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Die Rückkehr

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19.05.2004
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Die Rückkehr

Die Rückkehr

1.

Der Regen prasselte auf die Fensterscheiben. Sie saß da und starrte nach draußen. Die Tannen tanzten im Wind als würden sie das Lied der Traurigkeit, das Lied ihrer gebrochenen Seele singen. ‚Nie wieder, nie wieder...’ waren die einzigen zwei Worte, die ihr in den letzten Tagen nicht mehr aus dem Kopf gingen.
Das Telefon klingelte, plötzlich zerbrach die Stille und ein kleiner Schimmer Hoffnung, ein Schimmer, den sie sich sofort verbieten musste, erfüllte ihr Herz. Er war es nicht. Das war alles, was sie interessierte. Schnell war das Gespräch mit der unwichtigen Person, die sich ihre Freundin nannte, beendet. Unwichtig, nicht etwa weil keine Bindung bestand, nur unwichtig, weil angesichts der Tatsache, dass Sara ihr Leben ohnehin aufgegeben hatte, alles andere sowieso gleichgültig, sinnlos und – auf merkwürdige Weise – absurd erschien.

Sie setzte sich wieder ans Fenster. Die Tannen tanzten heftiger als vorher. Es war, als könnten sie ihre innere Unruhe und das Chaos, das sie aufzufressen drohte, spüren. Der Himmel zierte ihre Gefühle noch mit dunklen Wolken, die an manchen Stellen fast schwarz zu sein schienen und aus denen sich, je dunkler sie waren, immer strömendere Fluten ergossen. Die Straßen waren leer, nur ab und zu sauste ein Auto an ihrem Haus vorbei, in Eile natürlich, als wenn der Regen selbst die Insassen des Wagens hätte erreichen können.
Sie hatte alles in sich hineingefressen und jetzt, da es nun schon einen Monat her war, spürte sie ihren Schmerz nicht nur in ihrer Seele, sondern auch am ganzen Körper, als hätte man sie missbraucht. Ihr Magen war – stechend vor Schmerz – seit Tagen nicht mehr fähig irgendetwas richtig zu verdauen. Wie sollte er auch? Wie sollte sie es verdauen? Sie war so unfähig wie ihr Magen. Schon lange hatte sie diese gesundheitlichen Probleme gehabt, schon lange gab es etwas, dass sie nicht hinnehmen konnte. Natürlich sind es hauptsächlich ihre Probleme mit ihm gewesen, ferner und tiefer jedoch, war es die Einsicht in die absurde Sinnlosigkeit ihrer Existenz und ihre damit verbundene Schwermütigkeit, die sie immer weiter in einen Teufelskreis zog, aus dem sie sich nicht mehr befreien zu können glaubte. Sie wusste, dass sie sich losreißen musste, nur hatte ihr die Sinnlosigkeit bereits alle Kraft geraubt. Es schien aussichtslos. Und je mehr ihr das bewusst wurde, umso mehr versank sie in tiefer Traurigkeit und Verzweiflung, den einzigen Gefühlen, die sie derzeit ausmachten, den einzigen Gefühlen, denen sie sich hinzugeben vermochte, fast schon ohne dabei Reue zu verspüren.

Sie war erst 19 als das alles geschah. Zu jung um sich das Leben schon zerstört zu haben. Doch es war die traurige Wahrheit. Gewiss, sie hatte noch Chancen, sie hatte sich nie große Hindernisse in den Weg gestellt, doch hatte sie einfach keine Kraft mehr um ihr Leben zu leben. Sie wusste nicht, ob er es ihr ausgesaugt hatte. Sie wollte ihm nicht die Schuld geben. Wenn einer Schuld daran war, dann sie selbst. Schließlich war sie es, die ihr Leben komplett vernachlässigt hatte um ihm alles opfern zu können und sie war es, die sich in einem – nun leeren – Leben nicht mehr finden konnte.
Draußen wurde es dunkel. Sie sah die Tannen nicht mehr, doch sie wusste, dass sie noch tanzten und sie wusste, dass es noch regnete, denn sie konnte den Wind hören, der den Regen in immer neuen Schüben gegen ihre Scheiben prallen ließ, als wenn er ihr versichern wollte, dass sie auch in dieser Nacht wieder kein Auge zumachen würde.


2.

Ein lauter Donnerschlag weckte sie. Sie muss tatsächlich eingeschlafen sein. Draußen wütete ein Sturm, den so heftig sie noch nicht erlebt hatte. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter
– da war er wieder, dieser Gedanke. Er schien sie einzunehmen, ohne dass sie sich wehren konnte, immer wieder, jede Nacht und so auch jetzt. Die Einsamkeit verband sich mit ihrer Leere und alles schien plötzlich wieder über ihr zusammenzubrechen. Alles. Was war dieses Alles? Es gab doch eigentlich nichts mehr, was jetzt noch zusammenbrechen konnte, schließlich war nichts mehr da. Alles weg. Und genau das spürte sie in Momenten wie diesem.

Sie wollte nicht an ihn denken, sie wollte vergessen was er getan hatte, wie sehr er sie verletzt hatte und wie sehr sie – wie durch einen geheimnisvollen Bund – immer noch an ihm hing, als wäre er der Einzige, den zu lieben sie vermochte.
Ihre Qual wurde unerträglicher, von Minute zu Minute... Wie konnte es soweit kommen? Wie war es möglich, dass ein Mensch die Fähigkeit besaß, das Leben eines anderen komplett wertlos und kaputt zu machen? Würde sie je wieder lieben können? Würde sie je wieder fähig sein, vertrauen zu können? Sie wusste es nicht.
Alles was sie sah, was sie fühlte und was in ihr immer größer zu werden schien, war eine Art Hass und zwar die Art von Hass, die aus Liebe entspringt. Ihr Leben wurde ein Kreislauf, ein unendlicher Kreislauf aus unfruchtbaren, verworrenen Gedanken aus dem es galt auszubrechen, die Frage war nur wie.
Wie sehr hatte er sie betrogen, immer und immer wieder... Und dabei hatte er ihr schon die Heirat versprochen. Früh, ja das war es, doch gewiss kein Hirngespinst und erst recht keine Laune. Es hatte sich doch immer so aufrichtig angefühlt, wenn sie zusammen waren. Jedenfalls am Anfang. Und jetzt? Jetzt saß er wahrscheinlich wieder in irgendeiner Bar mit irgendeinem noch jüngeren Mädchen und ließ sich vollaufen. Erbärmlich dieser Gedanken, doch trotzdem verspürte sie Eifersucht. Ein schreckliches Gefühl, genauso sinnlos und unfruchtbar wie all ihre Gedanken.

