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Die letzte Meile

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26.03.2002
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Die letzte Meile

Ein Schemen taucht vor mir auf. Ich erschrecke, trete das Bremspedal durch. Reifen quietschen, die Ladung schiebt das Fahrzeug noch etliche Meter vorwärts, dann wird es still.
Mein Herz rast, ich atme kurz und schnell. Nichts ist passiert, das Spiel meiner Scheinwerfer im Geäst der Bäume war es, was ich gesehen hatte. Es ist nicht das erste Mal. Nicht in diesem Leben, nicht heute.

Ich werfe einen Blick in die Spiegel. Niemand ausser mir befährt heute nacht die Landstrasse. Langsam legt sich der Schreck, meine Knie bekommen wieder Substanz und ich setze die Fahrt fort. Die Fracht ist eilig, der Kunde König – und mitunter ist Terminfracht die einzige Möglichkeit, über dem Selbstkostenpreis zu fahren.
Ein Schild taucht vor mir auf, es kündigt den nächsten Ort an. Mühlhausen. Innerlich erlaube ich mir einen Fluch. In knapp fünf Stunden muss ich in München entladen.
Dabei sah die Tour so einfach aus, gestern abend, beim Laden in Flensburg. Ich konnte pünktlich abfahren, die Autobahn war fast leer, die Kilometer schmolzen wie ein Stück Butter im Sommer. Bei Hildesheim kam das Fiasko. Unfall mit mehreren Fahrzeugen, ein Autofahrer war eingeschlafen. Stundenlanges Stehen im Stau, dann auf Weisung der Polizei zurück zur letzten Ausfahrt und auf die Landstrasse. Der direkte Weg zur nächsten Auffahrt war natürlich völlig überlastet, so entschied ich mich für eine andere Strecke.

Mühlhausen ist eine willkommene Abwechslung. Schaufenster, Lichter, Kneipen. Und Menschen. Niemand, der diesen Job nie ausgeübt hat, kann sich auch nur annähernd vorstellen, wie man jeden menschlichen Kontakt geniessen kann – und wenn es nur ein Kopfnicken beim Vorbeifahren ist.

Leider ist die Stadt nicht gross, und nach einigen Minuten liegt wieder dunkle Landschaft vor mir. Ich muss mich beeilen, fahre am gesetzlichen Limit. Manchmal auch ein bisschen mehr.
Am Strassenrand tauchen unvermittelt immer wieder die stummen Zeugen der kleinen grossen Tragödien im Scheinwerferlicht auf. Manchmal kann ich ihre Aufschrift lesen. Die 23jährige Ricky, der 18jährige Jens, ein namenloses Kreuz für eine oder einen 44jährigen.

Ich greife nach meinem Kaffeebecher, doch er ist leer. Seufzend drehe ich das Radio lauter. Die Musik ist nachts zwar selten schön, aber immer noch besser als die Stille.
„Guten Morgen, liebe Hörer! Es ist zwei Uhr, Sie hören die Nachrichten.“ Die Sprecherin wiederholt Meldung für Meldung aus den letzten Sendungen. Nachts scheint die Welt still zu stehen – dabei ist es doch woanders jetzt morgens oder nachmittags.
Die Verkehrsmeldungen folgen. Die A7 ist immer noch voll gesperrt, mehrere Verletzte werden erwähnt, möglicherweise ein toter LKW-Fahrer – er ist noch eingeklemmt.
Ich denke an den Kollegen und seine letzte Meile, es geht mir nah, auch wenn ich ihn wahrscheinlich gar nicht kenne. Wir mögen aus verschiedenen Städten, vielleicht aus verschiedenen Ländern kommen, aber auf der Strasse sind wir alle Opfer. Opfer eines sich selbst zerstörenden Marktes, Opfer der skrupellosen Speditionen, deren „Logistik-Experten“ die Lenkzeitenregelungen für ein Märchenbuch halten, Opfer der Vorurteile, die uns alle als „fahrende Bomben“ abstempeln.

Die Müdigkeit greift nach mir, ich spüre das Gewicht meiner Arme, sogar meiner Augenlider. Doch zum Schlafen bleibt mir keine Zeit, der Liefertermin ist bindend, sonst bin ich umsonst gefahren.
Zum Glück ist es die letzte Tour in dieser Woche. Das Wochenende werde ich in München verbringen, die Rückfracht ist für Montag schon gesichert. Ich wäre lieber daheim, bei meiner Freundin. Aber für Träume werde ich nicht bezahlt.
Meine Gedanken schweifen ab, ich sehe sie vor mir, wie sie jetzt allein unter der Bettdecke liegt in unserem Doppelbett. Der Traum, jetzt neben ihr zu liegen, ist verlockend. Ihren warmen Körper spüren, mich zu ihr unter die Decke kuscheln, das Bett ist warm und weich, so warm ...

