Hein...", würgte sie hervor und starrte mit weitaufgerissenen Augen auf das Fleisch, das er ihr vor die Augen hielt.
Henry sprang auf, doch der Andere hatte bereits die Pistole gezogen und richtete sie auf ihre Schläfe.
"Der liebe Gatte bleibt schön da sitzen, wo er jetzt sitzt, während Frauchen einen kleinen Imbiß nimmt, nicht wahr?"
"Bitte nicht", flehte Henry.
"Warum denn nicht, mein Lieber? Katzenfleisch ist doch so gesund, habe ich gehört oder ist da vielleicht etwas von dem Rattengift drin, was da hinten plötzlich neben dem Mülleimer steht, statt im Keller, wo´s hingehört? Mmh? Etwas raffinierter solltet Ihr schon sein." Er riß Martha nach hinten und hob entschlossen die Gabel.
"Gott, bitte nicht", Henry sank auf die Knie. „Tun Sie´s nicht. Sie haben recht. Es tut uns leid. Wir wissen nicht, wo unsere Gedanken sind. Der Verlust von Miska hat uns kopflos gemacht. Verzeihen Sie uns. Es kommt nicht wieder vor. Nicht wahr Martha? Es kommt nicht wieder vor!“
Martha nickte langsam den Blick starr auf die Gabel gerichtet. Einen Augenblick bekam das Gesicht des Fremden einen fast zärtlichen Ausdruck bevor er sich abwandte und die Pistole gegen die eigene Stirn preßte. "Gut, ich schätze, dann gibt es in zwei Stündchen zur Feier des Tages mal Hähnchen. Und ihr beiden seid eingeladen, weil ihr nämlich jetzt alles, was ich esse, vorher kosten werdet", er schaute zu Henry. "Na was ist? Immer noch hier? Der Hahn ist hinterm Haus!"
"Sofort!", Henry sprang auf und band sich die Schürze um.
„Und bitte bring´ das Beil nicht mit herein.“, rief ihm der Fremde nach, als er sich etwas von dem Wein einschenkte.

Die folgenden Tagen verliefen ereignislos. Die beiden waren wie gelähmt. Immer, wenn der Fremde nicht in seinem Zimmer war, begab sich Martha in ihr Schlafzimmer und weinte. Henry saß vor dem Fernseher, den er lauter stellte, wenn die Anfälle kamen. Diese erfolgten scheinbar mit zunehmender Regelmäßigkeit. Einer früh am Morgen, der sie aufwachen ließ und einer gegen Mittag, so daß er das Essen meist ausließ. Sie machten es dann abends noch einmal warm, wo er es mit einem Heißhunger verschlang. Meist saßen Henry und Martha, nachdem einer von beiden kosten mußte, einfach so daneben und schauten zu. Er wollte es so.
"Ich bin hier das Fernsehprogramm", pflegte er zu sagen.
Mit Genugtuung schien er zu registrieren, wie Henry immer stiller wurde und wie es in ihm arbeitete. Wie er das Tischbein umfaßte, wie er eine Flasche abwägend in der Hand hielt oder ein Messer gedankenverloren drehte, jeweils Dinge, die der Fremde Henry auftrug zu holen. Manchmal ohne Grund, ohne sie zu benutzen. Scheinbar nur, um den alten Mann zu beschäftigen. Henry wurde dadurch immer gereizter. Aber irgendwie schaffte es der Fremde in diesen Augenblicken immer in der Nähe von Martha zu sein, sie mit einer kleinen Rede abzulenken. So blieb Henry nichts weiter übrig, als finster zu blicken und mit dem Gewünschten herbeizukommen.
Einmal, während Martha an ihrem Wein nippte, meinte der Fremde plötzlich an Henry gewandt.
"Wie ist das, wenn man das dringende Bedürfnis hat, jemanden zu töten?"
Henry sah überrascht auf und fixierte den Fremden. "Ich habe nicht das Bedürfnis jemanden zu töten."
Es schien fast so, als sei der Fremde beleidigt.
"Nein? Kämpfst Du es nieder, diesen Drang, diese Wut. Kannst Du es noch kontrollieren? Du hast es gelernt, nicht wahr? Früher warst Du nicht so beherrscht, da warst Du jähzornig, hast Deine Frau geschlagen und bist mit der Waffe auf die Menschen zugegangen. Es schien Dir richtig, damals."
"Hören Sie auf!", Martha versuchte dazwischen zu gehen. Sie sah, wie Henry den Mann mit gläsernen Blick anstarrte. Das war nicht mehr ihr Henry, das war der Henry, den sie vergessen hatte.
Doch der Fremde beachtete sie nicht, sondern fixierte Henry.
"Wie wär´s mit mir? Mmh. Ein Schuß und es ist vorbei. Ein Schuß in den Rücken, wenn ich nicht drauf achte. Und alles wäre vorbei. Die Erniedrigung, die Angst, es wäre alles wie vorher. Man würde mich nicht vermissen, weißt Du. Keiner vermißt mich. Das erstaunt Dich bestimmt nicht. Du brauchst nur irgendwo eine Grube ausheben und mich reinfallen lassen. In diesen Wäldern hier ist niemand. Es würde keiner merken."
In Henry arbeitete es, seine Wangenmuskeln spannten sich in kurzen Abständen. Seine Hände umfaßten krampfartig die Tischplatte.
"Ich gehe schlafen Martha", sagte er und stand auf.
"Du bleibst sitzen Henry! Ich befehle es Dir", rief der Fremde ihm nach.
Doch der hörte nicht auf ihn. Er schlurfte zur Treppe und zog sich mühsam nach oben. Ein gebrochener alter Mann. Das war am 14. Tag.

Langsam gingen ihnen die Vorräte aus. Auf den Hahn folgte auch das letzte Huhn. Als sie es ihm drei Tage später serviert hatten und ihn auf den Umstand hinwiesen, meinte er nur achselzuckend, daß ihnen schon etwas einfallen würde. Und immerhin käme Joe ja in spätestens zwei Tagen. Henry zuckte zusammen. Er wusste es! Er wusste alles.
Als könne er Henrys Gedanken lesen, deutete der Fremde auf den Kalender, der über der Spühle hing.
"Leichteste Übung, mein Lieber. Immer wenn ein 'J' neben dem Tag steht, kommt Joe. Das letzte Mal war er am 13., wo ich ihn leider nicht kennenlernen konnte. Also wird er wohl am 27. wieder vorbei schauen. Immer Freitags, mmh?"
Henry schluckte.
"Sie werden ihm doch nichts tun, oder? Ich meine er hat ihnen doch nix getan."
"Das stimmt. Und es liegt in Deiner Hand, daß dies auch so bleibt."

