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Serie Ein Leben als Ersatz - Rechnen lernen

sim

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13.04.2003
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Ein Leben als Ersatz - Rechnen lernen

Gelbe, blassgrüne, blaue, rote, rosafarbene und hölzerne Wäscheklammern warteten im weißen Leinenbeutel auf ihren Einsatz. Die mütterliche Inquisition hockte auf einem Stuhl. Die Kinder hatten auf ihren Betten zu sitzen und die Fragen zu beantworten.
»Wie viel ist drei mal acht?«
Viel Zeit blieb nicht für eine Antwort, und niemand wagte es, anstelle des Bruders ein Ergebnis in den Raum zu werfen.
Nennt man es Schwarzer Peter, dieses Spiel?
Namen wurden keine genannt, die Jungen wussten durch die Blicke, wen es getroffen hatte.
Mariannes Augen kreisten wie die Flasche beim Flaschendrehen eine kurze Zeit durch den Raum und durch die Gesichter, bis sie auf einem liegen blieben, von dem sie wie aus der Pistole geschossen ein Ergebnis erwartete.


Die Zeichen in dem Buch sagten Marianne nichts, sie konnte mit Mühe die Zahlen lesen und mit denen vergleichen, die sie zu hören bekam. Sie konnte nur in dem Buch sehen, ob die genannte Antwort richtig oder falsch war. Nie konnte sie Textaufgaben stellen bei diesem Spiel, denn sie konnte die Buchstaben nicht entziffern. Die Hausaufgaben der Jungen halfen ihr dabei, Struktur in diese Aneinanderreihung von Zeichen zu bekommen. Langsam lernte sie deren Sinn zu verstehen, indem sie die Hefte wieder und wieder zerriss, weil eines dieser Zeichen die untere Begrenzungslinie überschritt, oder in der Luft tanzte.
Bis zu zehn Mal am Nachmittag mussten die Jungen die Hausaufgaben wiederholen, damit Marianne lernte, aus den Buchstaben Wörter zu formen. Sie konnte nicht lesen, was dort in roter Schrift unter den Arbeiten ihrer Kinder stand, sie konnte nur ahnen, es waren Tadel, die sie ermahnten, noch sorgfältiger darauf zu achten, dass keines der Zeichen aus der Reihe tanzte.


»Zweiundzwanzig«, antwortete Günther angsterfüllt, aber das, was er sagte, stimmte nicht mit dem überein, was Marianne aus dem Buch auf ihrem Schoß entnehmen konnte. Marianne griff nach einer der Wäscheklammern, penibel darauf bedacht, dass sich nicht schon eine gleicher Farbe in Günthers Gesicht befindet. Erst, wenn er alle Farben in seinem Gesicht hatte, wurde er zum Verlierer erklärt.


Mariannes Kinder sollten in der Schule etwas lernen. Dafür würde sie sorgen. Sie wollte stolz sein können, wenigstens auf ihre Jungen. Sie wollte platzen können, wachsen können, wenn die Lehrer sie an den Elternabenden auf ihre Kinder ansprachen.
Während ihrer Schulzeit war Krieg. Ihre Mutter musste sich um andere Dinge kümmern als um die Hausaufgaben der Töchter. Sie hatte keine Zeit, deren Hefte zu überprüfen, mit ihnen zu üben, ihnen vorzulesen oder mit ihnen zu spielen. Das würde Marianne alles besser machen. Sie war ihrer Mutter nicht böse, sie war ihr dankbar, denn sie wusste, es war nicht leicht gewesen, im Krieg zwei Töchter alleine aufzuziehen. Aber Marianne hatte die Zeit, und sie würde dafür sorgen, dass ihre Brust schwellen konnte, wenn andere Eltern über ihre Kinder sprachen.

Die hölzerne Klammer war immer die letzte. Wenn sie Günther die hölzerne Klammer ins Gesicht klemmte, atmeten die Brüder erleichtert auf, verkrochen sich unter ihre Bettdecken und schrien, wie Marianne glaubte, vor Begeisterung.
Aber Marianne kannte keine Gnade. Sie kamen alle dran. Der mit den wenigsten Klammern musste sich zuerst die Schlafanzughose runterziehen und sich bei ihr auf den Schoß legen. Für jede Klammer einen Schlag. Der Sinn des Siegens war es, weniger Schläge zu bekommen und selbst schlagen zu dürfen.
Es waren genau elf verschiedene Klammern, zweiundzwanzig Schläge auf den nackten Hintern, wenn man dieses Spiel verlor. Dann küsste Marianne den Po für jede Klammer ein Mal, bevor sie gemeinsam sangen:
»Abendstille überall …«

Geschichten aus der Kinderhölle - Ein Leben als Ersatz
Geschichten aus der Kinderhölle - Das Morgengrauen
Geschichten aus der Kinderhölle - Die Ohrfeige
Geschichten aus der Kinderhölle - Schuld und Strafe

 

Salut Sim,

Den Teil der Serie finde ich inhaltlich wieder sehr gelungen. Leider fehlen diese Wortspiele und Bilder, die du im ersten Teil häufig verwendet hast, und die die Geschichte lebendig machten.

Inge scheint ihren Kindern unbedingt das geben zu wollen, was sie nicht hatte. Sie konnte ihre Mutter nicht dazu bringen stolz auf sie zu sein, jetzt will sie, dass ihre Kinder sie stolz machen. Da sie es nicht tun, denkt sie, sie täten es absichtlich. Wenn ein Ergebnis falsch ist, muss sie ihre Jungs dafür bestrafen.

Aber auf das Thema „Schuld & Strafe“ bist du ja in einer anderen Geschichte noch deutlicher eingegangen.

