Was ist neu

Einer muss es ja machen

Seniors
Beitritt
02.01.2002
Beiträge
2.441
Zuletzt bearbeitet:

Einer muss es ja machen

»Sie ist eine Hexe«, sagten die Leute im Dorf und gingen ihr aus dem Weg.

»Sie ist eine Hexe«, sagte Estas Mutter und schauderte dabei.

»Sie ist eine Hexe«, dachte Esta und fand dies höchst interessant. Es gab nicht mehr viele Hexen in der Gegend. König Roland mochte keine Hexen, seit eine von ihnen ihm einst in Kindertagen seinen Lieblingshund in einen Frosch verwandelt hatte. Manche munkelten, es habe einen noch viel schlimmeren Vorfall gegeben, über den der König niemals sprach. Was es auch war, er mochte keine Hexen und so hatten es die meisten nach seinem Amtsantritt für besser gehalten, das Land zu verlassen.

Die Hütte der alten Marlena stand außerhalb des Dorfes am Waldrand. Dahinter lag ein kleiner, von dichten Tannen gesäumter Kräutergarten und wer nah genug herangekommen war, berichtete von zwei Raben, die zum Fenster der Hütte ein- und ausflogen, wie es ihnen gefiel.

Esta hatte diese Raben noch nie gesehen, geschweige denn die alte Marlena selbst.

»Halte immer mindestens fünfzig Schritte Abstand zur Hütte«, pflegte ihre Mutter jeden Tag zu sagen und Esta gehorchte, auch wenn es sie jedesmal aufs Neue Überwindung kostete. Schließlich konnte die alte Marlena eines Tages verschwunden sein, wie all die anderen Hexen, und dann würde Esta vielleicht niemals eine zu Gesicht bekommen. Esta war klug genug, diesen Gedanken niemals laut auszusprechen, obwohl er sie oft beschäftigte.

*

An einem sonnigen Nachmittag schickte Estas Mutter das Mädchen zum Beeren sammeln. Beeren sammeln war eine furchtbar langweilige Angelegenheit, aber der Weg in den Wald führte Esta wieder einmal an der Hexenhütte vorbei und das war Anreiz genug.

Sie pirschte sich so nah heran, wie sie es ihrem Gewissen gegenüber vertreten konnte und versteckte sich hinter einer Tanne. Die Zweige kitzelten sie an der Nase. Niemand war zu sehen. Keine Hexe, keine Raben und keine Monster, von denen Esta überzeugt war, dass es sie im Haus einer Hexe geben müsse. Esta wartete ein paar Minuten. Nichts rührte sich. Enttäuscht drehte sich das Mädchen um und stieß gegen eine alte Frau. Erschrocken taumelte sie zwei Schritte zurück. Die alte Frau lächelte.

»Kann ich dir helfen?«

Estas Herz klopfte bis zum Hals.

»N-nein«, stammelte sie, während die Gedanken in ihrem Kopf durcheinanderwirbelten. »Ich w-wollte gerade ...«

Sie unterbrach sich und rannte los. Weg von hier, egal wohin, nur weg! In ihrer überhasteten Flucht übersah sie eine Baumwurzel und blieb mit dem Fuß hängen. Sie stolperte, griff vergeblich mit den Fingern nach der Rinde und stürzte zu Boden. Stöhnend versuchte Esta sich aufzurichten. Sofort schoss ihr ein stechender Schmerz in die Glieder und ließ sie wieder niedersinken. Hinter ihr näherten sich Schritte. Ein Schatten fiel über das Mädchen.

Jetzt hast du deine Hexe, hörte sie eine gehässige Stimme in ihrem Kopf, bevor sie das Bewusstsein verlor.

*

Esta öffnete die Augen. Alles um sie herum war verschwommen. Das Mädchen blinzelte mehrmals und fasste sich an die schmerzende Stirn.