Als Joe am 27. Juni auf den Vorplatz des ehemaligen Gasthauses einbog, merkte er sofort, daß irgendwas nicht stimmte. Henry stand vor dem Haus und winkte und schrie ihm etwas zu. Erst wollte er, wie immer, noch weiter vors Haus fahren, doch Henry winkte stärker. Also stellte Joe den Motor ab, um zu hören, was los war.
"Bleib´ da stehen", schrie Henry.
"Was?", Joe kletterte aus dem Auto.
"Um Gotteswillen bleib da stehen Joe."
"Was ist denn los Henry, was hast Du?"
"Wir haben die Hühnerpest. Sie sind alle tot.", schrie Henry. "Du darfst nicht näher als 30 Schritt an das Haus ran."
"So ein Blödsinn", brummte Joe.
"Bitte Joe", Henrys Stimme überschlug sich, "beim Grabe Deiner Mutter, mach´ was ich Dir sage. Leg´ die Sachen da ins Gras und fahr nach Hause zu Fran und Deinen Kindern Sam und Georgi und spiel mit ihnen im Sandkasten."
"Henry, verdammt noch mal, was soll..."
"Bitte Joe! Ich flehe dich an."
Einen kurzen Augenblick hielt Joe inne und betrachtete das Haus. Es war alles wie sonst, bloß der Besitzer schien durchgeknallt zu sein.
"Okay Henry", rief Joe und begann die Sachen auszuladen. "Wie du willst. Du kannst mich ruhig für dumm verkaufen. Aber ich weiß nicht, ob ich das mit mir machen lasse. Hörst du Henry? Ich mag´ dich Henry, aber so eine Scheiße hab´ ich noch nie gehört. Ich fahr diesen Umweg gern, ich mach´s dir und Martha zuliebe, aber das muß ich mir nicht antun."
Joe hörte, wie Henry aufschluchzte. Irgendwas war faul. Er konnte nicht anders, er nahm zwei Tüten und lief auf das Haus zu.
"Nein Joe", kreischte Henry. "Bleib´ da, hörst du? Bleib um Himmelswillen stehen. Ich bring´ mich sonst um."
Joe sah das blitzende Messer in Henrys Hand und blieb stehen.
"Verdammt Henry!", japste er. "Verdammt!"
Er legte die Tüten auf den Boden und lief rückwärts zum Wagen.
"Alles klar Henry. Bleib´ ganz ruhig. Ich fahr jetzt hörst du? Ich bin schon weg. Aber nächstes Mal werd ich nicht da sein, hörst du? Da kannst du einen anderen verscheißern. Ruf Morell an oder Walton. Aber mich siehst du hier nicht mehr, okay?"
Er kletterte in seinen Truck und warf den Rückwärtsgang ein. Mit durchdrehenden Reifen schoß der Truck vom Hof. Joe biss sich auf die Lippen.
"Nicht mit mir", dachte er. "Das macht er nicht mit mir. Das hab´ ich nun davon. Daß ich nicht lache. Sam und Goergi."
Joe hatte keine Kinder, er hatte auch keine Frau. Fran war die Frau von Jeff und ihre beiden Großen Sam und Georgi spielten nicht mehr, sondern arbeiteten beim Sheriff. Joes Blick flog in den Rückspiegel, aber er sah nur einen kauernden Henry, der sich noch immer das Messer an den Hals hielt.

Drei Minuten später, als das Motorengeräusch längst verklungen war, erschien der Fremde an der Tür, vor sich hielt er eine weinende Martha, der er die Pistole ans Kinn hielt. Henry richtete sich kurz auf und umschlang die Knöchel seiner Frau.
"Ach Martha", seufzte er. "Ach Martha."
"Schluß mit den Sentimentalitäten!", ging der Fremde dazwischen. "Sammel das Zeug ein und dann komm wieder ins Haus. Immerhin haben wir hier die Hühnerpest.“ Er kicherte und stieß Martha zurück in die Stube.

Das war vor vier Tagen. In dieser Zeit waren die Anfälle des Fremden schlimmer geworden. Er hatte nun mindestens vier Anfälle am Tag. Ganz gleich, wo er gerade war, schaffte er es aber immer, in sein Zimmer zu gelangen und sich da einzuschließen. Oft klang es so, als stoße er sich den Kopf am Fußboden oder der Wand und meist kam er mit verbundenem Kopf wieder heraus. Er schien auch zu weinen, dann aber auch gleich wieder zu schreien.
Einmal hatte Martha es nicht ausgehalten. Sie wartete und als er aus dem Zimmer kam, stürzte sie zu ihm hin und trommelte ihm mit ihren Fäusten auf die Brust: "Was ist mit Ihnen? Warum machen Sie das und warum hier?"
Einen Augenblick hatte er sie verständnislos angesehen, ja fast ein wenig zärtlich. Dann packte er sie und warf sie mit solcher Gewalt gegen die Wand, daß sie das Bewusstsein verlor. Sofort war er über ihr und suchte ihren Puls. Als er ihn fand, konnte man einen tiefen Seufzer hören. Er richtete sich auf und ging den herbeigeeilten Henry an:" Was mischt Ihr Euch ein. Hä! Hat jemand darum gebeten, daß Ihr euch einmischt. Wenn ich eine Einmischung will, dann sag ich es, verstanden? Sag´ ihr das, wenn sie aufwacht.“
Henry nickt nur stumm, dann kümmerte er sich um seine Frau.

Gestern war der Tag, an dem sie Hoffnung schöpften. Henry war im Keller, um die letzten Kartoffeln zu holen. Als er den Sack hob, in dem er noch mehr Kartoffeln vermutet hatte, verlor er das Gleichgewicht und prallte gegen das Regal. Er riß die Kiste mit dem Werkzeug herunter und noch zwei Gläser mit Pflaumenmus.
"Was machst du da unten?", hörte er die argwöhnische Stimme des Fremden.
"Kartoffeln holen", brummte Henry und fügte hinzu. "Die letzten."
Dann sah er sie. Die Flinte lehnte hinter dem Regal an der Wand. Schon wollte er nach ihr greifen, da fiel ihm ein, daß er sie niemals verstecken könnte. Außerdem hatte er die Munition aus Sicherheitsgründen an einem anderen Ort versteckt. Sie würde ihm so nichts helfen. Er mußte sie später holen. Schnell räumte er mehrere Sachen ins Regal und verwischte die Spuren, die darauf hindeuteten, daß er am Regal gewesen war. Er bückte sich, nahm eine Scherbe in die Hand, biss die Zähne zusammen und ritzte sich den Handrücken auf.
Dann stieg er mit dem Kartoffelsack die Treppe hinauf. Oben empfing ihn der Fremde.
„Was hat da so lange gedauert?“
„Hab´ mich geschnitten, als ich über den Schraubstock gestiegen bin.“, murmelte Henry und hielt ihm die Hand vor´s Gesicht.
"Verdammt", der Mann zuckte angeekelt zurück. "Wasch es aus und laß Dir´s von Martha verbinden. Ich schäl´ die Kartoffeln."
Henry nickte gehorsam und schlurfte zu seiner Frau.
"Oh Gott Henry", sie sah ihn an und verstand nicht. Er lächelte. Das erste Mal seit Tagen lächelte er wieder.
Später, als der nächste Anfall seinem Höhepunkt zustrebte und Martha seine Sachen wusch, stieg Henry in den Keller und holte die Flinte aus dem Versteck. Schnell trug er sie ins Schlafzimmer und legte sie unter die Matratze. Er wusste nicht, ob sie noch funktionierte. Er wollte es jetzt nicht ausprobieren. Er war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt schießen konnte.

