Die Kutschfahrt eines Advokaten
Mit Verlaub möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen, fürwahr – eine unglaubliche Begebenheit, wie sie sich vor ungefähr 20 Jahren ereignete und mich seit jenem Zeitpunkt nicht mehr losließ.
Meine lieben Leser, Sie werden meinen, ich sei von Sinnen. Eine derart nebulöse Geschichte kann nicht wahr sein, zumindest nicht so, wie vom Erzähler hier wiedergegeben. Aber ist es doch die Eigenschaft eines Schriftstellers, seiner bisweilen überschwänglichen Phantasie freien Lauf zu lassen. Und gütig verzeihen Sie mir meine Torheit, Ihnen ein Märchen auftischen zu wollen. Jedoch, mein lieber Leser, ich muss es der Wahrheit halber sagen: Diese Geschichte ist sehr wohl authentisch.
Nun, ob Sie mir Glauben schenken oder mich als dreisten Botokuden abtun, diese Entscheidung überlasse ich Ihnen. Aber sagen Sie später nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.
Bisweilen verlangt die menschliche Seele Abstand vom arbeitsreichen Alltag und Mensch begibt sich auf Reisen, wie auch ich es im Juli anno 1832 tat. Zum einem lechzt die humane Natur nach neuen Eindrücken, an denen sie sich erquicken kann Zum anderen fordert der Geist eines gebildeten Menschen neue Nahrung, von der er in leeren, dunklen Tagen zehrt. Auch ich versuchte stets der sich nach und nach einstellenden Monotonie meines arbeitsreichen Alltagslebens als Advokat zu entkommen, und so zog es mich Jahr für Jahr fort, hinaus ins Unbekannte – zu jenen Plätzen, die es zu bereisen lohnte. So sah ich schon den Harz und bestieg den Brocken, auch ist mir die Nordsee nicht unbekannt, durch dessen Watt ich Stunden watete, um kleine Muscheln und derlei zu sammeln, all jene Dinge, die einem erdgebundenen Wesen, wie der Mensch nun mal eines ist, optisch verwehrt blieben. Auch bereiste ich die Masuren und bestaunte die architektonischen Meisterwerke zwischen Berlin und Athen. Fürwahr, ich war ein Kosmopolit, wie man zu sagen pflegt, eine ruhelose, neugierige Natur, deren Seele die Abwechslung brauchte wie die Kreatur die Luft zum Atmen.
Nun, anno 1832 im Juli zog es mich wieder einmal fort. Innerlich fühlte ich mich ausgebrannt und leer. Es schien an der Zeit, Neues zu erhaschen und somit die Reserven aufzufüllen. In diesem Jahr gedachte ich einen kleinen Ort nahe Dresden zu bereisen, dessen Name mir – lieber Leser – leider entfiel. Ich hoffe, Sie verzeihen mir großzügig meine Vergesslichkeit. Auch denke ich, ist der Name des Ortes nicht bedeutsam und tut dem Verlauf der Erzählung in keiner Weise ab.
Des Morgens also saß ich in der Kutsche, um von Nürnberg zu diesem besagten Ort zu fahren. Ich war erfüllt von Freude, ein paar Tage Ruhe finden zu können, wohlverdient natürlich. Mag man bedenken, dass ich mir außer meinen jährlichen Ausflügen im Juli keinerlei Muße gönnte.
Mein Mitreisender stellte sich bald als Dresdner Advokat vor, somit vertrieben wir uns die Zeit der langen Reise mit Fachsimpeleien und derlei berufliches Gerede, was mir sehr willkommen schien, war ich doch ein sehr freimütiger und geselliger Mensch. Nichts lag mir ferner, als die Reise schweigend überstehen zu müssen und außer flüchtigen Blickkontakten keinerlei Verbindungen herzustellen. Der Name meines Mitreisenden, lieber Leser verzeih, auch dieser scheint in den Abgründen meines Unterbewusstseins irgendwo verschollen, eben in jenen Bereichen der Vergesslichkeit, zu denen man im Alter keinen Zugang mehr finden soll. Jedoch, ob sich jener nun Hans oder Gottfried rief, auch diesem Aspekt sollte keinerlei Bedeutung beigemessen werden.
Mein Mitreisender schien ein etwa dreißigjähriger junger Mann, fürwahr – ein Mann am Beginn seiner beruflichen Laufbahn, wohlbelesen und gebildet. Er sprach mit Eifer von seinem Beruf als Advokat und von seiner Liebe zur Gerechtigkeit. Sein Arbeitsgebiet schien bisweilen nicht als Beruf, sondern als Mission. Wie ein Pfaffe in seiner Kanzel mit Hingabe predigt, so referierte der mir durchaus sympathische junge Mann. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen Erfolg und war indes von diesem jetzt schon überzeugt.
