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Einer flog ins Paradies

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24.04.2003
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Einer flog ins Paradies

Ein sanftes Rauschen. Drang es vom Meer?
Für einen Augenblick entspannte er sich, versuchte, sich die Brandung vorzustellen. Möwen, die ihre gemächlichen Runden über das Wasser zogen, auf der Suche nach Fischen. Ein klares Bild entstand vor ihm und hinter ihm, neben ihm und einfach überall. Bis zum Horizont reichende Sandbänke, die romantisch im Abendrot schimmerten. Friedvolle Geräusche stimulierten seinen Geist.
Dennoch, etwas stimmte nicht. Er spürte die angespannte Muskulatur seiner Arme, die er aus irgendeinem Grund ausgestreckt hielt.
Er dachte einen Moment lang nach und plötzlich wusste er, was anders war. Das Meer rauschte zu gleichmäßig. Es verstummte nicht, wenn sich die Wellen an den Steinen brachen, die jenseits des Strandes aus der Wasseroberfläche ragten. Die Szenerie verschwamm kurz, als eine innere Stimme ihn davor warnte, länger an diesem Ort zu verweilen.
Dann kehrte die Zufriedenheit zurück.
Wärme. Wohlbefinden. Selbst die merkwürdige Haltung der Arme störte ihn jetzt nicht mehr. Er hatte das Gefühl, vollkommen frei zu sein.

Ein lauter Knall riss den Vorhang der Benommenheit zur Seite und als Hendrick die Augen öffnete, sah er in ihren Winkeln mehrere Gegenstände verschwinden, die tiefe Beulen auf seiner Motorhaube hinterlassen hatten.
Der Lastwagen vor ihm fuhr Schlangenlinie und ein erstes Fahrzeug wich bereits aus. Hendrick verzog mehr aus Reflex das Steuer und preschte auf den Mittelstreifen. Ein blauer Ford Kombi wurde als nächstes von der herabfallenden Ladung erwischt, weitaus heftiger allerdings als sein Mercedes. Die Fahrerkabine drückte sich unter der Wucht des einschlagenden Gegenstandes zusammen, ehe der Wagen gegen die Leitplanken driftete.
Noch bevor Hendrick die ganze Situation in vollem Umfang erfassen konnte, verlangsamte der LKW seine Fahrt bereits viel zu drastisch und machte Anstalten, sich auf der nassen Fahrbahn quer zu stellen. Auf dem Schnellstreifen schoss ein weiteres Fahrzeug an ihm vorbei und Hendrick dankte Gott dafür, rechtzeitig die Spur gewechselt zu haben. Er konnte nur noch erkennen, das es ein roter Wagen war, der ungebremst in die Seite des Anhängers prallte.
Er wird so klein wie ein Bündel, dachte er entsetzt und trat in der Hoffnung, das Bremspedal zu erwischen, irgendwohin.
Die Katastrophe wurde innerhalb eines halben Augenblickes zum apokalyptischen Fiasko. Eine handvoll Autos schleuderte inmitten zu spät eingeleiteter Ausweichmaßnahmen in das brennende Inferno hinein, das der Laster so unvermittelt ausgelöst hatte.
Hendrick nahm nicht mehr bewusst wahr, dass er sich schon überschlug.
Er wollte zurück ans Meer.