Am Abend, als er und Martha im Zimmer waren und der Andere unten fernsah, schloss Henry das Schlafzimmer ab und sagte:" Bleib´ jetzt ganz ruhig Martha."
"Was hast Du denn?"
"Versprich es mir!"
Langsam bekam sie Angst um ihren Mann. Möglicherweise verlor er ebenfalls den Verstand.
"Ich versprech´s."
"Gut", er bückte sich und hob die Matratze hoch. "Ich habe das Gewehr."
Seine Frau stieß einen spitzen Überraschungsschrei aus. Henry schaute sie entgeistert an, dann murmelte er:" Verzeih mir.", und gab ihr eine saftige Ohrfeige.
"Verdammtes Weib!", schrie er. "Ich hab´ dir tausend mal gesagt, daß ich diesen Kissenbezug hasse."
"Aber Henry", Martha rieb sich überrascht die Wange.
"Keine Karos auf meinem Kissen! Wiederhol´ das!"
"Was?"
"Du sollst es verdammt noch mal wiederholen. Keine Karos auf meinem Kissen", er sah sie mit flehenden Augen an. Da begriff sie.
"Keine Karos auf Deinem Kissen."
"Sag es lauter blöde Kuh!"
"Keine Karos auf Deinem Kissen. Keine Karos auf Deinem Kissen."
Er hob anerkennend den Daumen, dann holte er das Gewehr hervor und legte es auf die Decke. Schnell sprang er zum Schrank mit der Bettwäsche. Im dritten Fach unter den Kissenbezügen fand er, wonach er suchte. Er nahm zwei Patronen und legte sie in den Lauf. Dann lud er die Waffe, während Martha in eine Art Singsang geraten war und voller Extase schrie.
Sie merkten nicht, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Dann hämmerte er gegen die Tür.
"Aufmachen! Sofort aufmachen oder ich zerschieße das Schloß."
Henry riss das Gewehr hoch. Er mußte nur auf die Tür zielen. Stand er davor? Oder stand er links hinter der Wand? Jemand mußte aufschließen, aber das ging nicht, da er dann Martha als Geisel hätte.
"Ich zähle jetzt bis drei", sagte der Fremde, dann komme ich.
Henry schaute zu seiner Frau. Sie war kreidebleich.
"Eins..."
"Moment!"
Er sprang zum Fenster und beugte sich kurz nach draußen.
Martha konnte nicht erkennen, was er machte, aber als er sich umdrehte, hatte er das Gewehr nicht mehr.
"Zwei..."
Ein Sprung und Henry war im Bett, während Martha die Tür aufschloß. Der Fremde stürzte herein, in der Hand die Pistole. Er hielt sie zuerst Martha an den Kopf, dann schaute er sich um.
"Was macht Ihr hier für einen Lärm?"
"Wir hatten Streit", erwiderte Henry und hielt das Kissen vor die Brust, um seine Erregung zu verbergen. "Sie hat die falschen Bezüge auf´s Kissen gezogen“
Der Fremde schaute auf Martha, die sich ihre rote Wange rieb. Dann drehte er sich um und blickte zum Schrank.
„Aha. Kleine Ehekrise. Und Ihr habt schon die neuen Kissenbezüge herausgeholt, was?" dabei riß er den Inhalt des Schrankes heraus. Jedes Fach einzeln. Prasselnd fielen die Patronen auf den Boden. "Oh eine ganz besondere Kissenfüllung. Was? Nur schade, wenn der entsprechende Abzug fehlt."
Er lachte, dann riß er Henry aus dem Bett und stülpte die Matratzen um.
"Mmh", murmelte er. "Wollte nur sicher gehen, daß ihr euch nicht das Kreuz kaputt macht, heute nacht."
Er ging zum Fenster und schaute hinaus.
"Ja bei offenem Fenster schlafen ist gesund", er drehte sich um. "Und ihr wollt doch gesund bleiben, nicht wahr?"
Bevor er ging, nahm er den Schlüssel mit. Das war vor drei Stunden.

