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Die Sache mit dem Ami

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23.03.2017
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Die Sache mit dem Ami

Mein Großvater sieht nicht mehr gut, deswegen komme ich montags mit der S-Bahn aus Deutz und lese ihm die Zeitung vor. Zum Einstieg den Lokalteil. Der Traktorunfall im Nachbarort interessiert ihn. „Mit diesen neuen Ungetümen muss man aufpassen. Sind viel größer als die, mit denen wir früher die Ernte eingebracht haben. Da kommt leicht einer unter die Räder.“ Es ist keiner unter die Räder gekommen, aber das stört meinen Großvater nicht. „Die Polen passen nie richtig auf, die sind faul und saufen den ganzen Tag. Ich hab die nie auf meinen Trecker gelassen.“

„Wann hat denn jemals ein Pole für dich gearbeitet? “, entgegne ich etwas genervt. Es passiert in den letzten Wochen häufig, dass sich fremde Geschichten in seine eigenen mischen. Ich glaube, er merkt das, denn er erzählt weniger als früher.

Das Schützenfest am Wochenende in Türnich will er unbedingt besuchen. „Ich frage Mamma. Mal sehen, ob wir hin können oder ob es zu anstrengend ist.“

„Da bin ich jedes Jahr gewesen“, sagt er scharf, „seit achtundvierzig!“

„Das stimmt doch gar nicht Opa, du warst seit Jahren nicht mehr dort. Du siehst doch auch fast nichts mehr vom Zug.“

„Jedes Jahr …, seit achtundvierzig“, wiederholt er leiser.

„Ich rede mit Mamma, versprochen“, sage ich sanft und habe ein schlechtes Gewissen. Es fühlt sich falsch an, jemandem Vorschriften zu machen, der so viel älter ist als ich. Wahrscheinlich hat er es bis zum Wochenende ohnehin wieder vergessen. Ich nehme mir vor, trotzdem zu fragen.

„Für das Ausland bin ich zu alt“, sagt er, als ich mit dem Überregionalen beginne. Ausland ist alles, was über Köln hinausgeht. „Lies lieber die Angebote, ich brauche noch Möhren und Milch.“

Also nehmen wir uns die Werbeprospekte vor. Im Hit gibt es Tomaten billig, im Aldi ist Bratwurst im Angebot, beides wandert zu den Möhren und der Milch auf die Liste. „Bring Tomaten mit, die sind fast geschenkt! Eine Mark das Kilo.“ Ich habe es aufgegeben, ihm den Euro zu erklären, die Zahl stimmt ja.

„War doch alles anders, als ich damals gedacht hab“, sagt er unvermittelt.

Der Satz bringt mich aus dem Konzept und ich lege den Werbeprospekt zur Seite. „Was war denn anders, Opa?“, frage ich, ohne recht zu wissen, auf was der alte Mann hinaus will, der mir gegenüber im Gartenstuhl sitzt. Er ist schmal geworden mit den Jahren. Ich bin froh, dass es wieder wärmer wird, die frische Luft tut ihm gut. Er blickt auf und sieht mich mit trüben Augen an, ich merke an dem Zucken im Gesicht, dass er konzentriert ist. „Na, das mit dem Ami“, sagt er nach einer Pause und schweigt danach.

„Mit welchem Ami?“, hake ich nach, ohne große Hoffnung, wirklich verstehen zu können, wo sein Gedächtnis nun wieder ist.

„Na mit dem, der im Baum hing. Ich hab ihn beim Spielen im Wald gefunden, gar nicht weit von der Erft weg. Der Fallschirm hatte sich in den Ästen verfangen. Er hat immer wieder dran gerüttelt, kam aber nicht los. Ich hab ihn beobachtet. Sah ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Irgendwie hilflos und ein Bein stand komisch ab. Ich hatte mal einen Vogel mit gebrochenem Flügel gesehen, der stand genauso ab. Später bin ich nach Hause gelaufen und hab es Mamm erzählt. Sie hat mir verboten, nochmal in den Wald zu gehen. Der Ami hat ihr Angst gemacht, das hab ich gesehen. Ich hab ihr gesagt, sie muss keine Angst haben. ‚Der hängt da, ganz eingewickelt in den Fallschirm und kann sich nicht rühren. Und böse hat er auch nicht ausgesehen, eher traurig.‘ Meinst du, es war richtig, es ihr zu sagen?“

„Keine Ahnung“, erwidere ich, immer noch unschlüssig, worauf die Geschichte hinauslaufen soll.