Als er wieder zu sich kam, hing eine seltsame Atmosphäre in der Luft. Es regnete noch immer und das Gras, in dem er lag, war feucht.
Das war sein erster Gedanke. Alles feucht; bizarre Vegetation an der Randbegrenzung.
Seine Augen weigerten sich, die Realität zu akzeptieren. Vermutlich war die Autobahn gesperrt worden. Die rasch blitzenden Lichter der Krankenwagen durchzuckten die Nacht, alles schien abstrakt zu sein. Die Sirenen waren abgeschaltet. Absolute Stille. Nur dieses Licht.
Er stand auf und blickte...nein, die Augen weigerten sich.
Die Menschen liefen aufgeregt hin und her. Einige liefen nicht mehr, sie lagen dort, mehr nicht. Es roch angenehm, so wie bei einem Grillabend im engen Freundeskreis.
Die Schnallen des Gurtes hatten sich in seine Haut gebrannt, bevor sie gerissen waren. Hendrick schnappte nach Luft.
"Hallo", sagte er schüchtern. Sein Herz raste.
"Hallo", wiederholte er.
Weshalb kümmerte sich denn niemand um ihn?
Er erinnerte sich an die Möwen. War er ein Fisch? Möglicherweise brauchte er bloß über den lodernden Asphalt zu schwimmen und die Möwen würden ihn einfangen, ihn auf eine Bahre legen.
Was war das für eine Zeit, in der selbst die Vögel Gasmasken trugen?
Immer dieses Brummen im Kopf. Unausweichlich; er musste sich eingestehen, dass der Arm ab war, aber wo zum Teufel lag er, fragten sich die wirren Stränge unkoordinierter Phrasen im inneren. Wie konnte das verdammte Hirn denn klare Ziele fassen, wenn es doch so nach Grillabend roch, ging es ihm durch den Kopf. Fischkopf. Meer. Bin am Meer.
Seine Haut blätterte sich ab.
Hendrick wollte zu einem außerordentlichen Meeting fahren. Viele Stunden gearbeitet und dann zur Familie. Wenn der Konzern nach ihm verlangte, dann hatte er anzutanzen.
"Hallo!"
"Hallo!"
Endlich kam jemand auf ihn zu und blickte entsetzt. Die angelernte Professionalität des Fremden, sie verschwand. Wie Tränen im Regen
"Ich habe überlebt und muss zum Meeting", röchelte Hendrick.
Keine Schmerzen im wichtigsten Organ, aber wenn es seine Arbeit langsam einstellt, dann merkt man das schon.
Ein Blutrauschen auf Achterbahnfahrt, so lässt sich der einsetzende Tod am treffendsten beschreiben.
Hendrick wollte dem Sanitäter in die Arme fallen, doch dieser wich ängstlich - nein, angewidert - zurück.
"Muss zum Meeting und dann zurück zu den Kindern. Wäre aber viel lieber am Strand."
Die Beine gaben nach. Es wurde dunkel um ihn, doch Hendrick lächelte.

Vielleicht kam er jetzt ans Meer.

 

Ich denke, das ist wohl deine reifste Erzählung - kann es sein, dass dir das Thema ziemlich am Herzen liegt?

Hallo cerberus!

Hat mir wirklich sehr gut gefallen (das sage ich im vollen Ernst), ich bin ziemlich sicher, dass wir dich noch groß kriegen :D

Den Inhalt zu kritisieren wäre - wie fast immer bei dir - vergeblich. Zu abgehoben, kaum fassbar. Der Stil aber!
Du hast dich angenehm zurückgehalten, das ist es, was mir wirklich zugesagt hat. Der Stil ist nicht so...aufdringlich, wie in einigen anderen Geschichten von dir. Ohne große Ausfälle gelingt es dir, eine wehmütige Atmosphäre aufzubauen, die neidisch werden lässt.

Und - täterätääääääääää - ich habe bis auf folgendes nichts gefunden, was ich zu bemängeln hätte:

Es war ihm deutlich anzumerken, dass er sich nichts anmerken lassen wollte

Ich weiß schon, was du willst, aber für mich klingt es doof :D

So, und wieder sage ich: Ich freue mich auf deine nächste Story!

Viele Grüße von hier!

 

hoi cerberus!

die geschichte ist tatsächlich mehr traurig als horror, aber wirklich sehr schön erzählt. vor allem der letzte absatz hat mich sehr tief ergriffen: der tödlich verletzte fahrer, der lächelt und denn tod hinnimmt, weil er hofft, endlich ans meer zu kommen. zu seinem "paradies", wenn man das so sagen kann.

wikrlich sehr schön erzählte und vor allem traurige geschichte.

mfg

 

Hi cerberus,

auch ich finde deine Geschichte sehr gelungen.
Der Horror daran, war wohl der Unfall an sich.
Die Stimmung zwischen Tod und Leben die du beschreibst, hat für mich etwas
tröstendes. Man spürt, wie der Faden beginnt zu reißen und zuletzt nur noch das friedliche Gefühl, wirklich wichtig ist.

Es wäre zu wünschen, dass alle Sterbenden so ins Paradies fliegen.

glg, coleratio

 

Hallo Ceberius,

deine Geschichte hat für mich gleichmäßig negative wie positive Aspekte.
Positiv ist die ganze Situation, die du beschreibst. Das kommt daher, wie ein Rammstein-Lied. Du erzählst von einem abgedrehten Seelenzustand, kommst gleichzeitig kühl und gefühlvoll daher. Das zieht mich irgendwie auf eine dunkle Weise an.
Außerdem positiv die Art, wie du dich ausdrückst: Saubere Sätze, keine Rechtschreibfehler, wirkt sehr professionel.

