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Die Vögel

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16.05.2004
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Die Vögel

DIE VÖGEL


In unserer Klasse waren zwei Mädchen, eineiige Zwillinge. Sie glichen sich hundertprozentig. Beide waren klein und augenscheinlich zu dünn, ihre Gesichter auffallend blass und ihre glatten Haare, die sie immer zu einem Pferdeschwanz trugen waren rötlich und immer fettig. Ihre Lippen waren dünn und spröde. Ihre Augen schienen riesengroß, genauso wie ihre Nasen, die von der Seite betrachtet wie Schnäbel aussahen. Die beiden Mädchen sahen krank aus und irgendwie abstoßend. Bei uns in der Klasse hießen sie nur die Vögel.

Die Vögel waren immer zusammen. Im Unterricht saßen sie nebeneinander, genauso wie in der Pause und im Bus. Keiner kam so recht an sie ran und eigentlich versuchte es auch keiner. Auf jeden Fall entstanden so viele Geschichten über sie und ihre Vogelfamilie. Wir trieben unseren Spaß mit ihnen, wir konnten sie einfach nicht ausstehen. Nicht, weil sie abstoßend aussahen, sondern weil sie immer alleine waren, außerdem sah man sie nur in der Schule, wir munkelten, dass sie Nachmittags schlafen würden um Nachts auf die Jagd nach Würmern zu gehen und um ihre Hausaufgaben zu machen. Die Vögel waren nämlich schreckliche Streberinnen. Sie hatten immer ihre Hausaufgaben und zeigten immer auf. Nur leider waren sie irgendwie dumm, drum bekamen sie, trotz ihrer Anstrengung nie sehr gute Noten.
Wir machten uns sorgen, ihre Gehirne könnten nicht richtig funktionieren. Also stellten wir ihnen eines Tages nährstoffreiches Vogelfutter auf ihre Tische. Als sie in die Klasse kamen wurden ihre blassen Gesichter schrecklich rot. Sie fingen an zu weinen und liefen im Gleichschritt davon. Sie kamen den ganzen Tag nicht zum Unterricht, dass einzige Mal so weit ich mich erinnere.
Ein anderes mal ersetzten wir ihre Stühle durch eine Stange die wir von der Decke runterhingen ließen. Die Konstruktion zu bauen war eine ganz schöne Arbeit und als unsere Lehrerin vor Wut die Stange samt Befestigung von der Decke riss meinte einer: „Aber Frau Lehrerin, das war doch eine freundliche Geste. Es ist doch nicht natürlich und vermutlich auch nicht gesund für Vögel den ganzen Tag auf einem Stuhl zu sitzen.“ Unsere Lehrerin lies die ganze Klasse nachsitzen und keiner ging auf das Angebot ein, den oder diejenigen zu nennen, die Verantwortung für die Vogelstange trugen und sich so von dem Nachsitzen zu befreien.
„Wie könnt ihr die beiden bloß so ausgrenzen? Keiner kann etwas für sein Aussehen.“
„Aber sie sind Vögel, ich bin mir sicher, ich habe Würmer auf ihren Pausenbroten gesehen.“
„Verdammt noch mal, die beiden sind keine Vögel.“

Einige Wochen später klingelte im Unterricht die Alarmglocke und auf dem Flur hörte man Geschrei und rennende Menschen. Als der Lehrer die Tür öffnete um zu gucken was los sei, stürzte in gerade diesem Augenblick ein Teil der Decke im Flur ein und verschüttete den Eingang und mit ihm den Lehrer. Hinter dem Gerümpel hörten wir lautes Geschrei und Gewimmer. Aus den Rufen ließ sich erschließen, dass es in einem benachbarten Raum brannte. Unsere einzige Fluchtmöglichkeit war verschüttet, da unser Raum sich im vierten Stockwerk befand. Die Mädchen und einige Jungen weinten. Ein paar versuchten die Deckenreste im Eingang weg zu schaffen was nutzlos erschien, angesichts der Massen von Geröll. Nur die Zwillinge blieben unbehelligt auf ihren Stühlen sitzen. Doch irgendwann als die Situation gänzlich ausweglos erschien, standen sie auf und zogen ihre Oberteile aus und auf ihren Rücken spannen sich Flügel wie die eines Schwans. Sie waren mit weißen Federn bedeckt und ihre Spannweite schien enorm. Die Flügel ließen die Zwillinge schöner erscheinen als alles was ich jemals gesehen habe. Sie öffneten das Fenster und sprangen in ihre Freiheit. Entsetzt rannten wir ans Fenster und schauten ihnen nach, wie sie sicher nach unten glitten. Sie waren atemberaubend schön und wir vergaßen ganz unseren Kampf ums Überleben.

 

Feindschaft in Form von Gehässigkeiten und übler Nachrede kann befreiend wirken. Sie stellt infrage, wo es zuvor nichts zu fragen gab. Und zeigt damit den Weg auf, aus dem Horizont bislang unbekannter Grenzen herauszutreten.

Ich interpretiere die Geschichte so, dass den Zwillingen im Laufe der Handlung ihre Flügel erst wachsen, sie diese zu Beginn also noch nicht besaßen.

Im Hässlichen offenbart sich das Schöne. Wer jedoch einäugig durch die Welt geht und nur einen Sinn für das Missglückte hat, dem wird sich das Schöne niemals zeigen.


Übrigens eher ein (modernes) Märchen, meiner Ansicht nach. Gehört eher nicht in die Rubrik Philosophisches (es fehlt eine implizite Form der Erkenntnis). Eine Verschiebung nach Fantasy/Märchen wäre daher angeraten.

 

Hi,
Schönheit liegt im Verborgenen. Die Zwillinge haben sich nie gewehrt, was sich mit dem Schluss nicht vereinbahrt. Ich hatte den Eindruck, die beiden wären sehr gütige und verzeihende Wesen. Wäre schön gewesen, sie hätten ihre Mitschüler gerettet, um ihnen eine Chance zur Wiedergutmachung und Lehrnbereitschaft zu geben.
Ist aber dennoch eine hübsch-hässliche Geschichte im positiven Sinn. Vielleicht sogar eine, die man seinen Kinder erzählt, um ihnen klar zu machen, dass man niemanden ausgrenzen darf wegen seines Aussehens oder seiner Zurückhaltung. Denn die Story vom hässlichen Entlein ist mir dann doch schon zu oft aufgebacken worden.
Fazit: Hab ich gern gelesen und wird nicht vergessen! :thumbsup:
Liebe Grüße von Susie

 

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