Da saß sie nun. Steif in ihrem Bett, das Kissen zum Fußende hin getreten (wahrscheinlich hatte sie schlecht geträumt) und am Rücken klebte ihr T-Shirt als hätte man ihr einen Eimer Wasser über den Kopf gegossen. Ihr war schon schwindelig von dem Ganzen. Sie konnte nicht mehr... Seit so vielen Wochen nun schon hatte sie nichts anderes als Kummer. Ihr Körper machte einfach nicht mehr mit, grade jetzt hielt sie sich wieder die Hand auf ihren Bauch, auf den „Mülleimer“ ihrer Seele, der nicht nur die Trennung zu verkraften hatte, sondern der auch ihre gesamte, nicht ganz konventionelle Weltanschauung „entsorgen“ musste. Im Grunde wollte sie diese Weltanschauung nicht entsorgen, sie spürte nur, dass es niemanden gab, der sie mit ihr teilen wollte und erst recht nicht Er. Den ganzen Matschbirnen, die es zu überzeugen galt, dass sie in die falsche Richtung laufen, war einfach nicht zu helfen. Noch nicht. Und sie selbst war zu schwach, sie war alleine, sie hatte es noch nicht einmal geschafft, eine Mauer um sich herum aufzubauen, eine Mauer, die sie hätte davor schützen können, unter der Dummheit der anderen zu leiden. Im Moment konnte sie nichts tun, rein gar nichts. Sie war sogar zu schwach sich einen Tee zu kochen, obgleich ihre Bauchschmerzen immer schlimmer zu werden schienen.

Die Funkuhr zeigte drei Uhr fünf, also noch knappe drei Stunden, die sie zum Ausruhen hatte. Viel zu wenig, wenn man bedenkt, wie schlecht es ihr ging. Doch davon wusste ja niemand. Niemand hatte je etwas gewusst. Morgen würde wieder einer der letzten Tage in der Schule werden, einer der Tage, die sie mal „Stufe zur Freiheit“ genannt hatte. Im Augenblick war ihr das jedoch ziemlich egal. Nur noch ein paar Wochen, dann würde der Sommer endlich ganz da sein. Dann gäbe es nicht mehr dieses Hin und Her zwischen Sonne und Regen und insgeheim hoffte sie auch, dass ihr eigenes Durcheinander dann endlich ein Ende finden würde. Ihre Ordnung würde sie gewiss irgendwann wieder finden, doch wusste sie nicht, ob sie je glücklich sein würde, ob sie ihre neue, so fremde Ordnung überhaupt so lieben konnte wie ihre alte. Nein, sicher könnte sie das nicht, sie würde nie wieder lieben. Nie wieder.
Ein so inniges, sensibles Gefühl, wie die Liebe es ist, konnte nicht einfach wieder aufgebaut werden. Sie wusste, dass nur die Zeit fähig war, ihrer gebrochenen Seele irgendwann wieder einen kleinen Schimmer Hoffnung, ja vielleicht sogar die Fähigkeit zu einem Lächeln zu schenken. Doch bis dahin würde sie noch tausend Tode sterben, das spürte sie.

Und da war sie nun. Mitten in dieser stürmischen Nacht, benommen von ihren Gefühlen, verzehrt und entstellt durch ihre wirren Gedanken, fast hoffnungslos schweigend und voller Qual mit sich und in sich vor Selbstmitleid zerfließend.


3.

„Sara, es ist zwanzig nach sieben, verdammt noch mal! Wie oft soll ich dich noch rufen? Du bist wirklich zu nichts fähig! Ich wusste schon immer, dass du nichts auf die Reihe kriegen wirst! Du kannst noch nicht mal – wie jeder normale
Mensch – morgens pünktlich aufstehen. Und dein Zimmer... Guck dir an, wie es hier aussieht! Schämst du dich nicht?!“

Sara lag wie angewurzelt in ihrem Bett und hörte sich an, was ihr Vater ihr heute morgen wieder zu sagen hatte. Alles was sie hoffte war eigentlich nur, dass er sie nicht wieder Schlampe oder Nutte nennen würde. Das tat er nämlich immer wieder, er fand immer einen Grund, er nannte sie sogar so, wenn sie nichts „schlampiges“ tat. Und das schon seit Jahren, seitdem sie Silvano das erste Mal mit nach Hause genommen hatte. Damals war sie 16 und ihr Vater wusste angeblich gleich, was Silvano für ein Typ ist. Allein die Tatsache, dass Silvano damals schon 20 Jahre alt war, muss in Saras Vater wohl den Beschützer-Instinkt geweckt haben. Aber anstatt seine Tochter zu warnen, beschimpfte er sie lieber und sah sie als „verloren“ an. Er hatte Recht. Sie war verloren. Und Silvano war ein Egoist, ein furchtbarer, arroganter Egoist! Und eigentlich noch viel mehr als das, doch daran wollte sie jetzt nicht denken, sie hatte keine Zeit.
Es musste schnell gehen, in Windeseile putzte sie sich die Zähne, band sich ihre langen blonden Haare zusammen und nahm einen Schluck Tee. Ein schrecklicher Morgen! Doch ehe sie sich versah fand sie sich im Schulflur wieder.

Da waren sie, diese eingebildeten Mädchen, die dummen, arroganten Hühner die an ihrem Spinnt standen und die neuste Mode besprachen. Die hatten nichts gegen sie, aber Sara konnte diese „Spezies“ absolut nicht leiden. Für Sara waren das keine Menschen, sondern minder bemittelte Wesen. Natürlich ließ sie sich das nicht anmerken. Sie wollte sich schließlich keine Feinde machen. War das feige von ihr? Nein, es war wohl eher der einzige Weg, problemlos durch die Schulzeit zu kommen.

Der Schultag verlief wie gewohnt, wieder hatte sie die meiste Zeit damit verbracht, innerlich immer weiter zu zerfallen. Sie konnte es nicht aufhalten. Wenn dieses Gefühl der Leere kam, dann gab sie sich hin. Es war leichter, sich dem Schmerz hinzugeben, als zu versuchen, ihn zu überwinden. Dafür war es schließlich auch noch zu früh. Sie wusste eigentlich nicht mehr, wozu sie jeden morgen aufstand. Für wen? Für sich selbst? Quatsch. Sie gab es nicht. Längst nicht mehr! Und wenn doch, dann nur noch als Häufchen Elend.

