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Die Yak-Knochen-Mala
Die Yak-Knochen-Mala
1) An der Stupa von Bodhanath, Nepal
Da war sie also endlich – in Nepal, auf dem Weg zu dem berühmten Stupa von Boudhanath. Katharina fragte sich zum wiederholten Male, warum sie die Strapazen eines so langen Fluges auf sich genommen hatte. Auf Armut und Elend war sie bei ihrer ersten Reise in die dritte Welt gefasst gewesen. Aber das rohe Fleisch, das am staubigen Straßenrand unverpackt zum Kauf angeboten wurde, manchmal gar mit einem Ziegenkopf garniert – da drehte sich ihr fast der Magen um. Und erst die Bettler, die ihre in Lumpen gewickelten Fingerstümpfen flehend empor reckten!
"Gib den Bettlern nichts, sonst wirst Du sie nicht mehr los. Spende lieber etwas für eine Hilfsorganisation.", warnte ihre Freundin Anna sie glücklicherweise. Katharinas Schuldgefühle wurden etwas erträglicher und sie betrachtete den berühmten Stupa genauer. Sie hatte im Reiseführer gelesen, dass er mit seiner Höhe von 40 Metern das größte buddhistische Heiligtum Nepals ist und ein dreidimensionales Mandala darstellt. Auf einem weißen, flachen, quadratischen Fundament von mehr als 100 Metern Breite, wölbt sich eine weiß-gelbliche Halbkugel wie ein riesiger Busen in den Himmel. Eine Art Obelisk aus hellbraunen Ziegelsteinen ist für eine Brustwarze allerdings doch zu spitz. Die am Fuße aller vier Seiten des Obelisken aufgemalten, überdimensionalen Augen schienen Katharina in ihrer Allwissenheit zu durchdringen. Katharina liefe eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Dabei schien die Sonne in über tausend Meter Höhe so strahlend, dass es für ihr kurzärmliges T-Shirt und die dünne Baumwollhose eigentlich schon zu warm war, aber nackte Schultern sind in diesen Ländern auch bei Ausländern nicht gern gesehen.
"Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass alle Pilger nur rechts herum um den Stupa herumgehen, nicht wahr?", fragte Katharina ihre Freundin. Anna war schon früher in Nepal gewesen und seit über zehn Jahren Buddhistin, sie kannte sich aus.
"Stimmt, auch die Gebetsmühlen werden immer im Uhrzeigersinn gedreht. Dadurch sammelt man positives Karma an.", erklärte sie geduldig.
"Klar, das senkt das Risiko, im nächsten Leben als Hund oder Frau wiedergeboren zu werden.", erwiderte Katharina.
Doch Anna ließ sich nicht provozieren und ihre blauen Augen blinzelten fröhlich. "Das halte ich selbst ein bisschen für Aberglaube. Und Du musst schließlich nicht Tibeterin werden, um zu meditieren. Du brauchst noch nicht einmal Buddhistin zu werden."
Genau diesen Mangel an Missionseifer und die humorvolle Gelassenheit fand
Katharina bei vielen Buddhisten so anziehend. Ihre tägliche Meditation tat ihr schon seit Jahren unbeschreiblich gut, aber diese fremden Gebräuche kollidierten immer noch mit ihrem westlichen, rationalen Weltbild. Nun, viele ihrer Freunde hatten davon geschwärmt, wie viel authentischer ein Meditationsseminar in einem "richtigen" buddhistischen Kloster in Nepal sei. Die Neugier hatte schließlich gesiegt und jetzt war sie hier.
Die etwa 10 Meter breite Fußgängerzone, auf der die Pilger in ihren farbenfrohen Trachten den Stupa umrunden, wurde von einer Vielzahl kleiner Andenkenläden umschlossen. Deren Angebot begeisterte Katharina mehr als die eigentliche Sehenswürdigkeit. Gleich am Anfang entdeckte sie auf einem niedrigen Verkaufsstand die berühmten Malas. Die meisten sind aus dunkelbraunem Holz, doch eine beige-braun gefleckte fiel ihr sofort ins Auge und sie begutachte sie genauer.
"Jakbohn, jakbohn", nuschelte der tibetische Verkäufer und strahlte die blonden Frauen begeistert an. Wahrscheinlich handelte es sich bei ihm um einen der vielen Exiltibeter. Wie bei den meisten von ihnen hatte seine Hautfarbe eine gesunde Bräune und seine dunklen Augen wirkten ruhig und offenen.
"Er meint Yak Knochen.", übersetzte Anna.