Wir machten Rast, um den Pferden ihre wohlverdiente Ruhe zu gönnen. Derweil kehrten mein Mitreisender und ich in einem Gasthof ein, einer kleinen Pension. Wir ließen es uns bei Braten und Kuchen gut gehen,, speisten hervorragend und redeten bis tief in die Nacht über derlei Dinge, die für Männer unseres Standes von Bedeutung waren. Und alsbald ward mir, als reiste ich mit einem guten Freund, der mir vertraut und wohlgesonnen, als kannten wir uns seit Langem. Bald legten wir die Förmlichkeiten ab und begossen unsere neugewonnene Freundschaft mit ein zwei Schoppen Wein, der unseren Geist bald ein wenig zu benebeln gedachte und Müdigkeit – so schwer wie Blei - in unsere Glieder goss. Alsbald begaben wir uns auf unsere Zimmer. Meines am Ende des Flures im zweiten Stock, seines unterdes genau unter meinem im ersten. Fürwahr, mein Freund schien ein nimmermüder Gesell, der des Nachts reichlich Energie vergeudete, anstatt sich seinem wohlverdienten Schlaf hinzugeben. Zumindest tat ich in dieser Nacht kein Aug zu, obwohl die Müdigkeit mich hätte in einen tiefen Schlaf sinken lassen müssen. Bisweilen vernahm ich schlurfende Geräusche unter mir, als schreite einer auf und ab, ohne dabei die Füße angemessen zu heben. Dann wiederum kratzte und klopfte es an den Wänden. Ich tat also kein Aug zu und unterdes, um mir die Zeit zu vertreiben, setzte ich mich mit einem Humpen Gerstensaft ans Fenster, um meine Seele an der Vollmond beschienenen Nacht zu ergötzen. Hier und da schweiften meine Gedanken ab. Ich führte mir ein zweites und drittes Bier zu Gemüte, vielleicht in der Hoffnung, doch noch in den Schlaf zu sinken. Meine Sinne schwanden ein wenig. Nach dem fünften Humpen meinte ich, die schlurfenden Schritte aus dem Zimmer unter mir nun auf dem oberen Flur zu vernehmen. Indes saß ich vor dem Fenster und betrachtete den vollen, grellen Mond, der wie gemalt am Zenit über dem Hochmoor stand. Knorrige, blattlose Zweige und Stämme schienen im Mondlicht wie aus dem Moor ragende tote Hände, die sich einem entgegen streckten und stumm um Hilfe schrieen. Ich glaubte sie hören zu können, die zahlreichen, unschuldigen Toten dort unten im Morast. Und wie von Geisterhand zeichneten sich indes immaterielle Bilder vor meinem Auge ab, die ich nicht gerufen und die zu sehen ich momentan nicht wünschte. Sann ich doch Entspannung und Ruhe herbei, die ich mir durch meine Reise versprach. Nun jedoch zog mir mein Geist und meine Seele und vielleicht auch das Zuviel an Wein und Gerstensaft ein Strich durch die Rechnung, wie man zu sagen pflegt. Ich starrte wie benommen hinaus auf das Moor und lauschte gleichzeitig den Schritten, die sich hinter mir draußen auf dem Flur näherten. Ich schien bewegungslos, als hindere mich irgendetwas daran, mich umzudrehen und meine Augen auf die Zimmertür zu heften, in grausiger Erwartung dessen, was da kommen möge. Ich jedoch starrte... starrte und meinte indes, mein vom Alkohol betäubter Geist spiele mir einen Streich, indem er vor mir auf dem Moor etwas sichtbar werden ließ – was – gottlob – wohl doch eine Geistestrübung war... hoffte ich... betete ich...
Ich glaubte zu sehen, wie etwas aus dem Moor kroch, die hilfesuchenden, knochigen Finger tasteten derweil, griffen und zogen so nach und nach eine Gestalt aus dem morastigen Sumpf.
Nein, lieber Leser, ich bin ein durchaus realistisch und vernünftig denkender Mensch, dessen Weltbild nicht durch geisterhafte Erscheinungen infolge übermäßigem Bier- und Weingenusses ins Wanken gerät. Nein, sicher nahm mein Geist wahr, wie ein entwurzelter Baum ins Moor sank, sich gegebenenfalls nochmals hob. Einem sollte bewusst sein, zu welchen Illusionen die menschliche Psyche fähig ist, insbesondere im übermüdeten und teils betäubten Zustand. Fürwahr, ich musste mich zusammennehmen, um nicht an meinem Verstand zu zweifeln. Dies galt insbesondere, als sich hinter mir knarrend die Tür öffnete, als schöbe sie eine unsichtbare Gestalt auf. Ich versuchte zu erkennen, ob und wer dort auf dem Flur stand und um Einlass bat, ohne höflich zuvor durch Klopfen um diesen gebeten zu haben.