Nach einer Ewigkeit läutete dann die Schulglocke. ‚Endlich nach Hause...’ Sie packte ihre Sachen zusammen und versuchte auf dem schnellsten Weg zum Bus zu kommen. Bloß weg hier, bloß allein sein.
„Beeil dich Sara, der Bus ist schon an der Haltestelle“, rief ihr Melissa – das einzig nette Mädchen – zu. Sara rannte wie eine Verrückte übers Schulgelände. Der nächste Bus würde erst in einer Stunde kommen. Solange konnte sie nicht warten, sie hatte zu viel zu tun. Ihr war schließlich bewusst, dass sie auch heute wieder lange dafür brauchen würde, sich zum Lernen zu motivieren. Viel zu groß war doch ihr Kummer... Sie würde ohnehin nur an ihn denken! ‚Dieser Mistkerl!’ schoss es ihr durch den Kopf und plötzlich fing sie an wie aus Wut schneller zu laufen. Sie sah den Bus, die letzten Schüler stiegen ein und der Busfahrer begann die Türen zu schließen. „Halt!“, rief sie und rannte über die Straße. Auf halbem Weg hörte sie plötzlich ein schrecklich lautes Reifenquietschen. Irgendjemand rief ihr noch etwas zu, sie drehte sich um und...

Filmriss.

4.

Ein weiß-grauer Nebel umgab sie, als sie die Augen öffnete. Alles schien ruhig und verlassen. Nichts tat weh, sie spürte weder äußerlich noch innerlich irgendwelchen Schmerz. Sie lag auf einer feuchten Wiese und konnte nichts um sich herum erkennen.
Nachdem sie – sich alle Fragen dieser Welt stellend – eine Weile versucht hatte, zur Besinnung zu kommen, fing der Nebel plötzlich an sich zu lichten. Sie begann die Umrisse von riesigen Bäumen wahrzunehmen, Bäume, die dicht beieinander zum Himmel ragten, Bäume, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Niemand schien hier zu sein, doch sie fühlte sich alles andere als allein. Sie konnte tief durchatmen, sie spürte die Natur, alles um sie herum war so freundlich, so friedlich und so wunderbar unberührt.
Sie stand auf um zu den Bäumen zu gehen und als sie sich ihnen näherte, fing plötzlich irgendetwas ganz in der Nähe an zu rascheln. Sie zuckte kurz zusammen. Was war das? Ein Tier? Sie hatte keine Angst, sie erwartete nicht Böses.
Ein Mann trat hervor, sie wusste nicht woher er kam. Er war groß und blickte sie seltsam an. Er trug ein merkwürdiges langes weißes Hemd, so lang, dass es fast bis zu seinen Knien reichte. Darunter trug er eine braune Hose, aus irgendeinem Fell, Sara kannte sich damit nicht aus. Schuhe besaß er nicht. Seine Haare waren lang und braun, so braun wie seine Augen. Sie standen da und blickten sich an, Sara und dieser Mann, dieser wunderschöne Mann...
Es verging eine Weile bis sie anfingen zu sprechen, doch umso unfassbarer sollte das werden, was er ihr zu sagen hatte.
„Mein Name ist Maurice“, war das Erste, was sie ihn sagen hörte.
‚Maurice...’ Dieser Name klang in ihren Ohren nach Frieden.
„Ich bin Sara...“, erwiderte sie. Anscheinend sinnlos, denn er kannte ihren Namen bereits. Er wusste alles von ihr. Er wusste was sie durchgemacht hatte, wie schlecht es ihr ging, einfach alles. Sara war ihr Kummer gar nicht mehr bewusst, er schien soweit weg zu sein... so unendlich weit weg, so unendlich unbedeutend, selbst als Maurice sie daran erinnerte.
„Komm mit, ich führe dich um dein Leben“, sagte er und griff nach ihrer Hand um diese festhaltend mit ihr aufzubrechen. Sie verstand nicht, was er damit sagen wollte, sie wusste nicht, was er mit ‚ums Leben führen’ meinte, aber sie wollte es herausfinden, sie wäre überall mit ihm hingegangen.
Seine Hand hielt ihre so fest, als wenn er ihr damit sagen wollte, dass sie bloß nicht weglaufen soll, andererseits jedoch hielt er sie so sanft, dass Sara sich wünschte, er würde sie nie wieder loslassen.
Sie hatte das Gefühl, nicht die Hand eines Menschen zu spüren, sie spürte Liebe. Nichts weiter, nur dieses Gefühl, dieses warme ausfüllende Gefühl, das sie schon lange nicht mehr auf diese Weise empfunden hatte.
Er führte sie zwischen den Bäumen hindurch immer weiter und weiter bis sie endlich zu einer Lichtung kamen.
Ein kleiner Teich befand sich hier, ein dunkler Teich, dessen Wasser schwarz erschien und in dem es brodelte. Es stiegen immer wieder Blasen aus diesem Teich herauf, schwarze Blasen, die sofort zerplatzen, wenn sie an die reine Luft kamen. Sara kam sich vor wie in einem Märchen und sie wunderte sich, weshalb es hier so etwas hässliches wie diesen ekelhaften Teich gab.
Sie blickte Maurice fragend an.
Er sah in ihre Augen, ließ ihre Hand los und sagte: „Das ist die Beziehung zu deinem Vater.“

5.

