Ein unbedeutender Zwischenfall
Prolog:
Ist es nicht manchmal höchst absonderlich, ja beinahe fantastisch, wie scheinbar unbedeutendste Ereignisse unser Leben beeinflussen, ja mitunter vollkommen auf den Kopf stellen? Wie sie uns wahllos in den Weg gelegt werden, wie Tretminen, und darauf warten, daß wir in die Falle tappen?
Ein ebensolches Ereignis widerfuhr mir vor einiger Zeit. Es mag vor mehreren Jahren gewesen sein, vielleicht sogar vor vielen. Die Natur jenes Ereignisses, oder lassen Sie mich sagen: jenes Zwischenfalls, war jedoch von derart unbedeutsamer, wenn nicht völlig belangloser Art, dass es mir heute unmöglich ist, die seither vergangene Zeit auch nur ungefähr in Zahlen zu fassen. Freilich klärte mich das Schicksal erst viel später über meinen Irrtum, meine fehlerhafte, ja beinahe leichtsinnig naive Beurteilung jenes Tages auf. Doch diesen Umstand Ihnen, lieber Leser, an dieser Stelle genauer zu schildern würde bedeuten das Ende der Geschichte an deren Anfang zu setzten, und dies kann weder in meinem, noch in Ihrem Interesse sein.
Gestatten Sie mir zunächst mich vorzustellen. GEISE ist mein Name, und das Ereignis, von dem zu erzählen ich geneigt bin, trug sich zu an einem Tage dessen Datum ich wie gesagt vergaß, welcher jedoch durchschnittlicher und unbedeutender nicht hätte sein können. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, es handelte sich vielmehr um eine Kette von Ereignissen, die gleichwohl an jenem ereignislosen Tag ihren Anfang nahm. Selbstverständlich sind mir die genauen Umstände jenes Tages nicht mehr gegenwärtig, sie haben sich, gleich dem Datum, gewissermaßen verflüchtigt. Doch lassen Sie mich Ihnen versichern: Ob es an jenem Tag regnete oder schneite, ob es hell war oder dunkel, ob Sommer oder Winter herrschte ist nicht nur ohne Belang sondern vielmehr völlig unbedeutend.
Wichtig allein ist, daß ich mich auf dem Weg befand. Auf dem Weg zu einem Ort, der einer genaueren Beschreibung ebenfalls nicht wert wäre, wenn ich nicht ohnehin längst vergessen hätte, um welchen es sich handelte. Jedoch befand ich mich auf dem Weg, was zu wissen nicht ganz unwichtig ist. Denn wie wir bereits festgestellt haben, wirft uns das Leben mitunter seltsame Dinge in den Weg, wie Tretminen, auf die wir freilich nicht treten könnten, würden wir uns nicht, zumindest manchmal, von einem Ort zum anderen begeben.
An jenem unbedeutenden Tag war ich selbstredend fern von jeglicher Vorahnung, fern selbst von jeder Kenntnis obig genannter Tatsachen, und so entfernte ich mich, nun rein physisch, von meinem Wohnort, als ich, direkt vor meinen Füßen, eben jene für mich bestimmte Tretmine in ihrer grenzenlos unschuldigen Unbedeutsamkeit erblickte. Selbstverständlich stellte dies lediglich meine laienhafte Einschätzung der Situation dar, denn wie bereits erwähnt war jenes Ding vor meine Füßen zwar klein und unscheinbar, jedoch, wie sich mir später aufdrängte, alles andere als unbedeutend.
Der Leser mag mir verzeihen, so lange mit der äußerlichen Beschaffenheit jener schicksalhaften Tretmine hinterm Berg zu halten, nur ist es mir beinahe peinlich, die Wahrheit auszusprechen, und so womöglich von mir selbst erschaffene Erwartungen zu enttäuschen. Nun ja, selbstverständlich handelte es sich nicht um eine Tretmine, zumindest nicht im herkömmlichen Sinn, denn wäre dem so gewesen käme ich nicht umhin diesen Fund, bei aller gebotenen Bescheidenheit, als wenigstens geringfügig aufregend zu bezeichnen. Was ich jedoch tatsächlich erblickte war so nichtssagend und unbedeutend, daß ich mich ein wenig dafür schäme, Ihnen, lieber Leser, mit dessen Beschreibung die kostbare Zeit zu rauben.
Es handelte sich um ein kleines Stück Papier. Ich habe sie gewarnt.
Nun bin ich keineswegs die Art von Person, welche sich über die Maßen mit Angelegenheiten abzugeben geneigt ist, welche nicht unbedingt die eigenen Interessen berühren. Mich gar als Neugierig zu bezeichnen wäre nicht nur fehlerhaft, sondern infam. Die Geschicke anderer Menschen stellen sich mir gemeinhin als profan und anmaßend, vielleicht sogar obszön, in jedem Falle aber als völlig unbedeutend dar.