"Was, Malas werden aus Knochen hergestellt?", die Kette wirkte plötzlich bleischwer in Katharinas Hand.
"Ohne Yakfleisch würden die Tibeter in den kalten Hochebenen verhungern, die Tiere sind ihnen heilig, alles wird verwendet. Diese Mala hier scheint wirklich etwas besonderes zu sein." Da sogar Anna beeindruckt schien, schaute Katharina sich die Gebetskette genauer an. Sie war wie alle anderen etwa 40 cm lang, die Perlen etwas mehr als erbsengroß. An einigen Stellen wirkte die Farbe tatsächlich wie Elfenbein, an anderen war sie schokoladenbraun. Sie fühlten sich sehr hart an und klapperten leise gegeneinander. Der freundlicher Tibeter deutete auf eine einzelne Perle und rief: "Three eye". Und tatsächlich: die zwei konzentrischen Kreise mit dem Punkt in der Mitte, die in jede Perlen dreimal hineingeschnitzt waren, wirkten wie Augen. Aber das erklärte immer noch nicht die rätselhafte Anziehung der Mala, die selbst die skeptische Katharina sofort spürte.
"Du könntest Dir oben beim Silberschmied neue Zähler dran machen lassen.", Anna deutete auf die zwei bunt geflochtenen Bänder, die so ausgeleiert waren, dass die zehn Metallringe immer wieder runterrutschen.
"Ich habe eigentlich nicht vor stundenlang Mantren zu singen.", erwiderte Katharina trotzig. Aber dann wollte sie es doch genau wissen. "Wie funktioniert das Zählen eigentlich?"
"Nach einer Runde, also einhundert Mantren, schiebt man einen Ring an diesem Bändchen mit der kleinen Glocke hoch, wenn man alle zehn Ringe oben hat, zieht man sie wieder runter und zählt die Tausender mit dem anderen Bändchen."
"Ich denke, an einer Mala sind 108 Perlen."
Anna schmunzelte. "Die acht sind zu Reserve, falls man sich verzählt! Einer meiner Lehrer sagte, ich bräuchte eine mit 116 Perlen!"
Katharina bewunderte mal wieder ihre Ehrlichkeit und ihren Humor.
"How marvellous!" Erschrocken über die schrille Stimme drehten die beiden Freundinnen sich um. Eine kleine, dicke Touristin in einem grellbunten, ärmellosen T-Shirt und schamlos kurzen Boxershorts drängte sich zwischen sie. Widerstandslos ließ Katharina sich die Kette aus der Hand nehmen, das befreite sie endlich von dieser unheimlichen Kraft.
"Old, very old?", fragte die Amerikanerin. Dieser nickte nur wortlos und seine Augen wurden ganz schmal und stumpf.
"How much?", sie zuckte schon ihre mit Glasperlen bestickte, rosa Geldbörse. Offensichtlich auch eine Neuanschaffung.
"Three thousand rupies.", erwiderte der Tibeter mit tonloser Stimme.
"What? That's too much!", die Stimme quietschte vor Empörung. "One thousand five hundred.", bot sie sofort.
"Komm, wir gehen weiter.", Katharina zog Anna angewidert weg.
"Dreitausend Rupies sind etwa 36 €.", rechnete sie laut. "Das erscheint mir gar nicht so teuer. Und das Handeln finde ich furchtbar. Das könnte ich nie!"
"In Nepal liegt der durchschnittlichen Tageslohn bei 100 Rupies, also ein Euro zwanzig.", gab Anna zu bedenken. "Eine Holzmala kostet etwa 400 Rupies, eine Schmuckkette gibt es schon für 100. Wahrscheinlich fädeln flinke Kinderhände die Stecknadelkopf großen Glasperlen in zwei Tagen auf. Und das Handeln gehört hier einfach dazu. Allerdings erwarten die Menschen auch, dass man sich etwas Zeit nimmt."
"Sie ist ja gebraucht.", fiel Katharina nach ein paar Schritten plötzlich ein. "Welche Not hat einen Tibeter bloß dazu gezwungen, sich von so einem wertvollen Stück zu trennen?"
Anna seufzte. "Du weißt doch, welches Elend die Chinesen im besetzten Tibet verursachen."