Saras fragender Blick verwandelte sich erst in ein kurzes Lächeln und danach – nachdem sie begriff, dass Maurice das wohl ernst gemeint haben muss – in einen erschütternd ernsten, fast schon etwas traurig wirkenden Augenschlag. Nur eine Sekunde lang. Dann begann sie nachzudenken...
Sie verstand viel mehr als sie verstehen wollte. Dieser Teich war wohl genau das, was ihre Gefühle zu ihrem Vater wiederspiegelte, unverändert und wahr. Beschämend wahr, beschämend aufrichtig und so schrecklich schmerzhaft und schmutzig. So schmutzig wie die Worte, die er ihr immer wieder an den Kopf warf.
„Du bist am Ende, Sara.“
Sie sah Maurice an. Ja, sie war am Ende. Was sollte sie ihm sagen? Alles was sie tun konnte war zu nicken. Sie senkte ihren Kopf und versuchte nicht hin zu sehen, sie versuchte etwas zu anderes, etwas schönes zu empfinden, doch beim Anblick dieses Teichs kam nur Schmerz in ihr auf.
„Du hast dich eben noch gut gefühlt, nicht wahr? Als du auf der Wiese lagst, als du die Bäume gesehen hast, da warst du glücklich, oder?
„Ja“, antwortete Sara. „Ich habe mich frei gefühlt... Ich fühlte die Natur und keinen Schmerz. Nichts dergleichen. Warum fühle ich ihn jetzt, Maurice? Warum tut es so weh?“
Maurice schwieg. Er schwieg eine Ewigkeit. Wollte er, dass sie sich selbst Gedanken machte?
Wieder blickte sie ihn an.
„Maurice? Bitte sag doch was, ich fühle mich so verloren hier. Was ist nur los?
Maurice ergriff ihre Hand und führte sie zu einem Stein, dicht bei dem Teich. Beide setzten sich darauf und Maurice legte seinen Arm um Sara.
Kein Vogelgesang, nichts war mehr zu hören. Nichts außer einem unheimlichen, wütenden Rascheln, welches die Sträucher immer heftiger zu rütteln schien, als wenn sie in Panik geraten würden, immer wirrer, immer lauter. Sara hatte Angst. Sie war froh bei Maurice zu sein, allein wäre sie ertrunken, ertrunken in einem Meer aus Wut, Angst, Panik und – nicht zuletzt – Schmutz. Sollte das etwa darstellen, wie sie ihren Vater empfand? Brachte sie ihn in Verbindung mit Wut, Angst, Panik und Schmutz?
„Ja“, kam es von Maurice. „Das woran du jetzt denkst ist die unverfälschte Wahrheit deiner Gefühle. Nichts weiter als das. Ich lese deine Gedanken Sara, ich bin einer deiner Gedanken.“
Sie verstand nicht. Welcher Gedanke sollte Maurice sein? Nie zuvor hatte sie an einen Mann wie ihn gedacht. Niemals verband sie ihre Gedanken, ihre wirren Gedanken mit Männern die sie nicht kannte. Gewiss, Maurice war ihr bekannt, sie spürte, dass sie tief mit ihm verbunden war und dass er wohl schon immer ein Teil von ihr gewesen ist. Nur welcher? Welcher Gedanke war Maurice?
„Irgendwann sage ich es dir, dann Sara, wenn unsere Reise ein Ende findet, dann wenn wir ankommen am Rande des Lebens, am Unvermeidlichen, am erlösenden Geist deines eigenen Ichs.“
Oh Gott, der erlösende Geist? Maurice sprach in Rätseln. Welcher Geist, welches Ich? Ihr Ich? Hatte sie überhaupt eins?
Im Moment war sie nur verloren, umgeben von diesen schrecklichen Gefühlen der Angst und die Fragen die Maurices Aussagen immer wieder in ihr aufkommen ließen, schienen alles nur noch verwirrender zu machen.
„Erkläre es mir, Maurice, bitte!“
Sara wirkte verzweifelt.
„Ich erkläre es dir, ich muss es dir erklären. Sara, du wärst fähig es selbst zu verstehen, du warst immer dazu fähig, doch man hat dich zerstört. Jetzt bist du nur noch verwirrt und ich bin der einzige, der dir noch helfen kann. Du musst mir vertrauen Sara, ich bin deine letzte Chance.“
Nachdem er das gesagt hatte, fand sie in seinen Blick etwas beruhigendes, etwas warmes. Natürlich vertraute sie ihm. Natürlich? Wie kam sie dazu...? Hatte sie nicht geglaubt nie wieder vertrauen zu können?
„Du vertraust mir, weil ich zu dir gehöre. Ein Teil von dir kann dich niemals betrügen, solange du ihm ehrlich und aufrichtig zuhörst. Ein Teil von dir wird immer dafür sorgen, dass es dir gut geht. Und ich bin ein Teil von dir. Ich werde dir jetzt erklären, warum du diesen Ort, den Platz deines Vaters in deinem Leben, als so schrecklich empfindest.“
„Ja, bitte... Bitte Maurice sag es mir und bitte nimm mir diese Angst, lass mich meinen Vater lieben, liebt er mich denn nicht auch?“ Sara war den Tränen nahe, als sie Maurice diese Frage stellte.
„Nur ruhig, Sara. Dein Vater hat ein Problem. Er hat den Tod deiner Mutter niemals verkraftet. Du kanntest deine Mutter nicht, du vermisst sie, du weißt aber nicht, was du an ihr verloren hast. Sie ist bei deiner Geburt gestorben Sara, das weißt du. Dein Vater wollte damals glücklich sein, glücklich mit dir, deiner Mutter und sich selbst. Doch seine Wünsche haben sich niemals erfüllt. Als du kamst, war er nicht fähig, sich über dich zu freuen. Sein Schmerz war noch zu groß. Er hatte Angst. Er hatte Panik. Er war wütend auf dich und auf sich selbst. Keiner konnte etwas dafür, dass deine Mutter gestorben ist, doch er macht sich bis heute die größten Vorwürfe. Sein Ich ist fast zerfressener als deins. All seine Ängste, schlimmen Vorwürfe und seine Wut hat er niemals verarbeitet. Du weißt, er hält nichts von „Psyche“. Für ihn gibt es so etwas nicht. Er weiß gar nicht, dass er ein Problem hat. Mit der Zeit hat er jedoch gelernt, dich zu lieben. Dein Vater liebt dich mehr als alles andere. Er hat große Angst um dich, er will dich nicht auch noch verlieren. Sein Problem ist, dass er mit Angst nicht umgehen kann. Genau wie du, Sara. Bei ihm verwandelt sie sich in Panik, sofort. In dieser Panik versucht er dann alles erdenkliche zu tun um dich – oder auch sich – zu beschützen. Aber du willst nicht mehr, dass er dich beschützt, du hattest Silvano, dein Vater dachte, er verliert dich... Deshalb kam Wut in ihm auf, Wut die er immer wieder an dir auslässt, du bist ihm wichtig, er will dir nicht schaden. Er weiß gar nicht, dass er es trotzdem tut.“
Jetzt weinte Sara. Wieder kam ihr alles aussichtslos vor. Wie sollte sie ihrem Vater denn helfen, seinen Kummer zu überwinden? Er ließ sich doch nichts von ihr sagen. Und würde sie ihn so lassen wie er ist, dann würde sie mit der Zeit daran kaputt gehen.
Maurice wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht.
So etwas hatte ihr Vater nie gemacht. Er zeigte mit dem Finger in die Richtung wo die Büsche standen. Immer noch wüteten und raschelten sie panisch vor sich hin.
Was wollte Maurice ihr zeigen? Sara blickte hinüber, sah nur dieses dunkle Wirrwarr und fühlte wieder Angst.
Doch dann, plötzlich, wie aus dem Nichts geschah es.
„Da, siehst du sie? Siehst du die weiße Taube, Sara?“


6.