Darum ist es zugegebener Maßen nicht wenig verwunderlich, daß es ein so unscheinbares und alltägliches Objekt vermochte, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ja sogar den Prozess meiner Reise zu unterbrechen und mich, wie einen geistig Zurückgebliebenen dumpf zu Boden starrend, angewurzelt stehen bleiben ließ. An dieser Stelle muß ich mich dafür entschuldigen, dem Leser keine genaue Beschreibung jenes Gegenstandes, jenes Stückes Papier, geben zu können, denn wie so viele andere, aus heutiger Sicht eventuell bedeutsame Details, sind mir jene Informationen nicht mehr zugegen. Als Rechtfertigung für diesen Sachverhalt kann ich nur nochmals die völlige Unwichtigkeit anführen, in der sich mir jenes Stück Papier damals darstellte. Hätte es sich anders verhalten, so befände sich dieses mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit jetzt direkt vor mir, was jedoch bedauernswerter Weise nicht den Tatsachen entspricht. Sollten Sie, lieber Leser, jedoch trotz allem Interesse an der äußerlichen Beschaffenheit jenes Zettels haben, so empfehle ich Ihnen, sich nichts weiter als das unscheinbarste und unauffälligste Stück Papier vorzustellen, dessen Sie mächtig sind. Stellen Sie sich einen Zettel vor, der einen wahrscheinlich nicht geringen Teil seiner Existenz im Straßendreck zugebracht und dabei die Bekanntschaft unzähliger Autoreifenprofile und Schuhsohlen gemacht hat. Stellen Sie sich einen perfekt unbedeutenden Fetzen Papier vor. Ich bin sicher, genau so hat er ausgesehen.
Es gibt viele Dinge, die mir fern liegen und noch mehr Verhaltensweisen, die ich mir niemals anzueignen gewillt wäre, und zu eben jenen zählt mit allergrößter Sicherheit das Aufklauben von im Dreck befindlichen Gegenständen, ganz besonders wenn es sich bei diesen um Gegenstände von unübertrefflicher Bedeutungslosigkeit handelt. Gleichwohl kann ich, bei aller gebotener Bescheidenheit, nicht leugnen so etwas wie eine Forscherseele in mir zu spüren, welche nicht selten mit oben genannter Abneigung in Konflikt gerät. Und Sie werden es sicherlich schon geahnt haben, an jenem so grenzenlos unbedeutsamen Tag verhielt es sich haargenau so.
Um dies genauer zu erklären muß ich zugeben, ein kleines Detail an jenem Fetzen Papier vor meinen Füßen verschwiegen zu haben. Keinesfalls ein Detail, welches dessen generelle Unwichtigkeit zu überwinden vermocht hätte, oder sogar, ich wage es kaum auszusprechen, auch nur den geringsten Anflug von Neugier hätte rechtfertigen können. Ich ziehe es vor, mein nun folgendes Verhalten duch den mir eigenen Forschungsdrang zu begründen. In den wenigen Sekunden, die ich dem unscheinbaren Stück Papier bis zu jenem Zeitpunkt gewidmet hatte, war mir, obwohl meine Augen nicht die besten sind, nicht entgangen, daß sich dieses keineswegs leer und unbeschriftet darstellte, sondern vielmehr eine gut sichtbare Kolonne von Zeichen oder Zahlen beherbergte, welche ich aber, zumindest von der nicht unbedingt als niedrig zu bezeichnenden Position meines Kopfes aus, nicht zu entziffern vermochte.
Es muß wohl jener Moment gewesen sein, in dem, wenn ich es so darstellen darf, der Forscher in mir die Kontrolle übernahm. Zwar kann ich aus heutiger Sicht nur Vermutungen anstellen, doch bin ich mir persönlich völlig sicher, daß ich mir, auch während ich mich bückte, der totalen Bedeutungslosigkeit meines Handelns bewußt war. Dies könnte besonders im Hinblick auf jenen Ort von Interesse sein, zu dem ich mich bis dato auf dem Weg befunden hatte, da es diesem offensichtlich nicht schadete, für die nähere Untersuchung eines jeder Beachtung unwürdigen Gegenstandes vernachlässigt zu werden.
Ich brachte also meine Augen, welche, wie bereits erwähnt, nicht zu den leistungsfähigsten gehören, nahe genug dem Erdboden entgegen um die genaue Struktur jener Zeichen zu überprüfen, welche sich dort in unendlicher Langweiligkeit auf dem geschundenen Papier räkelten. Und es mag den Leser erstaunen, daß eben jene Struktur bis zum heutigen Tag in meinem Gehirn verankert blieb, während mir im Vergleich essentielle Umstände jenes unbedeutenden Tages zu recht augenblicklich entfielen. Ich kann hierfür keine Erklärung anbieten, was mäßig unbefriedigend ist, sondern muß meiner Bitte Ausdruck verleihen, dies als Tatsache hinzunehmen. Wenn ich nun rekapitulieren darf:
E I L I I x 6 6 Z – Z O E
Ich muß, aller Bedeutungslosigkeit zum Trotz, hinzufügen, daß es sich um handschriftliche Zeichen handelte und den Leser bitten, sich mit obiger, nur mäßig dem Original entsprechenden Rekonstruktion zufrieden zu geben, welche ich nach bestem Wissen und Gewissen aus Druckbuchstaben angefertigt habe.