„Sie hat gesagt, ich soll im Haus bleiben, weil sie zum Joppich geht. Der war damals Bürgermeister“, sprudelt es aus dem alten Mann heraus, den ich lange nicht mehr so viel habe sagen hören. ,Wenn einer im Baum festhängt, muss man dem doch helfen‘, hab ich Mamm gesagt. Sie hat mich angesehen und nach einer Weile genickt. ‚Ja, den muss man aus dem Baum holen und aus dem Wald‘, hat sie gesagt. Dann ist sie zum Joppich gegangen und der ist kurz darauf mit dem Wachtmeister und dem Linkens und dessen Knecht gekommen. Wo ich den Ami denn gefunden hätt´, haben sie gefragt. Ich müsse mich genau erinnern, das sei sehr wichtig.“

Ich höre Opa Werner zu. Sein Gesicht zuckt immer wieder, als ringe irgendeine Gefühlsregung darum, sich auf dem wettergegerbten Gesicht zu zeigen. Das tut es immer, wenn er sich auf seine Erinnerungen konzentriert. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals über diese Zeit gesprochen hat.
„Erst wollt‘ ich es nicht sagen. Ich mochte den Joppich nicht, der roch nach Zigarettenrauch, hatte einen dicken Bauch, kleine Schweinsaugen. Hat sich immer aufgespielt. Besonders nachdem der Krieg losgegangen war, aber auch davor schon. ‚Bürgermeister ist der nur, weil der von Anfang an in der Partei war‘, hat Mamm immer geschimpft. Als der Krieg losging, hat sie das nicht mehr gesagt …, da hat sie nichts mehr gegen den Joppich gesagt. Ich habe aber gesehen, dass sie ihn manchmal böse angeguckt hat, wenn er´s nicht gemerkt hat. Ich glaub, sie war wütend, dass Papp in den Osten musste und der Joppich hierbleiben durfte.“

„Was war denn jetzt mit dem Ami?“, hake ich nach.

„Dem Joppich hab ich es nicht sagen wollen und der wurde wütend deswegen. Dann hat der Linkens den Joppich und die anderen rausgeschickt und sich zu mir heruntergebeugt. ‚Wir können den da doch nicht einfach hängen lassen, dem muss man doch helfen‘, hat er leise gesagt. ‚Ich mag den Joppich nicht‘, hab ich dem Linkens zugeflüstert, wegen dem dicken Bauch, der Schweinsaugen und dem Gehabe. Da hat er gelacht und gezwinkert und ich hab gewusst, der mag den Joppich auch nicht. Das hab ich aber für mich behalten. ‚Das Bein vom Ami steht ganz komisch ab‘, hab ich dem Linkens gesagt. Ich hab ihm von dem Vogel erzählt, den ich auf unserem Hof gefunden habe, und dem Flügel, der zur Seite weggestanden hat. Ich habe ihm erzählt, dass wir den Vogel so lange gefüttert und gepflegt haben, bis der Flügel wieder heil war. Er hat genickt und gelächelt und ich hab ihm von meinem geheimen Platz nicht weit von der Erft erzählt und wie ich an der alten Weide, in die im Sommer der Blitz eingeschlagen hat, vorbeigegangen bin, Richtung Süden und dann über den kleinen Hügel und dass dort der Ami im Baum hängt. Er hat mir versprochen, dass sie es wie mit dem Vogel machen, das Bein richten, ihn pflegen, bis es wieder heil ist. Dann ist er mit dem Joppich, dem Wachtmeister und dem Knecht in den Wald gegangen. Ich wollt mit, aber Mamm hat es mir verboten.“

Ich warte darauf, wie es weitergeht mit dem Ami, aber mein Großvater schweigt, wie er es meistens tut. Er sackt ein wenig in sich zusammen und ich rutsche ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her. Nach einer Weile richtet sich der alte Mann wieder etwas auf und sieht mich an.