Jetzt liegen sie in ihrem Bett und wagen es nicht zu sprechen. Vor einigen Minuten ist der Fremde auf sein Zimmer gekommen. Sie haben deutlich gehört, wie er abgeschlossen hat. Nun geht er auf und ab. Er hat keinen Anfall, er geht nur. Scheinbar läuft er zwischen Fenster und Tür hin und her. Seine Schritte dringen zu ihnen, der Takt überträgt sich auf ihre Herzen.
Endlich ist es still, sie hören das Knarren des Bettes. Die Zeit verstreicht viel zu langsam. Wie lange braucht er, um einzuschlafen? Schläft er überhaupt? Nach einer halben Ewigkeit stößt Martha ihren Mann an und flüstert ihm ins Ohr:" Haben wir das Gewehr noch?"
"Ich weiß es nicht genau", flüstert er zurück.
"Dann geh´ und schau nach", sagt sie.
Langsam, in Zeitlupe hebt sich Henry aus dem Bett. Er verflucht sich, weil er die Federn nicht mal eher geölt hat. Jetzt ist es zu spät. Endlich kniet er vor dem Bett. Statt zu laufen, versucht er auf allen Vieren zu rutschen, um keine lauten Geräusche zu machen. Martha kann im Mondlicht erkennen, wie er die Knie hebt, um selbst Schleifgeräusche zu vermindern. Endlich ist er am Fenster. Einen Moment lauscht er, ob sich im anderen Zimmer etwas bewegt. Doch bis auf das aufgeregte Atmen seiner Frau ist nichts zu hören. Er richtet sich langsam auf und lehnt sich hinaus. Draußen zirpen ein paar Grillen. Er wagt fast nicht, nach rechts zu schauen. Fast erwartet er dort das grinsende Gesicht des Fremden zu sehen, der mit der Pistole auf seinen Kopf zielt. Doch da ist nur die Hauswand, deren mattes Grau das Mondlicht reflektiert. Der andere hat nicht einmal das Fenster offen. Darum erschrickt Henry nur kurz, als er das Gewehr aus der Dachrinne hebt und dabei ein blechernes „Bloing“ erzeugt.
Endlich hält er die Waffe in der Hand. Ihre Schwere beruhigt ihn ein wenig, doch er weiß nicht, ob sie noch funktioniert. Und er weiß nicht, ob er sie benutzen kann. Schließlich hat er einen Schwur geleistet am Grabe seines Sohnes.
"Pst!"
Martha winkt vom Bett. "Was ist?", flüstert sie.
Er winkt ihr, daß sie sich ruhig verhalten soll. Dann lässt er sich auf die Knie nieder krabbelt mit drei Beinen zum Bett, wo er sich über seine Frau auf seine Seite rollt. Dort hält er inne und lauscht dem Pochen seines Herzens. Er hat das Gewehr in er Hand. Seit fast zehn Jahren hält er wieder eine geladene Waffe in der Hand. Er zittert.
"Was ist jetzt? Bring es hinter dich", unterbricht ihn Martha flüsternd.
"Was?"
"Du sollst ihn wegpusten."
"Bist du verrückt? Das wäre Mord."
"Henry. Der Mann terrorisiert uns seit fast 25 Tagen."
"Aber wir haben nix gegen ihn in der Hand, außer einer toten Katze, die wir selbst gebraten haben."
"Und was ist mit der Pistole. Hä? Was ist mit der verdammten Pistole, die ich mindestens einmal pro Tag am Kopf habe, denkst Du vielleicht mal daran", sie stößt ihn in die Rippen.
"Ja verdammt nochmal.", Henry versucht die Lautstärke zu verringern. "Ich denk´ die ganze Zeit dran. Wir kommen sowieso nicht rein, er hat abgeschlossen."
"Dann zerschieß das Schloß!"
"Damit er mich erschießen kann, wenn ich durch die Tür komme, außerdem habe ich nur zwei Schuß und wer weiß, wieviele er in dem Magazin hat."
Sie schweigt.
"Und außerdem Martha, weißt Du ganz genau, daß ich es nicht mehr kann. Ich hab´s geschworen. Vor Dir habe ich es geschworen, niemals eine Waffe mehr anzufassen."
Sie schweigt noch immer.
"Er ist krank, er kann nix dafür. Ich meine, wir müssen ihn einfach überrumpeln. Er braucht Hilfe..."
"Verdammt Henry, dann mache ich es eben", sagt Martha plötzlich, sie greift nach der Waffe. Er hält jedoch fest.
"Vielleicht wartet er hinter der Tür auf Dich. Dann hätte er einen Grund, dich zu erschießen."
Das scheint sie zu überzeugen, doch nur für einen Moment.
"Das ist mir verdammt noch mal egal, ich kann nicht mehr! Verstehst Du? Lieber tot, als so weiter zu vegetieren!, die letzten Worte preßt sie laut hervor, während sie versucht, Henry das Gewehr zu entwinden.
"Pst!"
Sie lauschen. Drüben bewegt sich jemand. Das Bett knarrt. Sie hören schleichende Schritte. Nicht die Schritte, die er sonst immer machte, sondern langsame vorsichtige Schritte. Die Tür des anderen Zimmers knarrt. Plötzliche Stille. Dann knarrt sie wieder. Er tappt den Gang entlang. Dabei versucht er leise zu sein, aber es klappt nicht, man hört, wie er ein Bein nachzieht. Die Schritte kommen näher, Martha klammert sich an ihren Mann, der sie abschüttelt und den Hahn spannt.
"Jetzt gilt es", denkt er. "Ich muß es tun. Wir oder er."
Eine Hand schabt tastend an der Tür entlang. Sie findet die Klinke und drückt diese langsam nach unten. Die Tür öffnet sich langsam nach innen. Henry hält den Atem an. Wo ist er? Hinter der Tür, wartet er draußen? Was soll er tun? Er kann den keuchenden Atem des Anderen hören. Er atmet laut, aber Henry kann nicht ausmachen, wo er steht. Er spürt Marthas Druck an seinem Bein.
"Schieß doch.", scheint sie zu flehen. Da, die Umrisse der Pistole zeichnen sich klar von der Wand ab. Der Fremde muß jetzt direkt hinter der Tür stehen. Henry zögert nicht und schießt. Zweimal in die Höhe, wo er die Brust vermutet. Einen in die Mitte der Tür und einen links versetzt. Holz splittert. Ein Körper fällt mit einem Seufzen zu Boden. Sie hören noch ein kurzes Röcheln, dann ist alles still.
Die beiden hocken erstarrt im Bett. Martha läßt seufzend die Luft entweichen, während Henry realisiert, daß er keine Munition mehr hat. Er springt auf und entwindet der Hand die Pistole. Sie schlittert über den Holzboden und bleibt polternd liegen.
"Es ist vorbei", flüstert er. "Gott sei dank ist es vorbei."

Am Morgen des 26. Tages erwachen sie auf ihrem Sofa. Einen Moment überlegt Henry, ob er alles nur geträumt hat, doch der brummende Eisschrank erinnert ihn an das Erlebte. Irgendwie hatte er es geschafft Martha in der Nacht nach unten zu bringen, vorbei an dem Toten, der noch immer oben in der Tür lag. Dann war er auf ihr Bitten noch einmal nach oben gegangen, um den Mann zu untersuchen. Er war wirklich tot. Die Pistole nahm Henry mit nach unten, um ganz sicher zu gehen.
Nach dem Frühstück setzt sich Martha vor den Fernseher und starrt in die dunkle Mattscheibe. Henry geht nach oben, um das Zimmer zu untersuchen. Es hat sich kaum verändert. Peters Bilder hängen an ihrem Platz. Der Schrank wurde scheinbar geöffnet, aber Henry kann nichts ungewöhnliches feststellen. Auf dem Boden neben dem Stuhl steht der Rucksack. Henry setzt sich. Auf dem Tisch liegen Tablettenschachteln und Verpackungsbeilagen. Daneben ein Zettel auf dem steht: "Noch 100 noch 96 noch 92", die Zahlen gehen mit immer größeren Abständen nach unten, sind teilweise durchgestrichen.
Dann erblickt er das Foto. Darauf sind eine Frau und ein Junge abgebildet. Sie lachen beide in die Kamera. Henry dreht das Foto um, erkennt ein Datum. 16.4. vor drei Jahren. Und daneben mit anderer Handschrift:" Lesen Sie den Brief."
Der Brief liegt unter dem Foto. Er ist gefaltet und mit Hand geschrieben. Die Schrift von unterschiedlicher Qualität, scheinbar hat er daran an mehreren Tagen geschrieben.
Henry liest:

Lieber Henry, lieber Martha,
wenn Sie diesen Brief lesen, werde ich tot sein. Jedenfalls hoffe ich das. Sonst wäre alles umsonst gewesen. Wenn dem so ist dann bleibt mir nichts anderes, als mich bei Ihnen beiden zu entschuldigen und zu bedanken. Sie haben das getan, wozu ich nicht fähig war. Ich weiß, daß Ihnen meine Entschuldigung nicht das zurückgeben kann, was sie durchgemacht haben und daß es scheinbar so leicht ist, dies zu Papier zu bringen, aber Sie können mir glauben, daß ich für das büßen mußte, was ich Ihnen und anderen angetan habe.
Ich habe einen Tumor im Kopf. Es fing mit Kopfschmerzen an, die ich auf die Arbeit schob, bis ich mich untersuchen ließ. Der Arzt sagte, es sei bereits zu spät. Er sagte, man könne es herauszögern, indem man operiere. Vielleicht um drei bis vier Monate, aber er sähe keine Chance. Wie Sie sehen können habe ich eine Frau und einen Sohn. Er heißt auch Peter und ist jetzt acht. Ich wollte ihnen das nicht antun. Einen sterbenden Vater, der mit Tabletten den Schmerz betäubt und der von Anfällen geplagt solange die Menschen terrorisiert, bis man ihn wegschließt, damit er dort sterben kann. Ich hoffe, sie können es nachvollziehen, daß ich mir eine Waffe kaufte und in den Wald fuhr. Ich hatte acht Schuß. Aber ich konnte es nicht. Bei Gott, ich schwöre es. Ich habe es versucht. Mehrfach habe ich mir die Pistole gegen die Schläfe, in den Mund gehalten, aber ich konnte es nicht. Wissen Sie, wie das ist, wenn man von einem auf den nächsten Tag erfährt, daß man Sterben muß. Und es dann auch noch selbst tun muß, obwohl es eigentlich keinen Grund gibt. Man fühlt sich noch wohl und so lebendig, bis auf einige Kopfschmerzen. Man hat Pläne, am Tag zuvor hat man mit der Frau noch über den nächsten Urlaub geredet. Wissen Sie, man kann es nicht sehen. Man kann es nicht anfassen. Aber man weiß, daß man sterben muß. Und die Lebensversicherung würde nicht zahlen. Bei Selbstmord zahlt sie nicht, das haben sie extra reingeschrieben. Ich dachte an meinen Sohn und meine Frau, als ich in dem Wald saß. Ich hatte Angst, plötzlich hatte ich Angst, daß sie mich nicht verstehen, daß sie mich verfluchen, daß sie die Schuld bei sich suchen und ich nahm die Pistole aus dem Mund und feuerte meine acht Schuß in einen Baum. Und während der Knall verhallte, bereute ich es. Ich hatte mich absichtlich um meine Chance gebracht. Ich aus dem Wald, kaufte mir Schmerztabletten und fuhr umher. Irgendwo stieg ich aus. Und rannte und weinte und rannte. Ich verlief mich, übernachtete in einer Wanderhütte, irrte wieder umher und dann stand ich vor ihrem Haus. Und ich schwöre, ich wollte nichts von Ihnen. Ich kannte Sie doch gar nicht, warum sollte ich etwas von Ihnen wollen?
Sie nahmen mich auf, erzählten mir von Ihrem Sohn und den Steinbrüchen. Das war die Lösung! Es würde ein Unfall sein. Ein Unfall in den Steinbrüchen. Ich war so aufgeregt, ich konnte nicht schlafen, ich wollte sofort los, ich wollte es hinter mich bringen, bevor ich wieder schwach würde. Darum stand ich auf, sobald ich annahm, daß sie schliefen. Als ich auf den Gang kam, saß dort die Katze und miaute. Ich nahm sie auf den Arm und streichelte sie. Ich wollte nicht, daß sie Sie weckte. Ich wollte auch kein Licht anmachen. Auf der Treppe zappelte die Katze, ich verlor das Gleichgewicht. Sie sprang fort - irgendwohin, ich weiß nicht wohin.
Später als Sie schliefen, schmerzte das Knie und ich wollte meine Schmerztabletten nicht verbrauchen. Da entdeckte ich die Eismaschine. Und als ich die Becher suchte, fand ich den Zeitungsausschnitt und wußte nun, daß sie eine Waffe besaßen. Ich wußte nicht, ob sie noch im Haus war, ich wußte nicht, was sie unternehmen würden, ich wußte nur, daß ich es nicht mehr zum Steinbruch schaffen konnte.
Also mußte ich sie dazu bringen, daß sie mich erschießen. Verstehen Sie? Ich hatte keine Wahl! Ich hatte Angst! Ich wollte leben und ich mußte sterben. Und auf der anderen Seite mußte ich leben und wollte sterben.
Sie hätten es nicht getan. Sie hätten es niemals getan, wenn ich sie darum gebeten hätte. Wenn ich weinend vor Ihnen auf den Knien gelegen hätte, auch dann hätten sie mich nicht erschossen. Dessen war ich mir sicher. Wenn Sie gewußt hätten, daß ich krank war und keine Pistole gehabt hätte, dann hätten sie mich der Polizei übergeben und die wiederum meiner Familie. Das hätte ich auch getan. Also mußte ich in diesem Haus bleiben und sie dazu bringen, daß sie mich hassen, daß sie mich so hassen, daß sie ihre Waffe suchen und diese auf mich richten und ohne Reue, ohne Erbarmen, ohne Skrupel abdrücken würden.
Den Rest kennen sie. Natürlich habe ich nicht mit einem Freund telefoniert, da war niemand am Telefon. Das Telefon habe ich noch in der ersten Nacht lahm gelegt. Ich mußte Zeit gewinnen. Und ich mußte verhindern, daß Ihnen jemand hiflt, darum versteckte ich mich, als Joe kam.
Doch sie haben nichts gemacht, selbst als ich Ihnen meine Waffe zeigte, sie bedrohte, haben Sie nichts getan. Ich hörte, wie sie davon sprachen, aber ich wußte nicht, wo sie war. Ich wußte nicht, ob Sie die Waffe hatten oder nicht, ich mußte es herausfinden.
Darum habe ich den Anfall mit dem Beil vorgetäuscht, ich habe das Haus durchsucht, nach der Waffe. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich sie gefunden hätte. Aber ich fand sie nicht. Statt dessen fand ich die Katze und mein ganzer Hass bündelte sich auf die Katze, ich gab ihr die Schuld an dem Mißgeschick mit der Treppe. Sie war so zutraulich...Es tut mir leid."