Selbstverständlich würde ich mir niemals überdurchschnittliche Menschenkenntnis anmaßen, und es wäre sicherlich vollkommen lachhaft, mich gar des Gedankenlesens als fähig zu erachten. Jedoch bin ich mir fast völlig sicher, beim Anblick jener geradezu penetrant bedeutungslosen Zeichen die selbe gleichgültige Ratlosigkeit mein Eigen genannt zu haben, welche, geben Sie es zu, sich vor Sekunden auch Ihrer bemächtigt hat. Im Gegensatz zu Ihnen war ich jedoch damals sofort bereit, die Konsquenzen aus meiner sprunghaft aufkeimenden Langeweile zu ziehen. Eilig, ja beinahe peinlich berührt ob meiner schamlos zur Schau gestellten Neugier, richtete ich mich auf und setzte meinen so unspektakulär unterbrochenen Weg fort, welcher mich schließlich, darauf hatten wir uns zuvor geeinigt, irgendwohin brachte.
Epilog:
Zu behaupten, ich hätte die folgenden Jahre mit dem Versuch zugebracht, in jene mir auf so mysteriöse Art erhalten gebliebene Zeichenfolge einen Sinn zu interpretieren, wäre nicht nur völlig unzutreffend sondern vielmehr schlichte Lüge. Leugnen kann ich jedoch nicht die Tatsache, daß sich eben jene Buchstaben jüngst in einem nicht weniger bedeutungslosen und alltäglichen Moment wie dem zuvor geschilderten schlagartig in den Vordergrund meines Bewußtseins drängten. Um die Atmosphäre, falls vorhanden, zu verdichten muss ich den Leser, bevor ich fortfahre, mit einigen zusätzlichen Hintergrundinformationen bedienen. So entspricht es zu meinem Bedauern leider der Wahrheit, daß ich der hohen Kunst der Algebra niemals in sonderlichem Maße zugetan war, was sich nicht nur in einem bestenfalls als duchschnittlich zu bewertenden Schulabschluss sondern gleichwohl in meinem Bedürfnis, selbst für einfachste Rechenaufgaben maschinelle Hilfe zu beanspruchen, niedergeschlagen hat. Sie dürfen mir glauben, lieber Leser, es fällt mir nicht leicht derartige Konfessionen an den Tag zu legen, dementsprechend fest dürfte sich Ihr Vertrauen in meine Aussage gestalten, daß dieser Sachverhalt für den Ausgang der Geschichte von gewissem Ausschlag ist.
Es war nämlich nichts anderes als ein Taschenrechner, welcher, kurz zuvor von mir zu Rate gezogen, an jenem nun zu beleuchtenden Tage vor mir auf dem Tisch lag – das obere Ende mir zugewandt, wie ich anfügen muß. Und hätte das Ergebnis der eben von mir mit dessen Hilfe gelösten Aufgabe zu jenem Zeitpunkt nicht dreiundsiebzig gelautet, ich wäre wohl niemals zu der Erkenntnis gelangt, derer ich mich nun widmen will. Denn eben jene dreiundsiebzig prangte noch immer auf der schmalen Anzeige des Rechengerätes, freilich kopfüber, und während mein Blick, wohl nur für den Bruchteil einer Sekunde, darüber hinweg glitt, erschienen plötzlich, als stünden sie vollkommen real vor meinen Augen, jene so unbedeutenden Zeichen – Ziffern, wie ich jetzt weiß – in meinem Geiste.
Ich gebe zu, lieber Leser, mich an nicht übertrieben viele Details dieser Geschichte erinnern zu können, doch einer Sache bin ich mir vollkommen sicher: Ich selbst habe jenen bedeutungslosen Zettel keines Falls dort plaziert, wo ich ihn damals, an diesem so ganz und gar durchschnittlichen Tag, vorfand.
Wahrscheinlich sind ihre Fähigkeiten in der Algebra fortgeschrittener als die meinen, ja, dessen bin ich mir sogar ganz sicher, und auch Ihr Schulabschluss dürfte Ihnen mehr zur Ehre gereicht haben als es mir der Meinige zu tun vermochte. Aber vielleicht haben Sie dennoch einen Taschenrechner in Ihrem Haus, eventuell in der Schublade, oder sogar auf dem Tisch. Nehmen Sie ihn kurz zur Hand und geben Sie die Zeichen EILIIx66Z-ZOE, entschuldigen Sie, die Rechenaufgabe 302–299x11713 ein. Lösen Sie sie und, sollten Sie sich keine Nackenzerrung zuziehen wollen, drehen Sie den Rechner um die eigene Achse.
Ich habe das Stück Papier dort nicht hinterlassen.
Aber ich habe Ihnen gesagt wie ich heiße.