„Bring Tomaten mit, die kosten nur eine Mark das Kilo, das ist fast geschenkt“, sagt er.

 

Hallo @Blumenberg,

Dein Text hat mich von Anfang an gefesselt. Den Schreibstil finde ich nahezu perfekt für eine Kurzgeschichte. Das liest sich zackig aber trotzdem wird nicht zu viel weg gelassen. Ja, und das Thema ist wirklich nicht ohne. So ganz beiläufig erzählt der Opa von einem Ereignis aus seiner Kindheit, dass ihm eventuell ein Trauma verschafft hat. Warum kramt er es sonst nach so langer Zeit hervor? Mit wenigen Formulierungen zeichnest Du einen Charakter und die Ahnung einer Lebensgeschichte. Das Ende lässt Du scheinbar offen, aber ich denke, die meisten Leser können sich vorstellen, was geschah.

Ich finde das sehr gelungen.

Schönen Gruß
Kellerkind!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo,

puh. Das liest sich wie ein Schwank. Vor allem verrät der Text zu viel. Der Opa, der eben noch als seniler, fast schon dementer Mensch geschildert wird, wird dann, wenn es um den Ami geht, total exakt. Klar, ich weiß, Langzeitgedächtnis und so, aber dann müsste sich das durch den Text ziehen, dann würde er sich an alles erinnern, und auch das Ende nicht verschweigen. Natürlich selektierst du das hier als Autor für den Leser, aber ich spüre die Konstruktion einfach zu sehr, und dann zerbröselt sie. Das ist auch alles zu offensichtlich, dass er dann den Joppich und den Linkens noch genau beschreibt, wie die aussehen und was die nicht alles getan haben, das hat so ein Text nicht nötig. Die beiden Obernazis im Dorf suchen den Ami - mehr muss da nicht rüberkommen. Mir geht der Text auch viel zu schnell - ich habe kein Bild von dem alten Mann, wie sieht der aus?, wie lebt der, wie riecht es bei dem in der Wohnung? Der ist nur einfach ein Werkzeug, das sprechen soll, der ist ein Teil einer Versuchsanordnung. Da kommt nix rüber, ich kriege kein Bild von dem, deswegen kann ich da auch keine Empathie für empfinden, weder für den einen, noch für den anderen. Die bleiben alle blass, weil die eben nicht als Charaktere, als eigentliche Figuren konzipiert sind, sondern als Stichwortgeber, und das ist leider immer spürbar. Auch der Ami - gab es da keinen Dialog? Wie sah der denn aus? Diese absurde, groteske Situation und dann wird da einfach kein Wort drauf verwendet. Das, den Kern der Geschichte, da gehst du nicht mehr drauf ein. Gibt ein Buch von Degenhardt, "Zündschnüre", da geht es um eine ähnliche Situation. Die verstecken einen Engländer, und da gibt es auch so eine seltsame Episode, wie sie den da finden im Wald. Aber da ist eben alles dran, wie er da hängt, wie die sich mit Händen und Füßen verständigen, wie das alles abläuft. Da ist auch Platz für Menschlichkeit. Der Junge ist ja hier die Unschuld, und so erzählt es der nun gegenwärtig alte Mann ja auch, er versteht erst viel später, was damals passiert ist. Du hastest da auch einfach zu krass durch, ohne Pausen, ohne Mimik, ohne Gestik, ohne alles im Grunde. Das ist alles viel zu eindeutig - so ein Dialog nimmt sich mehr Zeit, hat mehr Raum, mehr Tiefe. Bei dir bleibt das an der Oberfläche.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Blumenberg,

zunächst mal was Formelles: Siehst Du nicht, dass die Forumssoftware Leerzeilen in Deinen Text kloppt, wo keine hingehören? Ich habe das vor ein paar Tagen schon einem anderen User geschrieben. Schaut Ihr Euch die Texte nach dem Einstellen nicht an? So was muss einem doch auffallen. Wenn ich so etwas sehe, zweifle ich gleich an der Ernsthaftigkeit des ganzen Projekts. Verfasst Du ein Bewerbungsschreiben auf einer Serviette? Gehst Du zum ersten Date in FlipFlops und Jogginghose? Bitte etwas mehr Mühe geben.