Eine wunderschöne, eine strahlend weiße Taube flog aus dem Gebüsch. Sie war rein. Rein wie die Natur die Sara hier erlebt hatte. Nicht zu vergleichen mit dem schmutzigen Teich. Und plötzlich begann sie zu verstehen. Es gab Hoffnung.
„Sara, du musst lernen wieder zu glauben. Wenn du glücklich sein willst, dann musst du bei dir selbst anfangen. Du kannst deinen Vater nicht ändern, du kannst ihm nicht helfen, wenn er sich nicht helfen lassen will. Du weißt, er braucht dich. Du weißt jetzt, warum er sich so verhält. Die weiße Taube ist deine Liebe zu ihm. Sie ist wiedergekehrt. Sie war lange verschwunden, Sara. Ich habe sie lange nicht mehr hier gesehen. Liebe deinen Vater trotz allem, was er ist. Deine Liebe, kann ihn ändern. Deine Liebe wird diesen Teich wieder rein werden lassen, sie wird die schwarzen Büsche zur Ruhe kommen lassen. Und vielleicht verschwindet irgendwann seine Panik und wenn sie fort ist, wird auch deine Angst verschwinden.“
Maurices Stimme war so beruhigend.
„Ja, ich werde es versuchen, ich liebe meinen Vater“, sagte Sara mit etwas zittriger Stimme, aber dennoch entschlossen und voller Hoffnung. Wieder standen ihr die Tränen in den Augen. Diesmal aber vor Freude. Maurice nahm ihre Hand. „Vergiss nie, was ihr dir gesagt habe, vergiss nie, was du hier gelernt hast“, waren seine letzte Worte an diesem Ort bevor sie erneut aufbrachen um Saras Ich zu retten.

Diesmal mussten sie einen längeren Weg zurücklegen. ‚Weit entfernt von meinem Vater, was kann dort sein...?’ dachte Sara, als die wieder über wunderschöne grüne Wiesen gingen, als die Vögel wieder sangen und alles wieder unberührt und sauber schien.
Sie gingen und gingen, der Weg war scheinbar endlos. Wildes, wunderschönes und vollkommenes Gestrüpp umgab sie, als sie sich den Weg durch die hügelige Landschaft bahnten. Auf und ab.
Wie ihr Leben, dachte Sara.

Irgendwann, als die Sonne langsam unterging standen sie und Maurice plötzlich an einer Schlucht. Sie hätte den Abgrund beinahe nicht bemerkt, doch Maurice hielt sie zurück und bewahrte sie vor dem Fall. Erschrocken atmete sie auf.
Was für eine atemberaubende Tiefe, welch grausame und furchteinflößende Schönheit der Natur... Sara war erstaunt. Zusammen mit dem Sonnenuntergang sah diese Schlucht einfach wundervoll aus. Vollkommene Harmonie.
„Deine Mutter, Sara“, sagte Maurice liebevoll mit sanfter Stimme.
Sara war überwältigt. Eine Schlucht, ein Loch. Es fehlte also etwas. Und doch war es so schön. Beruhigend und schön. So wie es immer war, wenn sie an ihre Mutter dachte. Keine Leere. Nur ein bisschen vielleicht.
„Darüber bist du hinweg, du kennst es ja nicht anders, Sara. Alles was du für deine Mutter empfindest sind positive Gedanken und Vorstellungen. Du kanntest sie nicht, aber du glaubst, dass sie dich geliebt hätte, aus diesem Ort kannst du Kraft schöpfen, immer wenn du einsam bist. Das tust du auch, nicht wahr Sara?“
„Ja, ich denke... Nein, ich weiß, ich glaube das tue ich wohl“, kam Saras verzögerte Antwort.
„Aber warum zeigst du mir diesen Ort Maurice? Hier ist nichts, was ich lernen muss zu ändern. Oder doch?“
„Nein Sara. Nichts ist hier. Nichts böses. Aber das war nicht immer so... Erinnerst du dich, damals als du neun Jahre alt warst, damals warst du so neidisch auf die Mädchen die eine Mutter hatten? Du hast deine Mutter verflucht. Dieser Ort war damals ein Ort des Schreckens. Ich war hier. Ich habe es gesehen“, sagte Maurice mit ernstem Blick, fast als wenn er versuchen würde, ihr einen Vorwurf zu machen.
„Ich weiß“, sagte sie traurig und senkte den Kopf. „Damals hat mir mein Vater geholfen... Er hat mir...“ Maurice unterbrach sie: „Er hat dir erzählt, dass deine Mutter im Himmel ist.“
„Ja, das hat er...“, sagte Sara als sie erneut unterbrochen wurde. „Glaubst du, Sara? Sag mir, glaubst du daran?“
Sie wusste es nicht. Anscheinend schon. Schließlich ist sie fähig gewesen diesen Ort zu entgiften. Allein durch den Glauben.
„Es gibt nur einen Grund, warum ich dir diese Schlucht zeige. Dir muss bewusst werden, dass alles möglich ist, dass es nichts gibt was man nicht erreichen kann. Selbst die scheinbar hoffnungslose Lebenssituation in der du dich befindest ist nicht so aussichtslos, wie du sie dir vorstellst. Glaube mir.“

Sie war sich noch immer nicht sicher. Glaube hin oder her. Damals war sie neun Jahre alt gewesen und dementsprechend naiv. Gewiss, es wäre schön zu glauben und alle Wunden damit heilen zu lassen. Sie würde sich dann besser fühlen. Aber es war verdammt schwer an etwas wie „Himmel“ zu glauben, wenn man doch so „reif“ und „realistisch“ war wie sie. So wie ein Erwachsener eben. So wie die meisten. Wieso sollte man auf etwas vertrauen, das man nicht sieht und kennt? Etwa nur um sich geborgen zu fühlen? Welch idiotischer Grund.
„Das sind doch nicht deine Gedanken, Sara? Die Ironie spricht aus dir. Du bist verwirrt, du zweifelst. Ich verstehe dich. Aber bald wirst du anders denken. Bald kommen wir an, Sara, am Rande des Lebens, am erlösenden Geist, an der letzten Station unserer Reise. Rüste dich, es wird nicht einfach werden.“ Maurices Stimme klang warnend. Ein leichter Wind kam auf. Die Sonne war längst untergegangen. Es war nun dunkel, dunkel und beängstigend. Schon wieder. Wieder dunkel in ihrem Ich.


7.

Da war ein See, der sich silbrig glänzend im Mondschein vor ihnen ausbreitete. Das kleine Ruderboot, das an einem kurzen Balken am Ufer festgebunden war, wurde von den leichten Wellen des Sees geschaukelt. Es wurde immer kühler. Langsam fing Sara an zu zittern. Maurice legte seinen Arm um sie, damit sie nicht mehr frieren musste. ‚Ein Teil von dir wird immer dafür sorgen, dass es dir gut geht’, erinnerte sich Sara in diesem Augenblick.

„Wir müssen diesen See überqueren. Auf der anderen Seite wirst du deiner zerstörten Liebe begegnen. Ich warne dich, es wird höllisch sein. Es führt jedoch kein Weg daran vorbei.“ Maurice klang besorgt, als er sie darauf hinwies. Nichtssagend setzte sich Sara in das Boot und ließ die „Hölle“ auf sich zukommen.
Maurice fing an zu rudern. Sara saß ihm gegenüber, alleine. Das Boot schaukelte, es war kalt und ungemütlich, sie ahnte, das nichts Gutes auf sie zukommen würde.