»Besser nicht zuviel bewegen«, sagte jemand. Die alte Frau saß auf einem Schemel vor dem Bett, in dem Esta lag. »Na na«, sagte sie, als Esta erbleichte, »ich tu dir schon nichts. Musst nur ruhig liegenbleiben. Könnte sonst gefährlich sein.« Sie hielt Esta eine Tasse mit einem dampfenden Gebräu hin. »Trink das, dann wird's besser.«

»Ich denke gar nicht daran! Das ist bestimmt vergiftet und ...« Ehe Esta zuende sprechen konnte, hatte die alte Frau ihr die Tasse an den Mund geschoben und die Flüssigkeit hineingekippt. Schon nach dem ersten Schluck fiel Esta in einen tiefen Schlaf.

*

Als Esta wieder erwachte, spürte sie als erstes, dass sie keine Schmerzen mehr hatte. Nur ihre Sicht war noch ein wenig verschwommen. Vorsichtig drehte Esta den Kopf und streckte die Glieder aus. Sie blinzelte. Die alte Frau war nirgends zu sehen. Esta erhob sich und schaute sich in der Hütte um. Bis auf die vielen umherstehenden Gläser sah es nicht viel anders aus als bei Esta zuhause. Ein Schrank, ein Tisch, drei Stühle, ein Kamin, ein Kupferkessel und ein Kräuterregal. Keine gehorteten Schätze, kein Zauberstab und vor allem keine Monster. Auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch. Esta zögerte. Konnte dies ein Zauberbuch sein? Das Mädchen machte einen Schritt darauf zu.

»Diebesgesindel!«, kreischte eine Stimme. Zu Tode erschocken fuhr Esta herum und entdeckte zwei Raben, die vor dem Fenster auf einer Stange hockten. Erleichtert atmete sie auf. Die Raben beäugten den Fremdling misstrauisch.

»Diebesgesindel!«, wiederholte der eine und trat auf der Stange hin und her.

»Aufhängen, aufhängen!«, setzte der andere nach. Esta musste unwillkürlich lächeln.

»Ich geh ja schon«, sagte sie. »Richtet eurer Besitzerin aus ...« Sie brach ab. Es war schon seltsam genug sich mit Raben zu unterhalten, mit sprechenden Raben sowieso und mit den sprechenden Raben einer Hexe ganz besonders. Sie musste nach Hause. Draußen dämmerte es bereits und ihre Mutter würde sich Sorgen machen. Das Mädchen schlüpfte aus der Hütte.

*

Estas Mutter stellte viele Fragen, doch zum Glück keine, auf die hin das Mädchen lügen musste. Nein, es war nichts Schlimmes passiert. Ja, sie war gestürzt und eine Weile ohnmächtig gewesen. Nein, sie hatte keine Schmerzen mehr. Ja, sie hatte den Korb mit den Beeren im Wald vergessen. Dass ihre Mutter nach so harmlosen Dingen wie den Beeren fragte, beruhigte sie, denn dann konnte sie keinen Verdacht haben, was wirklich geschehen war. Esta war sich nicht sicher, ob sie ihrer Mutter bei einer direkten Frage die Wahrheit gesagt hätte. Eine innere Stimme sagt ihr, dass sie es nicht getan hätte. Ihre Mutter fürchtete die alte Marlena, aber Esta wusste es besser. Die alte Marlena konnte nicht so schlimm sein, wie alle dachten, sonst hätte sie ihr nicht geholfen. Und für Hilfe musste man sich bedanken.

Am nächsten Tag sagte Esta ihrer Mutter, sie wolle nach dem Korb im Wald sehen und schlich sich zur Hexenhütte. Diesmal jedoch blieb Esta nicht in der Entfernung stehen, sondern ging zur Haustür. Mit jedem weiteren Schritt schlug ihr Herz schneller. Was sie hier tat war verrückt, aber sie glaubte einfach nicht, dass ihr etwas Schlimmes geschehen würde. Mit zittriger Hand klopfte das Mädchen an die Tür.

»Diebesgesindel!«, rief jemand mit lauter Stimme von drinnen und Esta wollte schon antworten, ehe ihr aufging, dass es einer der Raben gewesen war.

»Aufhängen!«, kreischte auch sogleich der zweite hinterher.

»Ist ja gut«, murmelte plötzlich eine dritte Stimme und die Tür wurde mit einem Ruck geöffnet. Vor Esta stand die alte Marlena.