Dann zum Text. Ich habe die Kommentare gelesen und stimme Jimmy zu, was die Probleme der Geschichte betrifft. Ist natürlich immer so, dass man schon ein bisschen fokussiert ist, wenn man überzeugende Argumente bei einem anderen Kommentator liest. Schwer, das angesprochene Problem dann nicht zu sehen.

Trotzdem erst mal das Gute. Ich finde die Idee spannend. Das ist schon mal ein Riesending, überhaupt eine gute Idee für einen Text zu haben. Viele Geschichten, die (in diesem Forum) scheitern, scheitern bereits wegen schwacher Ideen. Das hat mir in Deinem Text wirklich gefallen.

Problematisch ist dann allerdings die Umsetzung. Die eigentliche Geschichte, also das Kindheitserlebnis, wird von dem alten Mann als Rückschau berichtet. Das ist ein erstes Problem, denn dieser Mann ist kein Autor, und immer wenn Figuren innerhalb Geschichten zu Erzählern werden, ist höchste Vorsicht geboten. Ich versuche meist, das komplett zu vermeiden, denn das geht häufiger schief, als es funktioniert.

Jimmy hat es schon angesprochen: Der Alte kann erst einmal kaum bis drei zählen, aber dann redet flüssig ohne Punkt und Komma. Hier nutzt er sogar eine Konjunktiv(?)form: »Ich müsse mich genau erinnern, das sei sehr wichtig.«

Mal abgesehen davon, dass Du es hinkriegen musst, den alten Mann eine Geschichte erzählen zu lassen, ohne dass der Eindruck seiner Senilität gemildert wird, was schwierig sein dürfte, hast Du auch ein anderes Problem. Der alte Mann kann allenfalls schlecht erzählen. Er kann kein guter Erzähler sein, denn das müsste irgendwie mit seiner Vita verankert werden. Also stammelt er so vor sich hin. Doch damit kannst Du keine Atmosphäre aufbauen. Alles, was das Klima von Unsicherheit und Angst atmosphärisch beschreiben würde, musst Du den alten Mann über Umwegen reduziert sagen lassen. Das ist eine schwierige Aufgabe.

Kurzum: Meist funktioniert es besser, »selbst« eine Geschichte zu erzählen und das nicht Figuren innerhalb der Geschichte machen lassen. Du musst sehr versiert im Schreiben von Dialogen sein, um so etwas zu meistern.

Ein letzter Gedanke: Wäre Deine Geschichte ein Film, würde man sie dem Bereich »Anspruchsvoll« zuordnen. Mach Dir bewusst, dass es abseits allgemeiner Richtlinien (die für alle Kurz-Geschichten gelten) solche gibt, die in bestimmten Segmenten gültig sind. Es gibt genrespezifische Codizes, die man nicht vernachlässigen sollte, aber mir geht es um einen eher formalen Punkt.

Es ist sehr schwierig, eine anspruchsvolle Geschichte, mit einem Reichtum an psychischer Komplexität in so kurzer Form zu erzählen, wie Du es hier versuchst. Das ist keine Geschichte von Schnuddel und Schnuddelpferdchen. Hier geht es nicht nur um ein Ablaufen der Ereignisse. Soll man so etwas wie Tragik in dieser Geschichte spüren, dann brauchst Du mehr Raum, um die Figuren zu entwickeln. In dieser Verknappung gelingt Dir das nicht, obwohl es ein meisterhafter Erzähler (wie Tchechov beispielsweise) wohl fertigbringen würde. Also nimm Dir mehr Zeit, um die Figuren lebendig werden zu lassen. Dann erkennt man auch das Drama, das in dieser Story steckt.

Gruß Achillus

 

Hallo Blumenberg,

@Achillus und @jimmysalaryman haben schon so viel zu deiner Geschichte gesagt und dich mit Tipps versorgt, ich kann dem kaum noch etwas hinzufügen.

Ich mochte die Idee. Einerseits die des alten Mannes, der mit dieser Geschichte aus seiner Kindheit nicht abschließen kann. Eine Geschichte, die er wahrscheinlich Zeit seines Lebens niemand anvertraut hat. Ich könnte mir auch vorstellen, dass er sich immer schuldig gefühlt hat.