2) ein kleines Dorf im Norden Nepals, nahe der Grenze zu Tibet
Ein gleißender Sonnenstrahl fand den Weg durch eine schmale Ritze zwischen den morschen Brettern der Scheune, tanzte über Drakpas Gesicht und lockte ihn aus seinem langen, traumlosen Schlaf. Mühsam öffnete er die Augen und blinzelte. Einen Moment lang musste er überlegen, wo er sich befand. Es war ungewöhnlich warm und stickig. Ach ja, gestern hatten die elf tibetischen Frauen, Männer und Kinder nach dem mühsamen Kampf durch den Himalaja endlich die Chinesen und den Schnee hinter sich gelassen. In einem winzigen Dorf zwischen kargen Weiden fanden sie Unterkunft in diesem windschiefen Schuppen. Die Bewohner der fünf armseligen Hütten hatten Chang, das billige Bier gebracht und alle zusammen hatten den Triumph, die Freiheit und vor allem das Ende der eisigen Qualen gefeiert. Alle außer Drakpa natürlich, er hielt sich an die Mönchsgelübde. Jetzt stach ihm der beißende Geruch von altem Schweiß und dem säuerlichem Bier in die Nase und die Enge des kleinen Gebäudes bedrückte ihn. In viertausend Meter Höhe war es eine Lebensnotwendigkeit gewesen, nachts eng beieinander zu liegen und sich gegenseitig zu wärmen. Dafür war dort die Luft frisch gewesen. Vorsichtig befreite er sich aus dem warmen Gewirr von Leibern um sich herum, das Stroh raschelte leise und irgendjemand murrte, stimme dann jedoch sofort wieder in den Chor der anderen Schnarcher ein. Langsam kroch er durch das Halbdunkel der Hütte, tastete sich an den rauen Brettern entlang zur Tür und humpelte ins Freie. Als erstes strecke er sich genüsslich und sog die frische Luft tief in seine Lungen ein. Dann wickelte er seinen ausgemergelten Körper fest in seine zerrissene, weinrote Robe, denn die Sonne hatte erst etwa die Hälfte der Strecke bis zum Zenit zurückgelegt und stahl sich zwischen ein paar einzelnen Wolkenfetzen hindurch. Unterhalb von ihm zupften ein paar zottelige Yaks gemütlich an den mageren Grashalmen und Kinder liefen schreiend die Hügel rauf und runter. Rechts konnte er die majestätischen weißen Riesen hinter den dichten Wolkenschwaden nur erahnen. Ein friedliches Bild. Sich mit einer Hand an der Wand der Hütte abstützend, versuchte er noch ein paar Schritte zu gehen, aber der dumpfe Schmerz in seinen Füße war nahezu unerträglich. Wahrscheinlich waren ihm auf der Flucht ein paar Zehen erfroren. Er hatte weder Geld noch Zeit gehabt, seine alten, braunen Halbschuhe durch gute Stiefel zu ersetzten. Wenigstens war er jetzt in Sicherheit! In Freiheit! Nur noch eine Tagesreise mit dem Bus und dann würde er in einem der vielen buddhistischen Klöster der Exiltibeter in Nepal endlich wieder in einer Gemeinschaft mit anderen Mönchen leben und praktizieren dürfen. Seufzend ließ er sich in den Lotussitz nieder, nahm seine Mala vom Hals und wie von selbst glitt mit jedem gemurmelten Mantra eine der Perlen durch seine schlanken Finger. Sofort breitete sich die vertraute Ruhe in seinem ganzen Körper aus.
Er war so vertieft in seine Meditation, dass er die Staubwolke, die den Feldweg herauf wirbelte und das Klappern des alten Mopeds, gar nicht wahrnahm. Ein etwa 30 jähriger Mann in ausgewaschenen Jeans, löchrigen Turnschuhen und einer schmutzigen Jacke ließ das Moped kurz vor ihm achtlos auf die Erde fallen und kniete vor dem Mönch nieder.
"Tashi Delek", rief er aufgeregt. "Bist Du es wirklich, Drakpa, mein Bruder?"
"Oh, Tenzin, Tashi Delek.", Drakpa war noch ganz benommen.
Sie umarmten sich herzlich und Tenzin erzählte mit vor Aufregung atemloser Stimme: "Wie schön, dass Du den chinesischen Henkern entkommen bist. Hier wird viel von Deinem mutigen Kampf für die Freiheit des tibetischen Volkes gesprochen. Wie Du an die Tore der chinesischen Gefängnisse Poster mit der Aufschrift 'Tibet ist kein Teil von China' geklebt hast, wird niemand je vergessen."