»Ach, du bist es. Komm herein«, sagte sie, als habe sie Esta erwartet. Das Mädchen zögerte einen Moment und trat dann ein. Die alte Frau bedeutete ihr, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Die Raben reckten die Köpfe nach Esta. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, würde sie glauben, sie seien neugierig. Aber wusste sie es wirklich besser?

»Ich ahnte, dass du kommen würdest«, beantwortete Marlena Estas unausgesprochene Frage. »Ich habe dich gestern alleine gelassen.« Dabei warf sie dem Mädchen einen prüfenden Blick zu.

»Ich habe nichts angerührt«, beteuerte Esta schnell.

»Das weiß ich«, sagte die alte Frau trocken. »Denn wenn dem so wäre, würden wir jetzt bestimmt nicht so gemütlich miteinander plaudern.«

Esta schluckte. Jetzt war der Moment gekommen, sich zu bedanken. Doch schon bei den ersten Worten winkte die alte Frau ab. Für selbstverständliche Dinge sei kein Dank notwendig. Sie lächelte, als sie Estas verwirrte Miene sah.

»Dass ich dir helfe, passt so gar nicht zu dem, was man im Dorf über mich erzählt, stimmt's?«, fragte sie. Als Esta nickte, lachte sie leise. »Das dachte ich mir. Aber ich lasse sie reden. Ich lasse sie alle reden.«

Ihr Blick verlor sich in der Ferne. Esta rutschte auf ihrem Stuhl hin und her.

»Meine Mutter sagt, ich darf nicht in die Nähe Ihrer Hütte«, platzte sie heraus. Sofort biss sie sich auf die Zunge und wünschte, sie hätte den Mund gehalten. Was musste die alte Frau jetzt von ihr denken! Doch Marlena lachte nur.

»Und?«, fragte sie mit einem Zwinkern. »Wirst du es ihr erzählen?«

Esta schüttelte stumm den Kopf. Die alte Marlena betrachtete sie nachdenklich.

»Geh nach Hause«, sagte sie endlich. »Deine Mutter wird warten. Halt!«, fügte sie hinzu, als Esta sich erhob. »Vergiss das nicht.« Sie reichte Esta den Beerenkorb.

*

Drei Tage lang kämpfte Esta erfolgreich gegen ihre Neugierde an, doch am vierten Tag siegte der brennende Wunsch, die Hexe wiederzusehen. Ihr schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Mutter hielt sich in Grenzen. Schließlich war Marlena keine böse Hexe. Bestimmt nicht.

Auch an diesem Nachmittag hörte sie zunächst die Stimmen der Raben, ehe die Tür geöffnet wurde. Wenn die alte Marlena diesmal von ihrem Besuch überrascht war, verbarg sie es gut. Als Esta eintrat, fiel ihr Blick auf den dampfenden Kessel im Kamin. Allerleih Gläser mit Kräutern standen auf dem Tisch, daneben lag ein aufgeschlagendes Buch.

»Ich war gerade beschäftigt«, sagte Marlena und wedelte mit der Hand zum Kamin. Esta hörte kaum hin. Stattdessen beobachtete sie die grünen und blauen Wölkchen, die dem Kessel entstiegen. Beinah sah es aus, als tanzten sie miteinander in der Luft.

»Eine eigene Erfindung, dieser Trank«, verkündete Marlena nicht ohne Stolz. »Es wird eine Art Liebestrank, der die jungen Damen dazu bringt, sich auf einen Tanz mit ihrem Verehrer einzulassen ...«

Sie hatte kaum zuende gesprochen, als eine rote, größere Wolke dem Kessel entwich, die die Form eines Mundes annahm und innerhalb von Sekunden die grünen und blauen Wölkchen verschlang. Esta riss die Augen auf. Hastig legte Marlena den Deckel über den Kessel und murmelte etwas, das wie »Fehlt wohl noch ein Kraut« klang.

»Können Sie alles zaubern, was Sie wollen?«, wollte Esta wissen. Die Hexe wiegte kichernd den Kopf hin und her.

»Wer weiß, wer weiß«, sagte sie. »Was ich zaubern wollte, habe ich bisher immer zaubern können.«

Diese Antwort fand Esta nicht wirklich befriedigend, aber das kannte sie von den Erwachsenen schon. Hexen waren da offenbar keine Ausnahme.