Positiv fand ich auch, dass deine Geschichte angenehm zu lesen war. Das finde ich auch nicht unwichtig, ich finde nichts schlimmer als einen Text, der sich holprig liest und oft ist das ja auch etwas, dass sich nur schwer ändern lässt.

Die Umsetzung hat mir auch nicht so gut gefallen - die Charaktere kommen noch zu flach rüber, alles wirkt eher wie wie ein kurzer Sketch. Um das richtig gut rüber zu bringen, braucht das alles viel mehr Raum. Gerade wenn du auch diesen Bogen von dem alten Mann zu dieser Kindheitserinnerung bekommen willst. Ich habe da leider konkret auch gar keine Idee, aber die Erinnerung über den Dialog zu transportieren finde ich auch ziemlich schwierig. In jedem Fall müsste da die Sprache besser angepasst werden.
Ich könnte mir auch vorstellen, die Geschichte nur auf dieser Erinnerung aufzubauen, aber das ist dann natürlich eine ganz andere Geschichte.

Viele Grüße
Bella

 
Zuletzt bearbeitet:

„Die Polen passen nie richtig auf, die sind faul und saufen den ganzen Tag. Ich hab die nie auf meinen Trecker gelassen.“

„Vor allem eins, mein Kind. - Die Unmoral der Lüge besteht nicht in der Verletzung der sakrosankten Wahrheit. Auf diese sich zu berufen hat am letzten eine Gesellschaft das Recht, die ihre Zwangsmitglieder dazu verhält, mit der Sprache herauszurücken, um sie dann desto zuverlässiger ereilen zu können. Es kommt der universalen Unwahrheit nicht zu, auf der partikularen Wahrheit zu bestehen, die sie doch sogleich in ihr Gegenteil verkehrt. Trotzdem haftet der Lüge etwas Widerwärtiges an, dessen Bewusstsein einem zwar von der alten Peitsche eingeprügelt ward, aber zugleich etwas über die Kerkermeister besagt. Der Fehler liegt bei der allzu großen Aufrichtigkeit. Wer lügt, schämt sich, denn an jeder Lüge muss er das Unwürdige der Welteinrichtung erfahren, die ihn zum Lügen zwingt, wenn er leben will, und ihm dabei auch noch »Üb immer Treu' und Redlichkeit« vorsingt. Solche Scham entzieht den Lügen der subtiler Organisierten die Kraft. Sie machen es schlecht, und damit wird die Lüge recht eigentlich erst zur Unmoral am anderen. Sie schätzt ihn als dumm ein und dient der Nichtachtung zum Ausdruck. Unter den abgefeimten Praktikern von heute hat die Lüge längst ihre ehrliche Funktion verloren, über Reales zu täuschen. Keiner glaubt keinem, alle wissen Bescheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu verstehen zu geben, dass einem nichts an ihm liegt, dass man seiner nicht bedarf, dass einem gleichgültig ist, was er über einen denkt. Die Lüge, einmal ein liberales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einer der Techniken der Unverschämtheit geworden, mit deren Hilfe jeder Einzelne die Kälte um sich verbreitet, in deren Schutz er gedeihen kann“, heißt es bei Adorno (Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 9, Anpassung an die neuere Rechtschreibung durch mich)

„Saiƕan in andwairþja manne“, bedeutet in der Sprache Ulfilas „Rücksicht nehmen auf ...“, denn was, so mögt Ihr Euch fragen, bewegt den, solch einen Aufwand für eine so kleine Geschichte zu treiben,

ihr Lieben,

denn was ist, wenn die Sache „mit dem Ami“ die gleiche Qualität besitzt, wie die Aussage zu dem oder – was ja durchkommt durch des Alten Rede – den Polen?

Leben wir nicht alle auf einem Kreta und – dem höheren Wesen, das wir alle nach Dr. Murke verehren, sei es getrommelt und gepfiffen – nicht das Schicksal eines Pinocchio erleiden und basteln an den je eigenen Wahrheiten (die nun nicht unbedingt wie aktuell die csu-liche Maut-Lüge Mrd. kosten muss), umso mehr, als wir hier überwiegend der schönen Literatur frönen und weniger ein Loblied auf Polizeibericht und Gerichtsakte, um‘s Loblied der Authentizität zu singen.

