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Die Wahrsagerin

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30.08.2004
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Die Wahrsagerin

Schlüsseldrehen. Leichtes Knarzen einer sich öffnenden Holz - Haustür. Sie schließt die Tür hinter sich ab, stellt ihre Tasche auf den Boden, neben einer alten Kommode, bestückt mit Bildern ihr verwandter Personen. Nach einem kurzen Blick in den neben dem Kleiderständer hängenden Spiegel verschwindet sie in der Küche. Es ist spät geworden.
Marie Bernhardts arbeitet auf einem Jahrmarkt als Wahrsagerin. Jetzt langsam auf die 60 zulaufend spürt sie eine leichte Ermattung. Tochter einer russischen Immigrantin, Frau eines deutschen Dachdeckers, der vor 5 Jahren verstorben ist, daher Witwe, Mutter einer Tochter und eines Sohnes, drei Enkelkinder auf der einen und zwei auf der anderen Seite. Make - Up nur noch als Dekoration, denn das Leben zeichnet stark. Kind der Nachkriegszeit wollte Marie immer eine Erklärung für das Elend in dem sie aufgewachsen war, stürzte sich in die Esoterik, las Bücher über Taro, Sternzeichen und was sonst noch so dazu gehört. Als sie begann für jegliche Freundinnen und ihre Kinder die Aszedenten auszurechnen und ihnen aus der Hand zu lesen, war sie um die 40.
Nun starb ihr Mann, wie vorher erwähnt, vor 5 Jahren infolge eines Herzinfarktes. Trauer und tiefe Depression ließen sie für längere Zeit nicht los. Ihn, den sie nie wirklich geliebt hatte, denn sie wurden verheiratet, war im Laufe der Jahre einer ihrer einzigen Bezugspersonen geblieben. Alle Freunde um einen herum starben nach und nach weg. Und die Jungen wollten nichts mehr mit einem zu tun haben.
Auf eine Annonce in der Zeitung hin nahm sie den Beruf der Wahrsagerin "Madame Verité" an. Somit wurde ihr Hobby zum Handwerk und sie wieder lebensfroh. Da sie fest in ihre esoterischen Fähigkeiten vertraute, war sie überzeugt, dem Schicksal zu dienen.
Wie ein nasser Sack auf eine Stuhl niedergesunken bewegt sie das noch vor 40 Sekunden mit Gurken belegt und frisch mit Salz beträufelte Vollkornbrot auf ihren offenen, faltigen Mund zu. "Madame Verité" ist langsam müde und träge. Im Laufe der Jahre hat sich einiges an Speck an ihren Hüften und Bauch angesammelt, im Sitzen liegen ihre vom Alter und Stillen schlaff hängenden Brüste auf ihrer Bauchdecke. Sie reflektiert über den vergangenen Tag.
Zwei der Personen, die sie heute aufgesucht haben, hat sie noch jetzt gut in Erinnerung. Eine wohl noch ältere als sie, zerknitterte Frau, die ihr sehr traurig schien. Auf ihren Instinkt vertrauend war sie davon überzeugt, dass die Gute wohl jeden Tag den Tod an ihrer Haustür klopfen hört. Daher prophezeite sie ihr ein noch einige Jahre andauerndes Leben, und ein anschließend ruhiges Entschweben aus der Welt der Lebenden. Der junge Mann, an den sie sich auch noch erinnern konnte, war wohl nicht älter als 20, vielleicht gerade mal 18. Er erinnerte sie an ihren Sohn im gleichen Alter. Aus diesem Grund, und wegen seinem Funkeln in den Augen, prophezeite sie ihm, dass seine Wünsche und wohl ein großer Traum von ihm vielleicht sogar schon heute Abend in Erfüllung gehen würden. Sie kennt die Jungs in diesem Alter, das Einzige, was die interessiert, sind angehende Frauen. Und dieser junge Mann war durchaus hübsch, hatte wohl am heutigen Abend ein Rendezvous mit seiner Angebeteten.
Die Füße schon fast hinter sich her schleifend bewegt sie sich ins Wohnzimmer. Auf der nun auch schon fast 20 Jahre alten Couch sinkt sie nieder, schaltet den Fernseher ein. Sie sitzt auf der rechten Seite der Couch, ihr Mann saß immer auf der linken Seite. Rechts, weil von da aus der Weg zur Küche kürzer ist, und sie somit nicht immer zwischen dem Fernseher und ihrem Mann hin und her laufen musste. Es ist 8 Uhr abends, Zeit für die Nachrichten auf dem Ersten. Sie nippt an einem Glas frisch gebrühten Kamillentee, schaut wieder auf den Bildschirm und kann ihren Augen nicht trauen.
Der junge Mann, der heute bei ihr war, im Ersten, in den Nachrichten in der Großaufnahme. Amoklauf. In der Schule nie durch hervorragende Leistungen, mehr durch Aphatie auffällig, die Eltern auf dem besten Weg zur Scheidung, zurückgewiesene Liebe der Auslöser. Alles war schon seit langem vorbereitet, und das Szenario war auch so verlaufen, wie er sich das vorgestellt hatte.
In einem hatte "Madame Verité" recht, heute ist sein Traum in Erfüllung gegangen, seine Wünsche nach einem Schuss zwischen seinen Augenbrauen wohl auch, sich gleichsam in Luft aufgelöst. Ja, er hatte an diesem Abend ein Rendezvous. Ein Rendezvous mit dem Tod.

Hier sei vermerkt, dass die alte Frau, die ebenfalls an diesem Tag bei "Madame Verité" gewesen ist, am Abend ein Rendezvous aus Fleisch und Blut hatte, sich die Beine rasiert, ein neues Kleid und ein Calvin Klein Parfüm in der Stadt gekauft hatte, um ihrem Angebeteten zu gefallen. Und sie verbrachten tatsächlich noch die nächsten 6 Jahre zusammen, unternahmen einige Reisen, unter anderem nach China, bis sie letztendlich friedlich im Schlaf an Altersschwäche starb.

 

Hallo le individo,

möchte Dich erst einmal begrüßen hier auf KG und wünsche Dir viel Spass! :)

Zum Text:
Das mit den vielen Fragezeichen verstehe ich nicht so ganz. Was bedeuten sie? :confused:
Dass ein unbedachter Satz, der so ins Blaue hinein gesagt wird, derart drasmatische Folgen haben kann hast Du gut umgesetzt.
Der anfangs so harmlose Text nimmt eine sehr unerwartete Wendung. Die Frage, ob der Junge Mann auch dann Amok gelaufen wäre, wenn er nicht bei der Wahrsagerin gewesen wäre, bleibt offen.

Hat mir gut gefallen. ;)

Lieben Gruß, die Kürbiselfe

 

danke für die gute kritik.. die fragezeichen habe ich ausgebessert, das waren nur probleme zwecks textkonvertierung

 

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