"Nun, mein Freund, treten Sie ein.", ließ ich höflich verlauten, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Doch vernahm ich ein Geräusch, dem Atmen ähnlich, nur lauter. Lieber Leser, fragen Sie mich nicht nach meinem Gefühl in jenem Moment. Auch hier mögen Sie verzeihen. Denn auch in diesem Augenblick, wo ich hier sitze und Ihnen mein Erlebnis schildere, ist es mir nicht möglich, etwas in mir auszumachen, das dem Gefühl von damals gleichkommt. Nun, dieser Aspekt scheint selbst mir ungewöhnlich. Namen und Ortschaften zu vergessen, mag man der Senilität des Alter zuschreiben. Jedoch, zu vergessen, was Angst ist, scheint selbst mir suspekt. Mag sein, oder nehme wir an, es war Angst, die ich empfand. Ich wünschte, ich könnte Ihnen meine Empfindungen näher bringen, und sei’s drum, Ihnen das Urteil zu überlassen, ob das Erlebte eine Halluzination – hervorgerufen durch Erschöpfung, Wein und Bier - war, oder es der Realität entsprach.
Nun, wie bereits geschildert, bat ich höflich, die Person möge eintreten. Bis zu jenem Zeitpunkt war ich mir nicht sicher, ob nicht auch der Wind die Tür geöffnet hat. Wind besitzt kein Benehmen und bittet nicht um Einlass. Ich bat noch mal, nun nicht mehr so höflich. Und plötzlich vernahm ich etwas, das wie ein Name klang. Und hier, lieber Leser, verlässt mich mein Erinnerungsvermögen nicht. Denn jener Name brannte sich in mein Gedächtnis und ist mir auch heute noch erhalten: Friedrich. Ich glaubte Friedrich zu vernehmen. Säuselnd, als flüstere ihn der Wind, der sich auf so unhöfliche Art und Weise Einlass verschaffte: Friedrich...
Des Morgens erwachte ich in einem Zimmer vor dem Fenster liegend, welches weit geöffnet war. Ich konnte mich bei Gott nicht erinnern, es selbst geöffnet zu haben, zumal jegliche Vorrichtung dafür fehlte.
Unausgeruht und schläfrig begab ich mich zum Frühstück. Am Tisch sitzend lächelte mir ein Freund entgegen – fragend – ob ich gut genächtigt habe, was ich ihm mit einem verlogenem Nicken bejahte. Lieber Leser, es ist nicht die Art meines Wesens zu klagen und Schlechtigkeiten preis zu geben. Ich empfinde ein Schlecht auf die Frage nach dem Befinden als unhöflich.
Derweil nahmen wir ein kleines Frühstück ein, bestehend aus gebratenem Speck, Eiern und Brot und begaben uns sodann zur Kutsche, um die Weiterfahrt Richtung Dresden anzutreten. Zu uns gesellte sich ein weiterer Fahrgast. Eine Dame mittleren Alters und von gutem Stand, die nach Dresden zu reisen beliebte, um ihrer Tochter einen Besuch abzustatten.
Mein Freund schien bester Laune und berichtete, er habe selten so gut geschlafen. Ich hielt natürlich stumm darüber, ihn des Nachts unter mir gehört zu haben, wie er auf und ab ging und derweil an den Wänden kratzte. Vielleicht auch deshalb, mir nicht sicher gewesen zu sein, ob dies nun Realität oder Traum war. Wer kann schon sagen, wie lange ich vor dem Fenster lag und schlief, wenn nicht sogar die ganze Nacht.
Um vor meinem Freund die Müdigkeit zu verbergen, knüpfte ich am Gespräch des Vortages an, und wir fachsimpelten weiter über den Berufstands des Advokaten. Derweil vergaß ich meine Erschöpfung und berichtete ihm von einem interessanten Fall aus dem Jahre 1831, als ich einen angeblichen Mörder durch meine anwaltliche Kompetenz vor der Todesstrafe bewahrte. Welch Ironie, denn der Mord wurde damals in einer Kutsche begangen, die sich auf dem Weg nach Dresden befand. Einzig ein Alibi, welches das Gericht nicht anfechten konnte, rettete den Beklagten damals vor dem Tod durch den Strang.
Als einziger Zeuge trat der Kutscher vor Gericht, dessen Kompetenz allerdings durch den regelmäßigen Genuss von Bier in Frage gestellt wurde.
Mein Freund lauschte aufmerksam, als ich von diesem Fall berichtete. Damals wurde die Kutsche auf einem Waldweg überfallen. Ein junger Mann und eine Dame wurden mit einer Machete regelrecht hingerichtet.
