Dunkelkammer
Der Sommer war verregnet. Das war nicht zu ändern. Es gab zwischendurch ein paar schöne Tage, aber überwiegend hingen dicke graue Wolken am Himmel. An einem dieser trüben Tage beschlossen Horst und Marion Piatek einen Besuch in der neu
eröffneten Kunsthalle zu machen. Ein bißchen Kultur in den Ferien, könne eigentlich nicht schaden. Vor einigen Exponaten blieb Horst fassungslos stehen und staunte nur. Was manche unter Kunst verstanden war schon ziemlich haarsträubend. Marion war da schon etwas toleranter und auch wesentlich interessierter. Sie sah sich alles unvoreingenommen an, konnte mit manchen, was dort ausgestellt war nichts anfangen, aber im Großen und Ganzen gefiel es ihr. So schlenderten sie durch die Ausstellung. Meist war Horst schneller und schon im nächsten Raum, während Marion noch staunend vor einem Objekt stand. Eine Maschine aus alten Fahrrädern, Waschmaschinenteilen und diversen Haushaltsutensilien hatte es im jedoch angetan. Er studierte sie eingehend und wunderte sich, wie der Künstler dies alles zusammengefügt und in Bewegung gebracht hatte. Marion war weiter gegangen, Horst folgte ihr kurz darauf. Er kam an eine Tür mit der Aufschrift „Dunkelkammer“.
Eine Tafel wies darauf hin, daß in diesem Raum völlige Dunkelheit herrsche und daß der Besucher sich nur auf die Geräusche im Inneren der Kammer konzentrieren möge. Horst betrat den Raum.
Schwarze Stille umgab ihn. Dann die ersten Töne. Irgendwo tickte ein Wecker in der Finsternis, Stimmen aus einem Radio gesellten sich dazu. Vorsichtig setze er einen Fuß vor den anderen. Jeden Augenblick rechnete er damit, in eine bodenlose, dunkle Tiefe hinab zu stürzen. Aber nichts geschah. Statt dessen gewöhnten sich seine Augen an die ungewohnte Umgebung. Leuchtdioden des Radios sendeten ein schwaches kaum merkliches Licht aus. Das gab ihm etwas Orientierung, wie ein Leuchtturm in stürmischer See.
Da bemerkte er, daß jemand vor ihm stand. Er ahnte es mehr, als das er es sah. Es mußte Marion sein. Sie bewegte sich nicht. Er wußte nicht warum, war es die Dunkelheit, der Reiz des Verbotenen oder hatte er einfach nur LUST? Sie waren seit über 10 Jahren zusammen, ihr Liebesleben war immer noch abwechslungsreich, wie am ersten Tag, mit einigen Einschränkungen vielleicht, trotzdem war er ganz zufrieden. Marion mußte ihn manchmal bremsen, aber er nahm es hin. So war es eben. Jetzt überkam ihn eine seit langem nicht gespürte Erregung. Er ging langsam auf sie zu. Tastend, mehr riechend als sehend. Mit einem Mal war sie direkt vor ihm. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Sein Herz drohte zu zerspringen, seine Knie wurden weich. Er ließ seine Fingerspitzen sanft ihren Hals hinabwandern, berührte mit leichtem Druck ihre Schultern, um nach einer Ewigkeit zu ihren Brüsten zu gelangen. Zwei zarte Knospen wölbten sich unter dem dünnen Stoff, seine Hände umschlossen ihren weichen Körpers. Sie sprachen kein Wort, die Luft um sie herum knisterte, wie elektrisch aufgeladen. Auf ein geheimes Zeichen hin, legten sich ihre Lippen aufeinander, verschmolzen. O hatte er seine Frau noch nie erlebt. Die Hände suchend, fordernd. Sie fühlte seine wachsende Erregung, er genoß die Wärme ihrer Haut, als er sie weiter erforschte. Um sie herum lautlose Dunkelheit, nur unterbrochen vom Schlagen ihrer aufgewühlten Herzen. Sie waren allein, niemand verirrte sich in diesen Raum. Auch die Zeit blieb draußen. Nach Minuten, die ihnen wie Stunden vorkamen, trennten sie sich, inmitten eines Zaubers, der den ganzen Raum füllte.
Horst ging als erster. Trat durch die Tür hinaus in die Helligkeit, die ihn für einen Moment blind machte. Dann mischte er sich unter die anderen Besucher. Vor einer Collage, die fast die ganze Wand einnahm, blieb er stehen, fasziniert von den Details der Arbeit. Marion kam dazu, hakte sich bei ihm unter und zusammen sahen sie sich den Rest der Ausstellung an.
Kurz vor dem Ausgang kamen sie zu einer Reihe von Aktzeichnungen. Eher beiläufig, aber mit einem verschmitzten Lächeln fragte Horst, wie ihr denn die Dunkelkammer gefallen habe.
Die hätte sie sich gern angesehen, aber leider nicht gefunden, jetzt hätte sie aber keine Lust mehr, noch einmal umzukehren, meinte Marion nur. Sprachlos blieb Horst einen Moment stehen. Er sah sich verstohlen um und ging weiter. In seinem Kopf rauschten die Gedanken und Vorstellungen, von dem, was vor ein paar Minuten
passiert war. Er sah Marion an, unfähig etwas zu sagen.
An der Garderobe mußte er einen Augenblick anstehen, um ihre Regenjacken abzuholen. Vor ihm in der Schlange drehte sich plötzlich eine blonde Frau zu ihm um, sah ihn intensiv an. Für einen Augenblick lag ein wissendes Lächeln auf ihrem Gesicht.
Verwirrt schaute er sie an, wollte etwas sagen, da war sie auch schon weg. Die Menge der Besucher verschluckte sie, wie einen Schatten.
Als er mit Marion hinausging fiel sein Blick auf das Ausstellungsplakat: „Traumwelten“ war die Überschrift.