Was, wenn der alte Herr in seiner eigenen, hermetisch abgeschlossenen Welt lebt. Reicht es nicht zunächst einmal aus, dass dem alten Herrn wohl mit dem Ami bewusst geworden ist, in welch heroisch kackbrauner (beschissener) Zeit er hineingeworfen wurde. Ihm die unbeschwerte Kindheit raubte? In einem Gespräch mit Fritz Stern (deutsch-amerikanischer Historiker) begründete Helmut Schmidt, warum er keine Autobiografie verfasse – der potentiellen Lüge wegen, die schon durch Selbstbeweihräucherung gegeben ist.

Mein Großvater sieht nicht mehr gut, …
beginnt Deine m. E. gelungene Geschichte,

lieber Blumenberg,

und der Gesichtssinn ist schon einer der wichtigsten Sinne, was man erst merkt, wenn‘s nicht mehr so recht „funktioniert“ oder das Gesicht, der gute Ruf verloren geht. Und wer nicht gut sieht, sieht anders, wie z. B. die Goten* (Alarich, Ermanarich und alle Theoderiche nebst Ulfila trugen keine Brille, bin ich mir sehr sicher), die hatten eine Unmenge an Begrifflichkeiten zu dem schlichten Verb „sehen“ (wir werden sehen/erfahren, dass der Bedeutungen immer noch mehr sind, als man zunächst glauben mag).

Die älteste Schicht scheint im saíƕan (Sehen), auf dem mutmaßlichen ur-germ. Idiom *sehwan, sehen fußt, das wiederum im indoeuropäischen *sekᵘ̯- gründet, das „wittern, spüren, bemerken, sehen, zeigen, sagen“ meint – was auf die Sprache des Jägers (der Duden vermutet die Jagd mit dem Hund) und als Liebhaber des Wolfs und seiner Derivate (ab 50 cm, ich buckel halt nicht gerne) hat die Vermutung was für sich.

Mit unterschiedlichen Vorsilben wechselt die Bedeutung: andsaíƕan* : nhd. auf etwas sehen, berücksichtigen, achtgeben, ansehen, in Betracht ziehen, beachten, atsaíƕan* zunächst wie ein Parodie sehen auf, sich in Acht nehmen, sich hüten, andan (sik) (sich) vermischen mit, mischen; (ur?)germanische Quelle „blandan“ mischen, trüben; idg. *bʰlendʰ-, Adj., V., fahl, rötlich, schimmern, dämmern, undeutlich sehen, irren, blinds nhd. Blind fahl, rötlich, schimmern, dämmern, undeutlich sehen, irren und schließlich – so bin ich halt - saiƕan faura: nhd. „sich hüten vor“, also auch vor mir, dem Personal der Geschichte und den hier Beteiligten. (Ich bin überzeugt davon, Naturvölker – die Goten, was wir von ihnen wissen - waren nie eins, hatten auf ihrer Wanderung bis in den/ besser die Untergänge mit den eroberten Völkern ältere Kulturen um neue Elemente bereichert. Meister der Anpassung, sozusagen, was in den Heldensagen so weit geht, dass sie mit den Hunnen kooperierten -der historische Name des Etzels/Atli der Sagen ist darum auch ein gotischer: Attila, Väterchen.

Der Großvaters Schicksal lässt sich m. E. durch die Vokabel „blinds“ charakterisieren.

Es passiert in den letzten Wochen häufig, dass sich fremde Geschichten in seine eigenen mischen.

Aber kann einer, der vergisst, lügen? Ist dazu nicht der Vorsatz nötig? Dass Tradition und Riten wie ein Schützenfest nicht untergehen – selbst wenn ich mich unter Schützenbrüdern wie Hubertusjüngern im Idealfall nur besaufen würde – Riten sind notwendig und sei‘s allein für die, die nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen.

„Da bin ich jedes Jahr gewesen“, sagt er scharf, „seit achtundvierzig!“
„Das stimmt doch gar nicht Opa, du warst seit Jahren nicht mehr dort. Du siehst doch auch fast nichts mehr vom Zug.“
„Jedes Jahr …, seit achtundvierzig“, wiederholt er leiser.