Instinktiv schreiend schrecke ich hoch. Der Wagen springt über einen kleinen Busch, ich klammere mich am Lenkrad fest. Der Baum vor mir scheint grösser zu sein als das ganze Fahrzeug. Ich spüre den Aufprall, Schmerz explodiert in mir. Ich versuche, mich am Strang meiner Gedanken festzuhalten, doch sie reissen ab und ich stürze in die Dunkelheit.

 

Hallo Salty Cat,

den letzten Absatz würde ich streichen. Den braucht deine Geschichte für die Dramatik nicht und der tödlich verunglückte Kollege reicht aus. Zwei Unfälle finde ich für den Text zu viel.
Die Routine der Fahrt, das Ausweichen auf die Landstraße hast du für mein Gefühl spürbar beschrieben, auch die Gedanken an die Freundin konnte ich gut nachvollziehen.
Schade finde ich, dass du die Fahrtenschreiber, die Bedingungen, unter denen Berufskraftfahrer ihre Arbeit verrichten eher in einem Nebensatz erwähnt hast, als deinen Prot noch greifbarer unter das Diktat zu stellen.
Auch für die Vorurteile den Brummis selber gegenüber würde ich dir gerne eine Vorschlag machen. Nimm sie aus der Erläuterung raus, sondern lasse deinen Prot daran denken, was wohl morgen in der Zeitung steht, wie die Berichterstattung nur auf eventuelle Opfer in den beteiligten PKW fokussiert ist, während der LKW Fahrer als Täter stigmatisiert und sein Tod eventuell gar nicht oder nur nebenbei erwähnt wird, als hätte er keine Familie, die um ihn trauert. Dann wird es auch besser in Gesellschaft als in Alltag passen. ;)

Hast du kein ß auf der Tastatur?

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim!

Erstmal danke für die schnelle Kritik :)

Das Problem, was ich bei der Streichung haben würde, ist, dass es die ganze Geschichte ohne diesen letzten Absatz nicht gäbe. Denn dieser letzte Absatz ist ein authentisches Sekundenschlaf-Erlebnis, das mir vor etwa 2 Wochen widerfahren ist - nur dass ich es irgendwie geschafft habe, den Baum zu verfehlen :hmm: - und das mich eigentlich erst veranlasst hat, das ganze zu schreiben.

Abgesehen davon, du solltest nochmal genau nachzählen ... de facto sind es fünf unfälle und fünf tote, denn auch für ricky, jens und den 44jährigen namenlosen war es die letzte Meile, auch wenn sie vielleicht in anderen Fahrzeugen oder zu fuss unterwegs waren - vielleicht hat ja jemand anders sie im sekundenschlaf in den tod gerissen, wer weiss...

ob ich das thema lenkzeiten etc. noch anders verpacke, lass ich mir nochmal durch den kopf gehen. Es war hier bewusst als bitterer, zynischer Gedankengang formuliert, denn wenn du tagtäglich mit der Branche zu tun hast, ist es genau das, was dir bei solchen meldungen durch den kopf geht. Aber dein Vorschlag hat durchaus auch seinen Reiz.

Das Diktat habe ich nicht so in den Vordergrund gestellt, denn letzten Endes liegt es an dem Fahrer, ungeachtet irgendwelcher Repressalien oder verlorenen Touren "Nein" zu sagen, wenn er genau weiss, dass eine Tour über seine Kräfte hinausgeht.
Ob ich überhaupt eine tiefere Message in den Text legen wollte, weiss ich selbst nicht. Wenn ja, dann am ehesten eben jenes NEIN-sagen.

Ach, das liebe ß ... ja, ich habe eines auf meiner Tastatur. Aber der Frust lässt es mich nicht mehr benutzen. Ich hatte früher eine nahezu perfekte Rechtschreibung, meine Deutschlehrer haben sich die Augen wundgesucht, um wenigstens ab und zu mal rot in meine Hefte malen zu können. Das Problem war, dass ich immer instinktiv geschrieben habe, ohne mir bewusst Gedanken über die Regeln zu machen. Nach der Rechtschreibvergewaltigung ging das natürlich in die Hose, denn der Instinkt lässt sich nicht mal eben umprogrammieren, nur weil ein paar selbsternannte Entscheidungsträger ihre geistigen Ergüsse auf uns los lassen ... Nun könnte ich natürlich bei der alten Rechtschreibung bleiben, aber nach und nach schleichen sich ein paar kleine Unsicherheiten ein, sicherlich auch durch den täglichen Konsum von Print- und anderen Schriftmedien. und mein Unterbewusstsein sagt mir leise, aber beharrlich, dass es weniger hässlich ist, ein korrektes ß zum ss zu machen, als ein ss fälschlich zum ß ...

 
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Lieber Jan!

Eigentlich wollte ich gerad eine andere Geschichte kommentieren, aber als ich sah, daß Du wieder einmal was geschrieben hast :), da konnte ich ja gar nicht anders, als Dich vorzuziehen. Mensch, das sind jetzt eineinhalb Jahre!