Negativ ist die Unordnung in deinem Text. Da passt einfach vieles nicht zusammen. Zu hektisch ist er, vor allem die Schilderung der Massenkarambolasche. Dem konnte ich nicht ganz folgen.

Also, ganz überzeugen konntest du mich nicht, dennoch schaffst du es Atmosphäre zu erzeugen, die auf morbide Weise ergreifend ist.

Alles Gute...

--------------------------------------------------------------------------
Adios Tioz, danke für alles, "für die gute Gesellschaft auf einem langen Weg!"
Wir werden euch nie vergessen!!!

 

Sehr schön, eine Geschichte von dir, bei der ich mich nicht fragen muß, was ich nicht verstanden habe. :D
Ich schließe mich meinen Vorrednern an: Sie ist eher traurig als gruselig, aber das macht sie keineswegs schlecht. Auch ich finde, daß das eine deiner bisher besten Geshichten ist.
Nun ein paar leidige Detailanmerkungen. Eigentlich nur eine, denn der Rest ist ausgesprochen flüssig:

In Ordnung, er musste sich eingestehen, dass der Arm ab war, aber wo zum Teufel lag er, fragten sich die wirren Stränge von Überlegungen im inneren.
Dass der Arm ab ist, kommt mir zu salopp daher. Besser wäre vielleicht "War das nicht seine Armbanduhr an dem Arm, der dort im Gebüsch lag?"
Und die wirren Stränge, die sich was fragen, grenzen an eine Stilblüte.

r

 

Hallo Cerberus
Also, mich hat die Geschichte durch die ruhige Art und die selbstverständliche Akzeptanz, mit der du das Grauen geschildert, und damit verstärkt hast, beeindruckt.
Du hast tolle Bilder geschaffen, in die ich auch gefühlsmäßig wunderbar eintauchen konnte.... bis auf den Horror natürlich, den du toll umgesetzt hast.

Und jetzt zur Meckerei:
Ich meine, daß die Dramatik des Unfalls, den er ja bei vollem Bewußtsein erlebt., mit kürzeren Sätzen deutlicher werden könnte.

.....
Ein sanftes Rauschen. Drang es vom Meer?
.........ich meine, da fehlt was. ...vom Meer her?

..........
Bis zum Horizont reichende Sandbänke,
...........ist vielleicht kleinlich, aber dann haben wir ja kein Meer mehr.

.........
In Ordnung, er musste sich eingestehen, dass der Arm ab war,
............“ In Ordnung ...„ finde ich in der Situation zu normal. Ist so, als wäre das eben wirklich in Ordnung. Wenn er das aber einfach nur akzeptiert, dann finde ich „ok“ besser.

Kompliment für diese gelungene Geschichte
Gruß
Manfred

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo euch allen!

Wahnsinn, so viel (und vor allem so gute) Resonanz innerhalb kurzer Zeit. Ich habe die Geschichte gerade im letzten Abschnitt leicht überarbeitet. Auf eure einzelnen Kommentare werde ich dann morgen genau eingehen. Momentan bin ich schon halb auf dem Sprung, weshalb ich mich für heute entschuldigen möchte.

Beste Grüße

Cerberus

 

Hi cerberus,
was mir sehr gut gefallen hat, waren die Tempo Wechsel. Deine Geschichte beginnt sehr langsam und gediegen und lebt nur die bildreiche Sprache. Dann folgt die Autosequenz und die Sprache wird durch solide Spannung, um nicht zusagen Action ersetzt. Und schließlich finden wir am Ende sprachlich wieder an den Anfang zurück. Der Kreis schließt sich. Das Meer kann kommen... *g*

Liebe Grüße...
morti

 

Hallo, Cerberus!

Coole Geschichte. Nicht nur Horror, sondern auch ganz ganz traurig. Einfach nur gut.
Wurde die schon empfohlen? Sollte man tun.

Liebe Grüsse
Arry

 

Hallo Cerberus!

An dieser Geschichte ist einfach alles toll, sogar der Titel! Der Arya-Sturm (:D) von gestern hat ja eine Empfehlung hinterlassen - zu recht. Hätte ich auch getan. Ich bin jetzt zu faul, um die Details zu loben...