An dieser Stelle war mit krakeliger Schrift geschrieben worden:
"Heute wolltet Ihr mich vergiften. Wie eine Ratte vergiften!"
Dann folgte wieder die gewohnte Handschrift.
"Das Vergiften war keine schlechte Idee, allerdings habe ich solche Angst vor einem grausamen Tod. Warum können Sie nicht einfach das Gewehr holen und mich erschießen? Ich werde Sie dazu ermuntern müssen."
Darunter wieder mit anderer Schrift.
"Gott Henry, warum tust Du´s nicht! Was muß ich tun? Damit Du es zu Ende bringst, meine Tabletten werden immer weniger. Ich habe Angst, daß ich etwas schreckliches mache."
Ganz unten dann der letzte Eintrag.
"Heute Nacht ist es soweit, ich werde es riskieren. Es geht nicht mehr. Ich hoffe, daß Sie es tun und ich hoffe, daß Sie mich treffen werden. Ich habe Angst, aber ich werde es tun. Leben Sie wohl.
In ewiger Dankbarkeit Neil
P.S. Wenn ich Sie um einen Gefallen bitten darf und Ihnen einen Rat geben kann: Vergraben Sie mich irgendwo im Wald, wie ich es erwähnte. Möglicherweise wird Ihnen der Sheriff nicht glauben, wenn er erfährt, daß die Pistole leer ist. Und ich würde nicht wollen, daß Sie wegen mir Probleme bekommen. Auch für meine Familie wäre es so das Beste, denn in zehn Jahren würde ich endgültig für tot erklärt werden und die Versicherung würde zahlen. Peter wäre dann genau achtzehn. Ich bin sicher, Sie tun das Richtige."

Henry sitzt eine Weile da und starrt aus dem Fenster, dann holt er die Pistole aus der Tasche und untersucht sie. Es ist tatsächlich keine einzige Patrone im Magazin. Er starrt auf die Waffe, dann hebt er sie, wie es Neil so oft getan hatte, langsam an den Kopf. Er drückt das kalte Metall gegen die Stirn und preßt die Augen zusammen. Ein leises Schluchzen entweicht seiner Brust.
"Henry!", Martha steht in der Tür. "Was machst Du da?"
Henry steht auf und umarmt seine Frau. "Würdest Du mir bei einer Sache helfen?", fragt er.
"Was ist Henry? Du bist so komisch. Was hast Du vor?"
"Ich geh´ nach draußen ein Loch graben. Kannst Du hier all seine Sachen zusammensuchen und hinterm Haus verbrennen?"
Er geht zum Haken und setzt sich seine Mütze auf. Zum ersten Mal seit Wochen spürt er, daß er etwas machen wird, was er selber will.
Oben steht Martha und schaut verwundert auf ihren Mann. "Aber Henry, wieso denn das?"
"Mach´s einfach", sagt Henry. Er geht nach draußen und zündet dabei den Brief an.
Sie haben nie viel miteinander gesprochen. Über manche Dinge spricht man eben nicht.

 

Hi macsoja,

da mag man sich ja kaum noch zwischen stecken, in Euer Dreiergespann :D

Darum werde ich auch nicht mehr viel zu deiner KG sagen.
Ich bin kein Fan von langen Kurzgeschichten. Doch deine war so spannend, dass ich sie zu Ende lesen mußte. :thumbsup:
Sprachlich sind mir einpaar Unebenheiten aufgefallen.
Möchte mich jetzt, zu dieser späten Stunde, aber nicht weiter dazu äußern.
Vielleicht fällt es dir, nach nochmaligem langsamen lesen selber auf.

Kann mir aber vorstellen, dass du "müde" geworden bist, nach den schon hinter dir liegenden Korrekturen. :shy:

Deine Auflösung in dem Brief, finde ich gut. Lässt sie doch aufkommende Fragen im Keim ersticken.

Tut mir echt leid, der "Junge". Ist wirklich nicht einfach jemanden zu finden, der einem das Leben nimmt, zumindest nicht dann, wenn man es selber will.

Nochmal: Spannende Geschichte, die ich gerne gelesen habe. :)

liebe Grüße, coleratio

 

So macsoja,
dann wollen wir mal:

Zu Beginn hatten sie nicht mitgezählt, aber später hatten sie in den Kalender geschaut und zurückgeblättert zu jenem Tag, als er zu ihnen gekommen war. Es war der 8. Juni, als er eines Abends vor dem Haus stand.
Zweimal als. Liest sich nicht so schön. Ist glaube ich von der Zeit her nicht ganz richtig. Müsste eigentlich Plusquamperfekt sein, oder? Bin aber auch kein Fachmann. Vielleicht Am Abend des 8. Juni hatte er vor ihrem Haus gestanden.

An Gepäck hatte er einen mittelgroßen Rucksack, den er sofort vom Rücken nahm, als sie öffnete.
Mittelgroß würde ich streichen. Jeder Rucksack ohne genauere Beschreibung ist mittelgroß.

Einmal war er kurz davor gewesen, es mit dem Hammer herauszuschlagen.
Es? Du meinst die Schrift? Irgendwas stimmt da nicht oder habe ich da irgendwas böse überlesen?

Henry, ihr Mann, hatte auf der Straße, die zu ihrem Grundstück führte, sogar ein Schild aufstellen lassen, auf dem stand: 'Pension geschlossen".
Ein Henry, ihr Mann reicht.

"20 Kilometer von hier an der Straße. Oder steht es nicht mehr?"
Ist ein zwanzig Kilometer weit entferntes Schild nicht ein bisschen weit weg? Zahlen bis 100 ausschreiben (100 nicht mehr :D ).

Es war offen und zeigte keinerlei Anzeichen, was zu irgendwelchem Mißtrauen Anlaß hätte geben können.
Anzeichen und was passen nicht zusammen. Anzeichen und die schon.

Alle anderen Zimmer im anderen Flügel des Hauses waren seit fast zehn Jahren nicht mehr geöffnet worden.
Wortwiederholung

„Miska, Miska. Ksksksk“, Martha machte ein Geräusch wie kaltes Wasser, das auf eine heiße Herdplatte fällt.
:D

Damit gingen sie schlafen.
Ziemlicher Zeitsprung. Ich denke, er prellt sich kurz nach Morgengrauen das Knie?

Da Henry sich weigerte, sie ins Krankenhaus schaffen zu lassen, immerhin hatten sie dort auch seinen Sohn sterben lassen, kam Joe alle vier Tage vorbei und brachte ein paar Sachen.
Dieses immerhin ist mehr als deplaziert.

Ein Jahr später verkaufte Henry aufgrund seiner schlechten Augen seinen eigenen Wagen.
eigenen kann weg.

"Joe gut, daß Du kommst, wir haben einen Schwerverletzten.“
Schwerverletzten?