Plötzlich ein Licht. Hell wie ein Blitz schien es die ganze Umgebung auszufüllen. Sie war nicht mehr im Boot. Sie spürte ihren Körper schwer auf einem Bett liegen, über ihr eine grelle Lampe und um sie herum nahm sie ganz schwach die Silhouetten von diskutierenden Menschen wahr. Eine dieser Silhouetten bewegte sich auf sie zu und begann mit ihr zu sprechen. Sie konnte nichts verstehen, alles was sie sah und hörte schien weit weg von ihr, hinter einem Schleier zu sein, weit weg und wie in Zeitlupe. Jemand berührte sie. Ihr wurden ganz plötzlich ihre Schmerzen bewusst. Ihr ganzer Körper wirkte zerbrechlich und verletzt. Das Licht wurde heller, immer heller, so hell, bis sie nichts als Licht sah und dann – mit einem Schlag – saß sie wieder im Boot mit Maurice.
Er hatte Tränen in den Augen als er sagte: „Ich dachte schon, ich hätte dich verloren, Sara. Gut, dass du da bist, du darfst noch nicht gehen. Es ist noch zu früh.“
Wo war Sara gewesen? Wieso war sie jetzt wieder hier? Ihr Herz klopfte, doch Schmerz spürte sie nicht mehr. Maurice ruderte immer schneller, er war in Eile, er befürchtete ein zu schnelles Verschwinden von Sara. Sie verstand nichts mehr, aber sie ließ sich trotzdem auf alles ein, an das Chaos und an die vielen Fragen, die sie sich permanent stellen musste, hatte sie sich ohnehin langsam gewöhnt.

Nach einer Weile dann war endlich wieder Land in Sicht. Erleichtert und doch irgendwie wieder von neuer Angst befallen atmete Sara auf.
„Wir sind da!“, hörte sie Maurice verkünden, der nebenbei damit beschäftigt war, das Boot in Richtung Steg zu rudern. Der Steg – wenn man ihn überhaupt so nennen konnte – sah aus, als hätte ihn seit Jahrhunderten kein Mensch mehr betreten. „Du hast dich halt nicht weg getraut.“, kam es von Maurice. „Du hast das Elend nicht sehen, nicht erkennen wollen, Sara. Dafür ist es nun umso schlimmer.“
Maurice hatte das Boot bereits am Steg festgebunden, als er das sagte. Er stieg aus und reichte ihr die Hand. Das morsche Holz machte einen unstabilen Eindruck, als Sara ihren Fuß draufsetzte. Sie blickte in Richtung Ufer.
„Oh mein Gott...“, seufzte sie erschrocken. Sollte das ihre Liebe zu Silvano sein?


8.

Vor Sara tat sich ein Bild des Schreckens auf. Kein Gras, nichts der gleichen, nur Stein, grauer kantiger Stein dessen Umrisse sie nur durch das Licht des Mondes erkennen konnte. Leere, dunkle finstere Leere schien sich hier auszubreiten. Als sie auf den Boden unter ihren Füßen blickte, sah sie eine Art Schimmel, ekelhaft stinkender Schimmel. Ein verdorbener Ort. Maurice ergriff wieder ihre Hand, doch Sara wollte nicht weitergehen. Sie stotterte: „Ich habe Angst Maurice, ich fürchte mich.“ Er sagte nichts, drückte ihre Hand etwas fester und fing an zu gehen.
„Silvano hat diesen Ort zerstört, aufbauen kannst du ihn nicht mehr, es liegt jetzt nur an dir, diesen Ort vom Schimmel zu befreien und ihn als einen verlorengegangenen – ehemals großen – Teil deines Ichs zu akzeptieren und zu hoffen, dass irgendwann wieder Gras hier wachsen wird.“ Maurices ernste Stimme machte Sara Angst. Sie tat sich schwer beim erklimmen der kantigen Hügel, immer wieder fiel sie hin und jedes Mal zog sie sich dabei eine neue kleine Verletzung an den spitzen Ecken der Steine zu. Sie fühlte sich unwohl und zerstreut. Die ganze Eifersucht, ihr Hass und ihre Hilflosigkeit kamen wieder auf.
Plötzlich sah sie die Mädchen vor sich, mit denen Silvano sie betrogen hatte.
„Na Sara, hat er dich wohl doch nicht geliebt, was? Du armes Ding!“
„Hey Süße, mach dir nichts draus, mit mir war er eh nur eine Nacht zusammen.“
„Ha ha ha, er musste sich bei mir ausheulen, weil du ihm nicht das geben konntest was er wollte. Ich hab ihn für dich getröstet, Liebes. Sei mir dankbar!“
„Er fühlte sich bei mir viel wohler als bei dir, du bist zu kompliziert du kleines Mauerblümchen!“
„Uhh, an Gott muss man glauben und immer brav sein, in welchem Jahrhundert lebst du eigentlich? Heutzutage ist es normal nur an sich und seinen eigenen Spaß zu denken. Schließlich lebt man nur einmal!“

Alles drehte sich. Die Stimmen kamen von allen Seiten, bombardierten sie und zwangen sie in die Knie zu gehen.
Weinend lag sie schließlich am Boden.
„Wie Maurice, wie soll ich das alles jemals vergessen? Ich kann nicht mehr, es tut so weh. Mach, dass es aufhört, lass mich frei, sag mir was ich tun soll, damit ich es vergessen kann!“
Sie weinte verzweifelt und hielt sich wieder die Hand auf den Bauch.
Maurice blickte sie mitfühlend an. Er reichte ihr seine Hände und half ihr aufzustehen. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Schluchzend und erwartungsvoll schaute sie in seine warmen Augen. Er streichelte ihre Wange und wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. Er war wohl wirklich ihre letzte Hoffnung. Und dann endlich sagte er was: „Nicht vergessen, Sara. Vergessen ist kein Ausweg. Alles was diesen Ort noch retten kann ist Vergebung.“
Seine Stimme war leise und bedacht.


9.