Diese Ausführung bis ins Detail ersparte ich mir natürlich aus Respekt vor der anwesenden weiblichen Mitreisenden.
Die Peitsche des Kutschers hieb auf die Pferdeleiber und wir rasten im atemberaubenden Tempo durch die Landschaft Richtung Dresden, vorbei an blühendem Raps und Mais. Ich war durchaus in meinem Element und versuchte meinem Freund mit feinster Gestik zu untermauern, wie vortrefflich mein damaliges Plädoyer den werten Richter beeindruckte, worauf er meinen Mandanten freisprach. Fürwahr – ein brillantes Plädoyer. Die Kutsche erreichte derweil ein Tempi, das mir für ein Gefährt dieser Art beinahen grotesk schien. Wir beschleunigten in exorbitanter Weise, sodass ich mich gezwungen sah, am Fenster Halt zu suchen. Mein Begleiter und die mitreisende Dame indes sahen mich lächelnd an, als konnten sie meine ängstliche Verwunderung über die rasante Fahrt nicht nachvollziehen.
Im Nu verfielen die Pferde in einen ruhigen Trab, als wir an die Lichtung eines Waldstückes fuhren und in der Dunkelheit eintauchten, als verschlucke uns ein riesiges Ungeheuer.
"Der Name..", sagte nun mein Freund ruhig an mich gerichtet – wie aus heiterem Himmel – uns sah mich recht verdutzt ob dieser spontanen Fragestellung. Ich verstand nicht recht, doch auch dies blieb meinem Freund nicht verborgen. Sodann formulierter er lächelnd die Frage zuende, ohne dass ich dazu kam, mich zu erkundigen, was er denn meine.
",,, des Mandanten... ihres Mandanten. Der Name, guter Freund,"
"Friedrich.", antwortete ich nach kurzem Zögern wie abwesend. "Er hieß Friedrich..."
Er nickte nur lächeln und besah mich, als habe er von mir soeben ein Geständnis erhalten, auf das er lange Zeit warten musste. Ein befriedigtes Lächeln, ein siegendes.
Augenblicklich bremste die Kutsche und ich war gesucht, nicht meinem Freund gegenüber in die Arme zu stürzen. Die Tür der Kutsche sprang auf und den Rest nahm ich wie durch einen geistigen Vorhang wahr. Eine Machete bohrte sich durch den fülligen Leib der mitreisenden Dame, dass diese qualvoll aufschrie. Ihr Blut schoss im dunkelrotem Schwall heraus, besudelte das Leder der Sitze und die brokatverkleideten Wände der Kutsche. Mein guter Freund hielt schützend seine Hände ausgestreckt auf die nun auf ihn zustoßende Machete, jedoch bohrte sich diese ohne Mühe in seinen Hals und trat hinten wieder aus, durchstieß das Leder der Sitze und stach ihn somit am Kutschensitz fest. Ich starrte entsetzt in das Gesicht meines Freundes, ein Ausdruck, lieber Leser, den ich nie wieder vergessen sollte. Entsetzen, Schmerz, Angst... Die Augen weit geöffnet und ein Blick – starr, leblos. Es stank nach Blut, nach Eisen – nach Tod. In diesem Moment meines grenzenlosen Entsetzens blickte ich auf die Kutschentür und erkannte ihn, den freigesprochenen Mörder dank meiner.
"Friedrich...", flüsterte ich betäubt. "...Friedrich..." und augenblicklich wurde es um mich herum schwarz, eine Ohnmacht holte mich ein und riss mich aus dem Geschehen.
Als ich wieder zu mir kam, schaukelte die Kutsche gemächlich ihres Weges gen Dresden. Ich öffnete zögernd die Augen, aufs Schrecklichste gefasst. Doch ich war allein. Kein Mitreisender, weder mein guter Freund noch die Dame, kein Blut besudelte das Kutscheninnere.
Ich beugte mich vor und klopfte ans Kutschenfenster. Und als der Kutscher sich zum Reden zu mir wandte, erkannte ich mit Wehmut den Mann, der vor Gericht als Zeuge auftrat und dessen Glaubwürdigkeit ich erfolgreich in Frage stellte. Er lächelte mir zu, als er sah, dass ich wohl verstanden habe.
Fortan legte ich meine Arbeit als Advokat nieder, war es mir doch zuwider, die Gerechtigkeit mit Füssen zu trete wie einen erbärmlichen Hund.
Ich zog weit fort aufs Land und schaffte mich zukünftig als Schriftsteller und Erzähler.
Und – fürwahr - mein lieber Leser, ich liebte meinen Beruf als Advokat. Was anderes, als die Wahrheit dieser Geschichte hätte mich dazu bewegen können, diese meine Berufung aufzugeben?
(c) Daniela Wegert