Joe hatte das Gefühl, daß die beiden übergeschnappt waren.
Seine Reaktion ist doch ein wenig übertrieben, zumal er ja anscheinend ein Freund der Familie ist.

Kleiner Einwurf: Die Szene, in der Joe den Fremden abholen soll, ist doch sehr arg konstruiert.

"Das geht nicht", sagte der Fremde traurig aber bestimmt. "Ich habe keine Versicherung. Sie werden mich nicht mitnehmen."
Wo bitte spielt die Geschichte? Auch ohne Versicherung hat jeder Anspruch auf ärztliche Hilfe.

"Du lügst. Du holst sie morgen sofort vom Dachboden! Sie liegt auf dem dritten Querbalken rechts außen."
Wäre es nicht wesentlich klüger die Waffe noch in der Nacht zu holen? Im Übrigen finde ich, dass die Beiden die ganze Geschichte ein bisschen zu locker sehen.

Als Henry am nächsten Tag auf den Dachboden ging, fehlte die Waffe.
Vielleicht war die Waffe verschwunden?

Und dann waren sie Geiseln. Sie mußten ihm die Waffe abnehmen.
Wie wärs denn damit die Bullen zu rufen und danach einfach in den Wald zu laufen? Von mir aus auch in der Nacht.

"Es tut mir leid", murmelte er. „Aber wir dürfen uns nicht gehen lassen. Er merkt alles. Er verbindet sich mit dem Haus. Er sieht und hört alles."
Er verbindet sich mit dem Haus? Nur, weil er die Waffe auf dem Dachboden weggeschafft hat?

Dann wählte er die Nummer der Polizei. Bereits vor der dritten Zahl merkte er, daß das Telefon tot war.
Ok, so viel zu meiner Idee. :Pfeif:
Ich wäre trotzdem einfach abgehauen, bevor der Psycho mich umbringt, aber na gut. Sind anscheinend sehr häusliche Menschen.

"Ninein", Henry prostete ihm mit dem Wein zu.
Ninein? Du meinst doch bestimmt nahein, oder?

Er gab ihr unter dem Tisch ein Zeichen.
Haben die Beiden sich denn nicht vorher abgesprochen?

Die folgenden Tagen verliefen monoton.
Ist ja auch kaum was los bei denen...

"Nein Joe", kreischte Henry. "Bleib´ da, hörst du? Bleib um Himmelswillen stehen. Ich bring´ mich sonst um."
Eigentlich müsste Joe jetzt auf jeden Fall die Bullen rufen oder ein Arzt.

"Was ist jetzt?", unterbricht ihn Martha flüsternd.
"Was soll sein?"
"Geh´ rüber und mach´ ihn kalt!"
"Was?"
"Du sollst ihn wegpusten."
"Bist du verrückt? Das wäre Mord."
"Henry. Der Mann terrorisiert uns seit fast 25 Tagen."
"Aber wir haben nix gegen ihn in der Hand, außer einer toten Katze, die wir selbst gebraten haben."
"Und was ist mit der Pistole. Hä? Was ist mit der verdammten Pistole, die ich mindestens einmal pro Tag am Kopf, denkst Du vielleicht mal daran.", sie stößt ihn in die Rippen.
"Ja verdammt nochmal.", Henry versucht die Lautstärke zu verringern. "Ich denk´ die ganze Zeit dran. Wir kommen sowieso nicht rein, er hat abgeschlossen."
"Dann zerschieß das Schloß!"
"Damit er mich erschießen kann, wenn ich durch die Tür komme, außerdem habe ich nur zwei Schuß und wer weiß, wieviele er in dem Magazin hat."
Sie schweigt.
"Und außerdem Martha, weißt Du ganz genau, daß ich es nicht mehr kann. Ich hab´s geschworen. Vor Dir habe ich es geschworen, niemals eine Waffe mehr anzufassen."
Tut mir leid, aber der Dialog gefällt mir überhaupt. Die Beiden werden seit fast einem Monat terrorisiert und fast täglich wird ihr Leben bedroht und trotzdem ertragen sie es, anstatt einfach wegzulaufen. Und jetzt, da sie endlich das Gewehr gefunden haben, diskutieren sie über ihr weiteres Vorgehen wie über das morgige Abendessen?
Macsoja, wo ist die Verzweifelung, die Angst, der Zorn?

"Das ist mir verdammt noch mal egal, ich kann nicht mehr! Verstehst Du? Lieber tot, als so weiter zu vegetieren!, die letzten Worte preßt sie laut hervor, während sie versucht, Henry das Gewehr zu entwinden.
Da ist wenigstens ein Anflug, aber viel zu wenig.

Er ist gefalten und mit Hand geschrieben.
gefaltet

Wenn dem so ist und in meinem derzeitigen Zustand, kann ich dies nur hoffen, bleibt mir nichts anderes, als mich bei Ihnen beiden zu entschuldigen und zu bedanken, das zu tun, wozu ich nicht fähig war.
Lies Dir den Satz mal bitte laut vor.

Auf die Katze, die ich noch im Arm hielt. Vielleicht hat sie mir das Leben gerettet.
Nein, ich denke nicht, dass sie das getan hat.

"Das Vergiften war keine schlechte Idee, allerdings habe ich solche Angst vor einem grausamen Tod. Warum können Sie nicht einfach das Gewehr holen und mich erschießen? Ich werde Sie dazu ermuntern müssen."
Ich glaube, dass kann auch derbe weh tun, wenn Du Deine Gedärme nach einem Bauchschuss in den Händen hälst, aber noch ein paar Stunden lebst.

Aber beeil´ Dich, es könnte sein, daß Joe bald mit der Polizei anrückt."
Ich denke, dass die Bullen schon lange da gewesen wären, wenn er sie gerufen hätte.

Puuuuh, geschafft... :D
Also, vieles habe ich schon beim Zitieren angemerkt, wobei manches natürlich stark subjektiv ist. Außerdem habe ich mich natürlich hauptsächlich auf Fehler konzentriert, die guten Stellen kennst Du bestimmt selber besser.
Die Idee Deiner Geschichte ist gut. Jemand beschließt zu Sterben, merkt aber dass ihm der Mut dazu fehlt. Ok, also muss es jemand anders erledigen. In unser so wahnsinnig zivilisierten Welt wird aber niemand einfach so umgebracht (außer er besitzt Ölfelder), also muss der Kandidat ausreichend getriezt werden.
Die Umsetzung ist mir persönlich jedoch viel zu zäh. Das Ganze zieht sich zu stark in die Länge. Was mich persönlich jedoch am meisten auf die Palme gebracht hat, sind die logischen Fehler bzw. das unlogische Verhalten Deiner Prots. Ok, man kann natürlich alles ausreichend begründen, aber vieles ist einfach nur nicht nachvollziehbar und wirkt stark konstruiert.
Ich glaube, Du bist ein wenig über Dein Ziel hinausgeschossen. In der Absicht, Deine Message klar rüberzubringen hast Du leider ein wenig übertrieben. das Terrorregime des Fremden dauert einfach zu lange und die Beiden nehmen es zu lange hin.
Insgesamt ist Deine Geschichte eigentlich ganz gut. Ich glaube, deshalb habe ich mich an manchen Stellen ziemlich aufgeregt.