Drakpa schüttelte müde den Kopf. "Das hat mich fast in ein chinesisches Arbeitslager gebracht und Folter oder gar den Tod gekostet. Was hat das schon genutzt? Werde ich jemals unsere Heimat wieder sehen? Jedenfalls bin ich jetzt in Freiheit und werde wieder die Lehre Buddhas praktizieren und weitergeben können, ohne mich verstecken zu müssen."
Verlegen rieb Tenzin sich die übermüdeten Augen. "Das ist doch nicht so einfach. Die Nepalesen haben in den letzten Wochen mehrere tibetische Widerstandskämpfer an die Chinesen ausgeliefert."
Drakpa ließ seine Hände, die immer noch die Gebetskette umschlossen, langsam sinken und schaute sein Gegenüber mit seinen großen, schwarzen Augen an. "Was, noch nicht einmal in Nepal sind wir sicher? Ich denke, der hinduistische König legt Wert darauf, mit den Buddhisten in Einklang zu leben?"
Tenzin ballte die rechte Hand zu einer festen Faust und seine Stimme wurde lauter. "Ja, erst machen die Nepalesen uns große Versprechen und dann verraten uns diese Schweine für ein paar Rupien!"
"Hab Mitgefühl, Nepal ist auch sehr arm und ist von China und Indien als einzige Nachbarn abhängig.", Drakpa seufzte wieder und blickte auf die spielenden Kinder, die barfuss und in alten Lumpen fröhlich über die Weiden tobten. Schulen gibt es hier nicht.
"Du hättest wohl noch mit Deinen Folterknechten Mitgefühl!", rief Tenzin entrüstet aus.
"Vergifte Dein Herz nicht mit Hass!", mahnte der Mönch und schaute ihn streng an.
Doch sein Bruder machte eine wegwerfende Handbewegung. "Jedenfalls musst Du so schnell wie möglich aus Nepal raus. Wahrscheinlich haben die Soldaten an den Straßensperren bereits Flugblätter mit Deinem Bild."
"Was, wegen einer Handvoll tibetischer Freiheitskämpfer errichten die Nepalesen Straßensperren?"
"Nein, die Straßensperren sind hauptsächlich wegen der maoistischen Rebellen. Vor kurzem hat es in Katmandu wieder einen Bombenanschlag gegeben."
Jetzt fiel Drakpa das Kinn vor Erstaunen runter. "Ach, erobern die Chinesen jetzt auch Nepal?"
"Nein, nein, das sind nepalesische Rebellen, sie wollen ihren König stürzen und schrecken vor nichts zurück." Tenzin schüttelte entschieden den Kopf und redete hastig weiter. "Du musst schnell weiter, bevor Dich jemand verrät, Du bist zu bekannt. Ich habe mir das Moped geliehen, um Dich zu einem nepalesischen Lastwagenfahrer zu fahren. Er kann Dich morgen bis kurz vor die Straßensperren mitnehmen und Dich dann an einen Freund übergeben, der Dich nach Indien schmuggeln kann. Allerdings will er tausend Rupien dafür haben. Und wir können Dir leider nichts geben, mit den drei Kindern kommen wir selber kaum über die Runden."
Drakpas Lachen klang bitter. "Tausend Rupien? Genauso gut könnte es eine Million sein. Sieh mich doch an! Ich habe nur noch die Lumpen, die ich am Leibe trage. Noch nicht einmal Geld für vernünftige Schuhe blieb mir, ich habe mir meine Zehen abgefroren und kann kaum noch laufen!"
Wortlos schaute Tenzin auf Drakpas Mala. Erschrocken senkte auch Drakpa seinen Kopf und erhob sich dann mühsam. "Was, meine hochgeschätzte Mala soll ich für schnödes Mammon hergeben? Hier, das ist kein billiges Holz, sie ist aus Yak-Knochen gefertigt, in jede Perle sind drei Augen geschnitzt!", seine Stimme wurde immer lauter und er fuchtelte mit der Gebetskette so nahe vor dem Gesicht des anderen, dass dieser zwei Schritte zurück wich. "Hast Du eine Ahnung, wie alt sie ist, von wie vielen hochstehenden Lamas sie geweiht worden ist? Willst Du, dass ein paar verwöhnte, amerikanische Kinder sie beim Spielen in den Dreck werfen?"
Nun schaute Tenzin den Mönch ruhig an. "Wäre es Dir lieber, wenn ein paar chinesische Soldaten sie entehren?"
Die Mala erstarrte plötzlich mitten in der Luft und sank dann langsam an der Robe herab. In diesem Moment riss die Wolkendecke auf und gab den Blick auf die zackigen, weißen Gipfel frei. Wie ein Messerstich traf es Drakpas Herz.
