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Die letzte Meile
Ein Schemen taucht vor mir auf. Ich erschrecke, trete das Bremspedal durch. Reifen quietschen, die Ladung schiebt das Fahrzeug noch etliche Meter vorwärts, dann wird es still.
Mein Herz rast, ich atme kurz und schnell. Nichts ist passiert, das Spiel meiner Scheinwerfer im Geäst der Bäume war es, was ich gesehen hatte. Es ist nicht das erste Mal. Nicht in diesem Leben, nicht heute.
Ich werfe einen Blick in die Spiegel. Niemand ausser mir befährt heute nacht die Landstrasse. Langsam legt sich der Schreck, meine Knie bekommen wieder Substanz und ich setze die Fahrt fort. Die Fracht ist eilig, der Kunde König – und mitunter ist Terminfracht die einzige Möglichkeit, über dem Selbstkostenpreis zu fahren.
Ein Schild taucht vor mir auf, es kündigt den nächsten Ort an. Mühlhausen. Innerlich erlaube ich mir einen Fluch. In knapp fünf Stunden muss ich in München entladen.
Dabei sah die Tour so einfach aus, gestern abend, beim Laden in Flensburg. Ich konnte pünktlich abfahren, die Autobahn war fast leer, die Kilometer schmolzen wie ein Stück Butter im Sommer. Bei Hildesheim kam das Fiasko. Unfall mit mehreren Fahrzeugen, ein Autofahrer war eingeschlafen. Stundenlanges Stehen im Stau, dann auf Weisung der Polizei zurück zur letzten Ausfahrt und auf die Landstrasse. Der direkte Weg zur nächsten Auffahrt war natürlich völlig überlastet, so entschied ich mich für eine andere Strecke.
Mühlhausen ist eine willkommene Abwechslung. Schaufenster, Lichter, Kneipen. Und Menschen. Niemand, der diesen Job nie ausgeübt hat, kann sich auch nur annähernd vorstellen, wie man jeden menschlichen Kontakt geniessen kann – und wenn es nur ein Kopfnicken beim Vorbeifahren ist.
Leider ist die Stadt nicht gross, und nach einigen Minuten liegt wieder dunkle Landschaft vor mir. Ich muss mich beeilen, fahre am gesetzlichen Limit. Manchmal auch ein bisschen mehr.
Am Strassenrand tauchen unvermittelt immer wieder die stummen Zeugen der kleinen grossen Tragödien im Scheinwerferlicht auf. Manchmal kann ich ihre Aufschrift lesen. Die 23jährige Ricky, der 18jährige Jens, ein namenloses Kreuz für eine oder einen 44jährigen.
Ich greife nach meinem Kaffeebecher, doch er ist leer. Seufzend drehe ich das Radio lauter. Die Musik ist nachts zwar selten schön, aber immer noch besser als die Stille.
„Guten Morgen, liebe Hörer! Es ist zwei Uhr, Sie hören die Nachrichten.“ Die Sprecherin wiederholt Meldung für Meldung aus den letzten Sendungen. Nachts scheint die Welt still zu stehen – dabei ist es doch woanders jetzt morgens oder nachmittags.
Die Verkehrsmeldungen folgen. Die A7 ist immer noch voll gesperrt, mehrere Verletzte werden erwähnt, möglicherweise ein toter LKW-Fahrer – er ist noch eingeklemmt.
Ich denke an den Kollegen und seine letzte Meile, es geht mir nah, auch wenn ich ihn wahrscheinlich gar nicht kenne. Wir mögen aus verschiedenen Städten, vielleicht aus verschiedenen Ländern kommen, aber auf der Strasse sind wir alle Opfer. Opfer eines sich selbst zerstörenden Marktes, Opfer der skrupellosen Speditionen, deren „Logistik-Experten“ die Lenkzeitenregelungen für ein Märchenbuch halten, Opfer der Vorurteile, die uns alle als „fahrende Bomben“ abstempeln.
Die Müdigkeit greift nach mir, ich spüre das Gewicht meiner Arme, sogar meiner Augenlider. Doch zum Schlafen bleibt mir keine Zeit, der Liefertermin ist bindend, sonst bin ich umsonst gefahren.
Zum Glück ist es die letzte Tour in dieser Woche. Das Wochenende werde ich in München verbringen, die Rückfracht ist für Montag schon gesichert. Ich wäre lieber daheim, bei meiner Freundin. Aber für Träume werde ich nicht bezahlt.
Meine Gedanken schweifen ab, ich sehe sie vor mir, wie sie jetzt allein unter der Bettdecke liegt in unserem Doppelbett. Der Traum, jetzt neben ihr zu liegen, ist verlockend. Ihren warmen Körper spüren, mich zu ihr unter die Decke kuscheln, das Bett ist warm und weich, so warm ...
Instinktiv schreiend schrecke ich hoch. Der Wagen springt über einen kleinen Busch, ich klammere mich am Lenkrad fest. Der Baum vor mir scheint grösser zu sein als das ganze Fahrzeug. Ich spüre den Aufprall, Schmerz explodiert in mir. Ich versuche, mich am Strang meiner Gedanken festzuhalten, doch sie reissen ab und ich stürze in die Dunkelheit.