Weiter so!

Viele Grüsse,

Van

 

So denne, hat mal wieder etwas länger gedauert, aber ich habe eure Kommentare nicht vergessen :

@lostrecords
@one weak
@coleratio
@morti
@Arya Stark
@Van Horebeke

Euch erstmal vielen Dank für die zahlreichen Komplimente, so etwas tut echt gut. Über die Empfehlung habe ich mich natürlich sehr gefreut!

@Hanniball

Ich denke, das ist wohl deine reifste Erzählung - kann es sein, dass dir das Thema ziemlich am Herzen liegt?

Eigentlich nicht wirklich; heisst, ich habe keine persönlichen Erfahrungen gemacht, die dieses Thema betreffen, falls du das damit meinst.
Die von dir angesprochene Stelle ist bereits nachgebessert, hat mir im Nachhinein selber nicht gefallen.

@kevin2

Negativ ist die Unordnung in deinem Text. Da passt einfach vieles nicht zusammen. Zu hektisch ist er, vor allem die Schilderung der Massenkarambolasche.

Eigentlich wollte ich den Text in drei Teile untergliedern, also den Sekundenschlaf, den eigentlichen Unfall und das schwerverletzte Erwachen. Die Karambolage kommt möglicherweise tatsächlich ein wenig unübersichtlich rüber, so wollte ich das Durcheinander der Situation besser einfangen.

@relysium

Die von dir angesprochene Stelle wurde ebenfalls geändert.

@Dreimeier

Ich meine, daß die Dramatik des Unfalls, den er ja bei vollem Bewußtsein erlebt., mit kürzeren Sätzen deutlicher werden könnte.

An für sich hast du hiermit recht, da ich aber den letzten Teil bereits größtenteils in relativ knappen Sätzen formuliert habe, möchte ich dies in der Mitte nicht auch noch machen. Persönlich finde ich die Sätze aber auch gar nicht sooo lang.

.........ich meine, da fehlt was. ...vom Meer her?

Hmmm...da bin ich selbst ein wenig überfragt. Geht nicht beides? Man sagt ja auch nicht : "Er war in der zweiten Etage und hörte ein Geräusch. Drang es vom Erdgeschoss HER?"
Oder doch? Bin mir wie gesagt auch nicht ganz sicher. Je länger ich darüber nachdenke, geht das vermutlich auch. Beides hört sich irgendwie richtig an.

...........ist vielleicht kleinlich, aber dann haben wir ja kein Meer mehr.

Vielleicht etwas umständlich ausgedrückt; ich meinte es so, dass der Strand mitsamt seiner Sandbänke in einer Linie bis zum Horizont reicht. So, als wenn man seitlich schaut, links das Meer und rechts der Strand. Ist jetzt noch umständlicher ausgedrückt, oder?

In Ordnung, er musste sich eingestehen, dass der Arm ab war,

Siehe relysiums Anmerkung, der Satz wurde geändert.


Ansonsten euch allen nocheinmal vielen Dank fürs lesen und kommentieren!

Beste Grüße

Cerberus

 

hi hallöchen cerberus!

Es roch angenehm, so wie bei einem Grillabend im engen Freundeskreis.
ih gitt!

aber wo zum Teufel lag er, fragten sich die wirren Stränge unkoordinierter Phrasen im inneren.
bitte groß

Kann mich meiner Vorredner nur anschließen. Tolle Geschichte, sehr flüssig geschriebe. :thumbsup:


Cu Tama

 

Tach Cerberus,

hab deine Geschichte grad gelesen, und muss sagen, dass ich sie wirklich klasse fand. Sprachlich wirklich hervorragend umgesetzt. Vor allem die Stimmung die du beim Leser erzeugst ist spitze. So und nicht anders sollte die Beschreibung eines Unfalls sein, nicht mit viel Blut und brutal, sondern melancholisch und traurig. Fast schon ein wenig gleichgültig. Fand ich richtig gut, auch wenn's ja nur ein kurzer Ausschnitt ist. Ich bin ja eher ein Freund längerer Geschichten mit mehr Handlung. Das ist das einzige, was mir nicht so gefällt, ich hätte lieber eine längere Geschichte die mit diesem Unfall endet. Eine die vielleicht die Verbindung des Prot. zum Meer erklärt.
Aber ansonsten, großes Kompliment und viele Grüße,

M. F.

 

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