"Ja, alles ist vergänglich.", flüsterte er traurig.
3) An der Stupa von Bodhanath, Nepal
Die kleinen Boutiquen boten wirklich alles an, was das Touristenherz höher schlagen ließ. Da gab es herrlich geschmeidige Kaschmirtüchern in allen erdenklichen Farben, die Feinsten können selbst in ein mal zwei Meter Größe noch durch einen Fingerring gezogen werden. Die knalligen T-Shirts mit aufgestickten Yaks, fanden die deutschen Frauen allerdings recht kitschig. Besonders gefielen ihnen die bronzenen Buddhafiguren, einige zum Teil vergoldet. Und natürlich die berühmten Thankas, die buddhistischen Rollbildern, auf den teuersten konnte man auf einem Quadratzentimeter fast hundert feinste Pinselstriche aus Gold und geriebenen Edelsteinen bewundern. Zwischen all dem verströmten Räucherstäbchen den Duft von herbem Sandelholz und lieblichen Blüten. Sie entdeckten auch noch viele Malas, selbst einige aus hellen Yak-Knochen, aber keine einzige war so schön geschnitzt und so alt wie die eine, die Katharina nicht aus dem Kopf gehen wollte. Warum verfolgte diese Faszination sie immer noch? Die dicke Amerikanerin hatte sie doch sicher gekauft. Also bewunderte Katharina all die Handwerkskünste, freute sich über die unglaublich niedrigen Preise und freundete sich langsam mit diesem exotischen Land an. Sie genoss sogar das "Ohm Mani Padme Hum"-Mantra, das in einer für westliche Ohren leicht zugänglichen Pop-Version aus riesigen Lautsprecherboxen sickerte. Das war wohl auch der Grund dafür, dass sich die Menschenmenge im gleichmäßigen, fast hypnotisierenden Rhythmus bewegten. Es war leicht immer tiefer darin zu versinken und sich verzaubern zu lassen.
Katharina war schon fast schwindelig von all den überwältigenden Eindrücken, als sie nach etwa einer halben Stunde wieder an dem ersten Malastand vorbei kamen.
"Hello!", ihr Tibeter winkte ihnen zu wie alten Freunden, drehte sich schnell um, hielt dann die Yak-Knochen-Mala wie eine wild erkämpfte Trophäe triumphierend in die Höhe und zeigte dabei seine letzten vier vergilbten Zähne.
"My friend, for you, not business, for you only two thousand rupies!", rief er freudig und drückte Katharina die Mala wieder in die Hand. Ihr fiel ein Stein vom Herzen und die bereits vertraute Kraft kehrte zurück.
"Wenn ein Geschäftsmann mir erzählt, dass es ihm nicht ums Geschäft geht, sondern um Freundschaft, werde ich misstrauisch."
"Anderseits wird der Preis akzeptabel.", erwiderte Anna.
"Warum kaufst Du sie nicht, wenn sie doch so etwas besonderes ist?"
"Very good mala for you, only two thousand rupies!", rief der Verkäufer inzwischen.
Warum wollte er die Kette unbedingt Katharina verkaufen? Plötzlich hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung "One thousand rupies!" sagen.
"No, no, too much.", der Händler ging lächelnd auf die unverschämte Halbierung des Preises ein.
"Irgendwann muss ich das Handeln lernen," dachte sie entschlossen und bot: "One thousand five hundred."
Der Tibeter schüttelte bedenklich den Kopf, nickte dann aber mit einem breiten Grinsen. "Ok, for you, friend." So wurden sie schließlich doch noch handelseinig. Er schenkte Katharina sogar noch ein buntes Armband und verabschiedete sich überfreundlich. Das dämpfte ihre Bedenken, ihn auf Dumpingpreise gedrückt zu haben.
Auf dem Rückweg zum Kloster betrachtete sie wieder die Mala, die sie sich um den Hals gehängt hatte. Erstaunlicherweise fühlte sich das richtig und gut an. 'Und schaden kann es ja auch keinen Fall', beruhigte Katharina ihren rationalen Verstand.
"Wie mag es nur dem Menschen gehen, der sich von ihr trennen musste?", es kam ihr fast wie Leichenfledderei vor.
"Jedenfalls hast Du ihm durch den Kauf der Mala geholfen.", beruhigte Anna sie. "Und außerdem kannst Du ja für ihn beten. Mit der Mala!", ergänzte sie augenzwinkernd.