Die hölzerne Klammer war immer die letzte. Wenn Inge Günther die hölzerne Klammer ins Gesicht klemmte, verkrochen sich die Brüder unter ihre Bettdecken und schrien. Das Schreien klang wie Lachen, wie begeistertes Lachen. Noch heute behauptet Inge auf Grund dieser Schreie, das Spiel hätte ihren Kindern Spaß gebracht.

Natürlich behauptet Inge ihren Kindern hätte es Spaß gemacht. Wahrscheinlich würde sie ihre Kinder sogar als Lügner darstellen, wenn diese gegenteiliges behaupten. Ich bin natürlich keine Psychologin oder ähnliches, aber wenn ich eigenen Erfahrungen folge, kann ich mir sogar vorstellen, Inge denkt wirklich es hätte ihren Kindern Spaß gemacht.

lieben Gruß!
Thorn

 

Hallo Thorn,

ganz ehrlich weiß ich nicht, ob ich heute noch so schreiben könnte, wie im ersten Teil. Die einzelne Geschichten waren ja ursprünglich nicht als Serie konzipiert und "Ein Leben als Ersatz" entstand bestimmt neun bis zehn Jahre vor allen anderen Teilen. Daraus erklären sich auch die gewaltigen Stilunterschiede.

Schön, dass dir auch diese Geschichte gefallen hat. Noch schöner finde ich, dass du einen Teil entdeckt hast, den ich mir slebst als "sehr vernachlässigt" innerhalb der Serie ankreide. Nämlich die Erklärungen, warum Inge so ist, wie sie ist. Für mein Gefühl habe ich sie in der Serie oft leider viel zu sehr denunziert, mit zu wenig Liebe betrachtet. Das ist zweifelsohne eines der Mankos.
Wenn sie hier in ihren bitteren Erfahrungen doch auch ein bisschen gut weg kommt, freut es mich sehr.

Lieben Gruß, sim

 
Zuletzt bearbeitet:

Edit: Gut, wenn Du es nicht so sehen willst ...

 

Liebe Susi,

ich weiß, du meinst es gut, aber so möchte ich nicht denken und schon gar nicht schreiben.
Ich vertrete die Auffassung, dass man Charaktere, die man hasst nciht vernüftig beschreiben kann. Wenn ich also Inge als literarische Figur nehme, dann hat sie als eine solche Respekt verdient, egal, wie ihr Charakter in der Geschichte ist.

Sie mag viel Unrecht getan haben, aber trotzdem hat auch sie eine Geschichte, die zu diesem Unrecht führte. Das mag eine eigene Geschichte sein, aber trotzdem empfinde ich es nicht als gerecht, sie in dieser Geschichte einfach nur zu verteufeln. Wenn wir uns nicht von Schuldgedanken und Schuldzuweisungne lösen, weren wir immer gleichen Käfig bleiben. Für mich liegt die Unterbrechung des Kreislaufs aus Unrecht erfahren und Unrecht weitergeben in der Erkenntnis, dass auch dem, der mir Unrecht getan hat, Unrecht getan wurde. Damit entbinde ich ihn nicht von seiner Verantwortung, erleichter mich aber hoffentlich um den Hass.

Lieben Gruß, sim

 

Lieber sim!

Zwischen

mit zu wenig Liebe betrachtet
und
einfach nur zu verteufeln
steht ein Wolkenkratzer... ;)

Weiteres schreib ich Dir in einer PM, wenn ich wieder zuhause bin. :)

Liebe Gruesse,
Susi :)

 

@Sim: Diese Serie ist mir letztens von mehreren KG'lern empfohlen worden und jetzt bedaure ich sehr, dass ich Serien bis jetzt nicht beachtet habe. Vielleicht känntet ihr als Mods die neuesten in der Übersicht sichtbar machen?
Dass die Geschichte bedrückend eindrucksvoll geschrieben ist, haben ja schon mehrere erwähnt. Da sie offensichtlich autobiographisch ist - au Backe! Tolle Leistung, dass du es schaffst, dies aus der Sicht der Mutter zu beschreiben, das zeigt, dass es verarbeitet ist. Ich finde es auch toll, dass eine Erkärung für ihr Verhalten gesucht wird, sonst wäre es nur jammernde Sensationssucht, das was du im Thread "Von Arbeit, Sex, Schmerz und Grenzwahrung" kritisierst.
Beim Lesen hat mich allerdings verwirrt, dass die Mutter mit Namen genannt wird, aber noch nicht einmal die genaue Anzahl der Kinder erwähnt wird. Und mir ist nicht klar, welche Gefühle sie den Kindern gegenüber hat/te. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das alles nur tut um sich in der Schule zu profilieren. Oder war das deine Absicht?
liebe Grüße
tamara

 

Hallo tamara,

zunächst einmal vielen Dank fürs Lesen. :) Irgendwie ist es mir leider glatt entfallen, dir zu antworten. Das tut mir Leid. Zum Glück habe ich gerade entdeckt, dass noch etwas offen ist.
Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat. Da diese Geschichte ja ursprünglich nicht als Bestandteil einer Serie konzipiert wurde (die Namen habe ich auch erst nachträglich angepasst) , unterlag sie in ihrer Entstehung auch anderen Gesetzen. Sie war ein Ausschnitt aus einem Leben, in dem versucht wurde, das eigene Selbstwertgefühl durch die Leistungen der Kinder auszugleichen. Ähnlich wie den sogenannten Eislaufmüttern hielten die Kinder hier für die Defizite der Mutter den Körper hin. Dabei war es egal, wie viele es genau waren, auch die Namen waren egal. Die Opfer wären austasuchbar gewesen. Gefühle fanden nur rückbezogen statt, durch das, was dei Kinder schuldig blieben. Insofern war es meine Absicht. :)

Einen lieben Gruß, sim

 

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