In diesem Sinne,

Peace Jorgo

 

Ha, endlich melden sich auch noch andere zu Wort! Ich bin auch schon so tief in der Geschicht drin, dass ich die Stellen, die Don Jorgo zu Recht kiritisiert hat, gar nicht mehr sehe!

@Macsoja: Die Auflösung mit dem Brief nimmt mir nicht die Spannung weg, im Gegenteil, ich war gespannt, wie er alles auflösen würde. Allerdings hätte ich Henry ohrfeigen können, als er den Brief verbrannte, bevor der Fremde beerdigt war, weil ich auch jeden Moment mit der Polizei gerechnet habe! Irgendjemand schrieb mal, ein Hauptfehler von Autoren sei, wenn sie ihre Helden nicht leiden lassen wollen!!! Ist manchmal nicht leicht! Don Jorgo hat recht, die Sache zieht sich zu lang, ist zu unwahrscheinlich.
Nochmal zur Katze: Wenn jemand auf der Treppe stürzt, wedelt er mit den Armen und versucht sich festzuhalten. Bis er stürzt, ist auch ein Kater-Tatter-Greis (tolles Wort! :D)) längst weg!
Gruß
tamara

 

Hallo macsoja

Ich muss sagen: Wow. du hast die ganze Geschichte ziemlich verändert. Da tun sich ja ganz neue Tatsachen auf. Hat mir so noch viel besser gefallen. :D

Ein bisschen Textkram hab ich noch gefunden.

Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sie mit dem Beil umgebrachte.
umgebracht

Was ist mit der verdammten Pistole, die ich mindestens einmal pro Tag am Kopf, denkst Du vielleicht mal daran.", sie stößt ihn in die Rippen.
hatte fehlt nach Kopf

"Verdammt Henry, dann mache ich es eben.", sagt Marthe plötzlich, sie greift nach der Waffe.
Martha

auf dem Boden der Eismaschine in einem Karton, den ich fand, als ich Eisgefäße sucht.
suchte

Sie mich treffen werde.
werden

Liebe Grüße und danke für die PN, Susie

 

Danke an die "Kritiker" ;)

Was mich interessiert:

tamara schrieb:
Irgendjemand schrieb mal, ein Hauptfehler von Autoren sei, wenn sie ihre Helden nicht leiden lassen wollen!!!
Den Inhalt der Aussage verstehe ich ungefähr, den Bezug auf das "Anzünden" aber nicht so richtig.
Wie interpretierst Du das Anzünden des Briefes? Das er sich irgendwie schützen will?

Und noch viel wichtiger:

tamara schrieb:
Don Jorgo hat recht, die Sache zieht sich zu lang, ist zu unwahrscheinlich.
Don Jorgo schrieb:
das Terrorregime des Fremden dauert einfach zu lange und die Beiden nehmen es zu lange hin.

Wo hattet Ihr das Gefühl, daß sie nicht alle vorhandenen Möglichkeiten ausschöpfen, daß sie es unnatürlich hinnehmen, was ihnen passiert? Dann muß ich dort noch etwas anziehen. Aber es sollte eine Balance sein zwischen
a) hinnehmen, denn sie sind unglück gewohnt und es ist auch so, daß sich der Mensch oftmals in bestimmte Dinge fügt, weil er keine Möglichkeit sieht und dies zwingt den Fremden dann auch zu neuen Aktivitäten, außerdem hat Henry auch noch andere Konflikte
b) aufgeschreckt werden durch neue Vorkommnisse, die sie zum Handeln zwingen

Also wo wird es unnatürlich? Wo zu lange, wo würde man (reinversetzt in die Lage der Alte!) was unternehmen?
Wohlgemerkt, daß hier ist nicht MacGyver, der mit dem Taschenmesser möglichst schnell raus muß. Das sind Menschen (ich hoffe, das kommt raus), die sich in ihr Schicksal fügen, die etwas eigensinnig sind und sich nix sehnlicher wünschen, als in Ruhe gelassen zu werden.

Don Jorgo schrieb:
Ich glaube, deshalb habe ich mich an manchen Stellen ziemlich aufgeregt.
Nehme ich als Lob, denn das ist beabsichtigt. Einerseits das Einfühlen in die Situation der Alten, anderseits das Unzufriedenheit, wie sie vieles einfach so hinnehmen.

Die Rechtschreibfehler mache ich heute Abend raus...

grüsse

mac

 

Hallo Macsoja,
also wenn du im letzten Moment die Polizei hättest kommen lassen und er hat den Brief schon verbrannt, dann hätte dein Prot gelitten! Das meinte ich, davor hast du dich gedrückt. Ich finde den Schluss trotzdem so in Ordnung.
Was genau unrealistisch ist, kann ich gar nicht so genau sagen. Es stimmt schon, dass du die beiden als recht eigensinnig charakterisierst. Ich glaube, es ist einfach, dass es sich so lange hinzieht und die ganze Situation einfach wahnsinnig ist. Das ist anderseits auch das Gute an der Geschichte! Am ehesten könnte ich noch aufzählen, dass die beiden nie die Möglichkeit in Betracht ziehen, bis zur nächsten Straße zu laufen. Das könntest du ruhig erwähnen und Arthrose oder ähnliches als Gegenargument bringen. Zum Trost: Auch bei Thriller-Bestsellern kommt mir die Handlung manchmal recht unwahrscheinlich vor, manchmal gibt es sogar arge Schnitzer.
Ich hoffe, das hilft dir
Gruß
tamara

 

Hi Tamara,

ganz kurz, weil bin mitten im Überarbeiten:

Joa. Vor einer Stunde sind sie in den Wald gelaufen, weil zur Straße (20 km weit) war es ihnen zu offensichtlich. Habe ich wieder gelöscht. Sie müßten reden, sie müßten zusammenumkehren und das alles, ohne das er es bemerkt und sie müßten den Entschluß fassen, es nicht nochmal zu probieren.
Nun habe ich es eher theoretisch gemacht. Also sie denken nur drüber nach. Sie laufen gar nicht erst los. So wird es sein. Martha hat was mit der Hüfte, ich definiere das nicht, denn sie gehen ja nicht zu Arzt.

Mal sehen, ja doch ich versuche es so nachvollziehbar, wie möglich zu machen.

bis dann

mac

 

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