‚Vergebung...’ Dieses Wort ließ Sara einen Schauer den Rücken herunterlaufen lassen. Angesichts der schrecklichen Dinge die ihr angetan wurden, angesichts des zwar trügerischen, aber dennoch für Silvano existierenden Triumphes konnte sie doch nicht einfach „vergeben“. Oh, wie wahr, was wäre sie für ein Mensch, wenn sie doch vermochte das zu tun. Maurice nahm sie ihn den Arm, sie war gerührt von seinen Worten und sie weinte bitterlich, aus Selbstmitleid, Freude, Leid, Hoffnung und einfach nur so, um zu weinen.
Vergraben und eingehüllt in dem Gefühl der Liebe, das Maurice ausstrahlte, fing sie an, sich etwas mehr auf seine Worte einzulassen. Sie ließ sich fallen und auffangen durch die Liebe. Nichts weiter war nötig um glücklich zu sein.
Eng umschlungen und fast angstfrei bezwang sie das letzte Stück des Weges durch die zerbrochene Welt ihrer Liebe zusammen mit Maurice, ohne dabei auch nur einen Zweifel an der Richtigkeit ihrer Gefühle aufkommen zu lassen.
‚Vergebung...’ Immer wieder dieses Wort. Je öfter sie es sich sagte, umso Größer wurde ihre Einsicht in die Notwendigkeit, dieses Wort auch in die Tat umzusetzen.
„Du begreifst schnell, Sara“, hörte sie Maurice sagen. Sie blieb stumm und ließ diese Art von Kompliment auf sich wirken, als wenn sie nie ein schöneres bekommen hätte.
Nach einer Weile fügte er hinzu: „ Wir haben nicht mehr viel Zeit, bald sind wir da, am Rande des Ichs, erinnerst du dich? Das ist die letzte Station, der letzte Ort an den wir gemeinsam gehen werden.“
„Was wird danach sein? Wo gehe ich dann hin? Warum verlassen wir meine zerstörte Liebe schon, hab ich ihm, hab ich Silvano etwa schon vergeben?“
Fragend blickte sie in Maurices Gesicht.
Seine Antwort kam verzögert: „Nein, aber Vergebung wirst du noch lernen, ich glaube an dich, Sara. Bald begreifst du, was Vergebung ist.“
Sie beschloss sich auf seine Worte zu verlassen, er hatte sie schließlich in der zwar kurzen, aber dennoch eindruckvollen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, noch nie belogen.
Und wieder durchquerten sie die dunkle Landschaft. Langsam wurde Sara müde, ja fast schon ungeduldig. Sie konnte sich nichts unter „Ich“ vorstellen, erst recht nicht unter „dem Rande des Ichs“. Sie war also gespannt...
Die Stimmen der Mädchen, die sie umgaben, hörte sie nur noch ganz schwach und immer lächerlicher kamen sie ihr vor. Bei Maurice war sie geborgen, selbst an diesem Ort.

Endlich gelangten sie an eine Hängebrücke.
Sara konnte sich vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen halten. Immer noch war es dunkel, immer noch waren sie „in“ ihrer zerstörten Liebe.
„Diese Brücke führt uns hier raus. Sie wird uns zum erlösenden Geist bringen. Dann wirst du auch nicht mehr müde sein, Sara.“ Maurice zog sie fast schon hinter sich her.
Mit letzten Kräften, nicht nur vor Müdigkeit geschwächt, sondern auch verzerrt durch die anfänglichen Stimmen und den ekelhaften Geruch, bewegte sich Sara behutsam, Maurice umklammernd, über die Brücke. Endlos lang schien dieser Weg zu sein, so endlos wie so vieles hier in ihrem Ich.
Als sie am Ende ankam und noch kaum einen Fuß von der Brücke gesetzt hatte, fühlte sie bereits wie ein neues Gefühl in ihr aufstieg.
Die Leere war fort, ihre Müdigkeit ebenfalls. Die Wunden an ihren Knien waren verschwunden und sie atmete erleichtert auf, als wenn sie ahnen würde, dass nun alles was geschehen wird, etwas gutes ist.


10.

Das wundervolle Gefühl durchströmte sie. Nicht einmal ansatzweise hatte jemals zuvor so etwas empfunden. Es war wieder eine Wiese auf der sie sich – Hand in Hand mit Maurice – befand.
Blumen aller Art blühten, Vögel zwitscherten, der Himmel war blau... Alles wie in einem Märchen. Fast kindisch wirkte das Bild, das sie nun vor Augen hatte und auch wie ein Kind freute sie sich fast euphorisch über die Sonnenstrahlen die all das Wundervolle, Natürliche und Faszinierende dieser Welt beschienen. Sie hätte gar nicht gewusst, wie sie dieses Gefühl beschreiben sollte, wenn sie einer danach gefragt hätte.
„Verstehst du, Sara?“
Maurices Frage vermochte nicht ihre Faszination zu durchbrechen, viel mehr war sie ein Teil von der wundervollen Harmonie die alles auszufüllen schien.
Saras Antwort kam fast ein bisschen gleichgültig: „Was verstehen, Maurice? Warum ich so glücklich bin? Das weiß ich nicht.“
„Doch, das weißt du. Du verstehst es, Sara. Dieser Ort ist ein Teil von dir, es ist dein erlösender Geist. Er ist am Rande deines Ichs, weil er dir gar nicht bewusst war. So wie hier könnte alles in deinem Ich aussehen. Du musst nur zulassen, dass sich dieser Ort ausbreitet. Es gibt nichts negatives, wenn du es nicht zulässt. Das einzig komplizierte am Leben ist, einzusehen, dass es einfach ist. Es genügt ein Gefühl um alles Böse auszulöschen. Ein Gefühl nur, Sara. Nichts weiter als das ist nötig um dem Bösen in deinem Leben keinen Platz zu lassen. Du wirst noch viel lernen müssen, denn jetzt glaubst du alles zu verstehen, jetzt wo du nur Liebe spürst, fällt es dir leicht. Wirst du aber zurück sein, zurück im Leben, dann wirst du schnell vergessen. Menschen machen den großen Fehler, sich von Leid leiten zu lassen. Sie vergessen allzu schnell was wirklich wichtig ist. Versuche dich daran zu erinnern, er ist nicht schwer, du musst nur glauben, Sara. Sei wie ein Kind, wie jetzt, wenn du glücklich sein willst. Liebe ist der Schlüssel zur Vergebung.“
Maurices Worten berührten den tiefsten Punkt ihrer Seele. Wie einleuchtend, klar und einfach es war, glücklich zu sein.
„Ich habe dir gesagt, du wirst erfahren, welches Gefühl ich bin... Nun sind wir am Ende unserer Reise. Ich denke, du hast alles verstanden, auch wenn vieles was zu begreifen war nur die simple Einsicht in die Wichtigkeit der Entschlüsselung deiner Gefühle ist. Weißt du, welches deiner Gefühle ich bin, Sara?“
Ohne zu zögern gab sie ihm die Antwort: „Liebe, Maurice. Du bist die Liebe, nicht wahr?“
„Ja, ich war deine letzte Hoffnung, ich habe dich begleitet, ich bin überall in deinem Ich, doch nur hier, nur an diesem Ort schöpfe ich Kraft. Lass mich dein Leben ausfüllen, lasse nicht zu, dass du dich aufgibst.“
Nickend ergriff sie seine Hand. Ganz real, nicht mehr wie im Traum fing sie an sie zu spüren. Ein helles Licht umgab Sara nun, heller als die Sonnenstrahlen, immer heller...