„Für das Ausland bin ich zu alt“, sagt er, als ich mit dem Überregionalen beginne. Ausland ist alles, was über Köln hinausgeht.
Für die gotischen Völker konnte schon der/das Nachbarshof/-dorf schon der Feind sein – bis ein (erfolgreicher!) Heerführer sie – wenn‘s sein musste – zur Ordnung rief.

„War doch alles anders, als ich damals gedacht hab“, sagt er unvermittelt.

Gern gelesen vom

Friedel

* Gerhard Köbler: Gotisches Wörterbuch
http://www.koeblergerhard.de/got/got.html
Ich wähle als Vergleichssprache gerne die gotische Sprache, sind doch dort dank des m. E. „Luthers“ der Goten, Bischof Ulfila, die ersten schriftlichen Zeugnisse germanistsicher Zunge zu finden.
Und in manchen, wenn nicht den meisten alten Wörtern, ist das ahd. sehr nahe beim Gotischen (kann auch gar nicht anders sein, selbst vier Jahrhunderte vor den ersten ahd. Niederschriften (Vertrag von Verdun zwischen den Enkeln des großen Karl) hätten Theoderich der Große (König der „Ostgoten und Roms“) und sein Schwager Chlodwig (Salfranke) keines Dolmetschers bedurft.

 

Hallo Blumenberg,

mir hat Deine Kurzgeschichte gut gefallen, Du kannst gut schreiben und die Idee gefällt mir. Dass der senile Großvater plötzlich eine Geschichte flüssig erzählen kann, ist mir auch aufgefallen, finde es aber nicht ganz so tragisch wie einige meiner Vorredner. Vielleicht wäre die Geschichte glaubwürdiger und spannender, wenn ein Zeitzeuge (Älteres Geschwisterkind des Großvaters?) anwesend wäre und die Geschichten kommentiert oder abstreitet. So könnte man auch noch mehrere Interpretationen zulassen.

Das Ende hat mir sehr gut gefallen, die Geschichte endete im richtigen Augenblick.

„Ich frage Mamma.

Warum Mamma und nicht Mama?

beides wandert zu den Möhren und der Milch auf die Liste.

Weniger verschachtelt:
beides wandert auf die Liste, zu den Möhren und der Milch.

Irgendwie hilflos und ein Bein stand komisch ab. Ich hatte mal einen Vogel mit gebrochenem Flügel gesehen, der stand genauso ab.

Hier habe ich mich gefragt, ob die Schlussfolgerung des kriegsgeplagten Kindes, dass das Bein gebrochen ist, nicht zu viel verlangt wäre.

„Erst wollt‘ ich es nicht sagen. Ich mochte den Joppich nicht, der roch nach Zigarettenrauch, hatte einen dicken Bauch, kleine Schweinsaugen. Hat sich immer aufgespielt. Besonders nachdem der Krieg losgegangen war, aber auch davor schon. ‚Bürgermeister ist der nur, weil der von Anfang an in der Partei war‘, hat Mamm immer geschimpft. Als der Krieg losging, hat sie das nicht mehr gesagt …, da hat sie nichts mehr gegen den Joppich gesagt. Ich habe aber gesehen, dass sie ihn manchmal böse angeguckt hat, wenn er´s nicht gemerkt hat. Ich glaub, sie war wütend, dass Papp in den Osten musste und der Joppich hierbleiben durfte.“

„Was war denn jetzt mit dem Ami?“, hake ich nach.


Dieser Abschnitt hat mir nicht gefallen. Was interessiert mich der Joppich und seine Vergangenheit? Baue lieber noch die anderen Geschehnisse aus. Das Nachhaken des Ich-Erzählers habe ich als Erleichterung gefunden, ihm scheint es genau so ergangen zu sein wie mir.
Übrigens: Hat damals nicht ein Großteil der Bevölkerung geraucht? Dass man jemanden nicht mag, weil er nach Zigarettenrauch riecht, verbinde ich eher mit der heutigen Zeit. Gegebenenfalls würde ich etwas Passenderes suchen.

und hab es Mamm erzählt.

Mamm verstehe ich noch weniger als Mamma. Ich kenne nur das amerikanische "Mum".

 

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