Ich dachte mir natürlich schon vorm Lesen Deiner Antwort an sim, daß da gewiß irgendwas Reales drin steckt. Und was Du da erzählst, hat mich ziemlich mitgenommen – wir haben ja schon einiges über das Thema geredet… Jedenfalls bin ich froh, daß Du den Baum »verfehlt« hast …

Die Kritik an den Arbeitsbedingungen könntest Du tatsächlich noch ein bisschen besser rüberbringen, sim hat Dir ja schon einen ganz guten Vorschlag gemacht, der auch ganz gut zu meinem zweiten Anliegen, nämlich ein bisschen mehr in die Gefühlswelt des Protagonisten einzutauchen, paßt. Deshalb warte ich erst einmal ab, was Du draus machst, und geb dann meinen Senf dazu. ;)
Eins kann ich mir aber nicht verkneifen, zu sagen, und zwar zu dem »Nein-Sagen« in Deinem Kommentar: Ich halte das mehr für eine theoretische Möglichkeit, da der Fahrer ja von etwas leben muß. Wenn er immer nein sagt, wird er keine Aufträge haben, weil es ja immer genügend andere gibt, die es trotzdem zu den gebotenen Bedingungen machen. Klar erzähl ich Dir da nichts Neues, aber den Punkt würde ich in der Geschichte schon auch so darstellen, damit jemand, der wirklich mit den Schultern zuckt und meint, es könne ja jeder nein sagen, versteht, daß das eigentlich nicht wirklich so ist.
Es ist ja eigentlich wie überall, daß ein Heer von Arbeitslosen für die Wirtschaft ein Druckmittel auf Löhne usw. ist. Machst Du es nicht um das Geld, macht es ein anderer. »Vollbeschäftigung« wäre schon möglich (wenn man richtig rechnet, d.h. die Erhöhung der Kaufkraft und das Sinken der Sozialausgaben miteinberechnet), aber wer gibt schon gern so ein Druckmittel aus der Hand?

Lesen ließ sich die Geschichte ganz gut :), trotzdem noch ein bisserl zum Text:

»Es ist nicht das erste Mal. Nicht in diesem Leben, nicht heute.«
– irgendwie kommt für mich nicht ganz rüber, was Du damit sagen willst – obwohl ich mir denken kann, was Du meinst, aber das hab ich nicht aus Deiner Geschichte…

»Ich werfe einen Blick in die Spiegel.«
– einen einzigen Blick in mehrere Spiegel geht nicht, entweder »einen Blick in den Spiegel« oder z.B. »Ich werfe einen Blick in jeden Spiegel«, »Ich überblicke die Situation durch beide Spiegel« …

»Niemand ausser mir befährt heute nacht die Landstrasse.«
– 2 x ß, heute Nacht

»Dabei sah die Tour so einfach aus, gestern abend, beim Laden in Flensburg.«
– gestern Abend

»zurück zur letzten Ausfahrt und auf die Landstrasse.«
– Landstraße

»Niemand, der diesen Job nie ausgeübt hat, kann sich auch nur annähernd vorstellen, wie man jeden menschlichen Kontakt geniessen kann«
– würde das kürzen auf »Wer diesen Job nie ausgeübt hat, kann sich nicht vorstellen, …«
– genießen

»Leider ist die Stadt nicht gross,«
– groß

»Am Strassenrand tauchen unvermittelt immer wieder die stummen Zeugen der kleinen grossen Tragödien«
– 2 x ß

»Die 23jährige Ricky, der 18jährige Jens, ein namenloses Kreuz für eine oder einen 44jährigen.«
– 23-jährige Ricky, der 18-jährige Jens, … einen 44-Jährigen

»Die A7 ist immer noch voll gesperrt, mehrere Verletzte werden erwähnt, möglicherweise ein toter LKW-Fahrer – er ist noch eingeklemmt.«
– ich bezweifle, daß sie solche genauen Angaben wie »Fahrer noch eingeklemmt« in den Verkehrsmeldungen bringen, aber Du kannst das besser beurteilen als ich, da Du sie nicht nur öfter, sondern auch dort hörst, wo Deine Geschichte spielt. ;)
– das »voll gesperrt« find ich irgendwie zu umgangsprachlich, wie wärs mit »in beiden Richtungen gesperrt« oder »unpassierbar«?

»aber auf der Strasse sind wir alle Opfer.«
– ß

»Die Müdigkeit greift nach mir, ich spüre das Gewicht meiner Arme, sogar meiner Augenlider. Doch zum Schlafen bleibt mir keine Zeit, der Liefertermin ist bindend, sonst bin ich umsonst gefahren.«
– würde da noch was einfügen: »Mir wird kalt, ich drehe die Heizung auf.« – Du kannst Dir ja bestimmt denken, wozu das gut sein soll…;)

»Ich wäre lieber daheim, bei meiner Freundin.«
– denkt Dein Protagonist »bei meiner Freundin«? :susp: Ich würde ihr einen Namen geben. ;)

»doch sie reissen ab und ich stürze in die Dunkelheit.«
– ß

Alles Liebe, und
paß auf auf Dich.
Susi :)

 

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