„Sara, kannst du mich hören?“
Die liebevolle Stimme ihres Vaters der ihre Hand fest umklammerte drang an ihr Ohr.
Noch etwas verschwommen nahm sie einen weiß angestrichenen Raum wahr. Sie lag wieder auf einem Bett, regungslos und angeschlossen an die verschiedensten Geräte. Ein Mann in einem weißen Kittel stand an ihrem Bett.
Sie hörte ihn sagen: „Sechs Monate lag sie im Koma... Wie hatten kaum noch Hoffnung.“
„Sara mein Schatz“, begann ihr Vater „du bist wach, mein Engel.“
Sara schien noch zwischen zwei Welten zu stehen, doch sie entschied sich zu bleiben, bleiben und kämpfen in einer Welt, die fast verloren war.
‚Vergib ihnen’, dachte sie. ‚Denn sie wissen nicht, was sie tun.’ Und Liebe ist der Schlüssel zur Vergebung.

 
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Hey Anja...

So hab die Geschichte noch mal durchgelesen... und finde, wie auch schon anfangs, sie sehr schön ;)
Mir hat der Moderator geschrieben -hallelulja....- die erste Person und ich glaube auch die letzte Person.
Naja und da dachte ich, dass man deine schöne Geschichte nicht so einfach leer im Raum stehen lassen kann und wollte dir nur mal schreiben, dass ich finde das du das total klasse gemacht hast.

Also machs gut ;)

Sehen uns ja morgen...

Anita

P.s. hab eine kleine Anmerkung vom Mod bekommen, dass ich doch bitte die Leerzeichen bei einzelnen Kapiteln editieren möchte...
Also bevor du einen auf den Deckel bekommst, kann du es ja umändern...

 
Zuletzt bearbeitet:

Auf den Deckel bekommt wegen sowas hier niemand eine :D – ich finde es nur angenehmer, wenn man nach jedem Kapitel gleich weiterlesen kann anstatt immer erst die Seite weiter herunterscrollen zu müssen.
Und beim Ausdruck sind weniger Seiten dadurch natürlich auch vorteilhafter. ;)

Schönen Abend noch, Michael :)

 
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Hi Sayrina,

lange hat's gedauert bis zu meiner Kritik und ich muss gestehen, ich hab mich durch die Länge deiner Kurzgeschichte anfangs abschrecken lassen – jetzt im Nachhinein bin ich aber froh, deine Geschichte gelesen zu haben. Sie gefällt mir nämlich, um es gleich vorweg zu nehmen, sehr. :thumbsup:
Gut, dass du deine Geschichte selbst aus der Versenkung geholt hast (auch wenn dieser Beitrag inzwischen gelöscht wurde) – sonst hätte ich sie wohl wirklich nicht mehr gelesen. :)

Deinen Schreibstil fand ich sehr angenehm, die Geschichte ist sprachlich gut geschrieben, lebendig, sauber ausgearbeitet – so, wie ich eine Geschichte gerne lese.

Nun zum Inhalt, der mich sehr angesprochen hat. Du beschreibst den Schmerz deiner Protagonistin sehr einfühlsam, mit der nötigen Tiefgründigkeit, und es fiel mir leicht, mit ihr zu fühlen, ihre Verzweiflung zu spüren.
Sara versinkt anfangs in Selbstmitleid, doch dann hat sie diesen Unfall, Maurice taucht auf (den ich zuerst für einen Wunschgedanken hielt), eine Art erklärendes innerliches Ich, wie viele von uns es sich wohl manchmal wünschen, und nach und nach stellt er Sara bildlich ihr eigenes Leben vor, er erklärt ihr geduldig, wie sie es schaffen kann, zurück ins Leben zu finden, und langsam begreift Sara und schafft es letztendlich auch. :)

Was mir besonders an dem unterhaltsamen und etwas trämerischen Text gefiel, er erzählt, wie man es schaffen kann, über die schwierige Zeit einer Trennung hinwegzufinden, diese leichter zu machen, zu sich selbst zurück zu finden und sich nicht durch andere kaputt machen zu lassen – und so gesehen vermittelt er dem Leser eine wichtige Botschaft und macht Mut.
Daher werde ich die Geschichte gleich noch als Empfehlung vorschlagen.

Nun, was mir weniger gefiel ... (ich kann dir ja nicht nur den Mund wässrig reden :D):

Der Titel – "Die Rückkehr" – passt zwar, gleichzeitig finde ich ihn ein wenig einfallslos und es gibt sicherlich viele Geschichten, die so heißen. Deine Kurzgeschichte hätte also etwas Originelleres verdient. Schlecht ist er aber nicht.

Das Ende:

‚Vergib ihnen’, dachte sie. ‚Denn sie wissen nicht, was sie tun.’ Und Liebe ist der Schlüssel zur Vergebung.
Der biblische Satz erscheint mir etwas unpassend in der Geschichte. Schöner fände ich beispielsweise "Denn sie wissen es nicht besser". Aber das ist natürlich nur mein subjektives Empfinden.

Sonst hab ich nichts an dem Text auszusetzen, ich hatte den Eindruck, endlich mal wieder Qualität bei kg.de gelesen zu haben. Weiter so! :thumbsup:

Ein paar Fehler sind noch im Text, die werde ich dir nachher an diese Zeilen anschließend auflisten, wenn du möchtest (hatte bereits damit begonnen, dann bin aus dem Programm geflogen und alles war weg).

Viele Grüße,

Michael :)

EDIT:

Nachfolgend die Fehlerdetails.

Schon lange hatte sie diese gesundheitlichen Probleme gehabt, schon lange gab es etwas, dass sie nicht hinnehmen konnte
das
Ihr Körper machte einfach nicht mehr mit, grade jetzt hielt sie sich wieder die Hand auf ihren Bauch
ugs. -> gerade
Du kannst noch nicht mal – wie jeder normale
Mensch
Absatz zuviel
die dummen, arroganten Hühner die an ihrem Spinnt standen und die neuste Mode besprachen
Spind / neueste
sie erwartete nicht Böses
nichts
Nachdem er das gesagt hatte, fand sie in seinen Blick etwas beruhigendes, etwas warmes
Beruhigendes / Warmes
Sie tat sich schwer beim erklimmen der kantigen Hügel
Erklimmen
Je öfter sie es sich sagte, umso Größer wurde ihre Einsicht in die Notwendigkeit
größer
dass nun alles was geschehen wird, etwas gutes ist
Gutes
Es gibt nichts negatives
Negatives
Wie hatten kaum noch Hoffnung
Wir

 

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