»Meine Mutter sagt, Magie ist böse«, sagte sie leise. Marlena schwieg eine Weile.

»Der Zauberer Stellus Scabos, einer der Urväter unserer Zunft, sagte einmal: Magie an sich ist neutral - genauso wie ein Messer weder gut noch böse ist. Es ist nicht das Messer, das Brot schneidet oder einen Menschen verletzt, es ist der Mensch, der das Messer hält.«

Esta ließ diese Sätze auf sich wirken.

»Zaubern auch Sie manchmal böse Sachen?«, fragte sie dann, fast erschrocken über ihre eigene Kühnheit.

Wieder wiegte Marlena den Kopf hin und her, diesmal ohne dabei zu kichern.

»Was ist böse, was ist gut? Es kommt immer darauf an, aus welcher Lage man etwas betrachtet. - Aber was sollen diese trübseligen Fragen«, fuhr sie dann fort, »willst du nicht lieber mal einen meiner Tränke sehen?«

An diesem Nachmittag lernte Esta mehr über die Verwendung von Kräutern in Liebestränken, als in den vielen, endlosen Erzählstunden ihrer Großmutter über den letzten Krieg. Hexe zu sein war gar nicht so schwer, wie sie immer geglaubt hatte. Auf ihre Frage, ob man zum Zaubern geboren sein müsse, hatte die alte Marlena sie gefragt, was ihr Vater von Beruf war. »Schmied.« Ob man diesen Beruf lernen könne. »Ja.« Und ob es hilfreich sei, wenn die Eltern den gleichen Beruf hatten. »Schon.« - »Na also.«

*

Estas Mutter kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wie oft hatte sich ihre Tochter früher geweigert, Beeren sammeln zu gehen; jetzt fragte sie beinah jeden Tag, ob sie welche besorgen könne. Manchmal kam ihr der Gedanke, dass Esta das Beeren sammeln bloß als Vorwand für etwas anderes benutzte. Vielleicht traf sie sich heimlich mit jemandem. Man durfte nicht vergessen, dass Esta bald dreizehn wurde. Mädchen in diesem Alter interessierten sich langsam für andere Dinge als für ihre Puppen. Estas Mutter lächelte versonnen.

*

»... noch drei Basilikumblätter und einen Tropfen Lavendelöl. Sobald es sich grün verfärbt noch eine Prise Baldrian dazu«, murmelte Esta, während sie das violette Gebräu umrührte.

»Und wie lange muss es kochen?«, hakte die alte Marlena nach.

»Zehn Minuten, danach mit geschlossenem Deckel vom Feuer nehmen und eine halbe Stunde in den Schatten stellen«, kam es prompt von Esta. Die Hexe nickte zufrieden.

»Sehr gut. Ich sehe schon, es wird ein viel besserer Schlaftrunk, als ich ihn damals mit meinen dreizehn Jahren zubereitet habe.«

Esta grinste geschmeichelt. Zum Abschluss gab ihr die alte Marlena noch eine Tabelle mit Kräuternamen mit.

»Lass dieses Papier niemanden sehen«, schärfte sie ihr ein, wie jedesmal, wenn Esta etwas aus der Hexenküche mit nach Hause nahm.

Es dämmerte schon, als ihre Mutter ihr die Tür öffnete. Estas Vater saß bereits beim Abendbrot. Sie murmelte eine Entschuldigung und setzte sich dazu. In Gedanken ging sie nochmals die Zutaten für den heutigen Trank durch. Sie brannte darauf in ihre Kammer zu gehen und die Kräuternamen zu lernen.

»... ist endgültig Schluss mit den Hexen.«

Die Stimme ihres Vaters riss Esta aus ihren Überlegungen.

»Was hast du gesagt, was ist mit Hexen?«

Estas Vater wischte sich den Mund ab.

»Bald ist Schluss mit ihnen, habe ich gesagt. Der König hat einen neuen Erlass bekannt gegeben. Es heißt, Hexen seien eine nicht zu kontrollierende Gefahr und sie müssten deswegen inspiziert werden.« Er war sichtlich stolz auf das schwere Wort. Nicht viele Schmiede konnten sich so ausdrücken. »Heute Nacht werden sie das erste Mal zuschlagen und von da an in unregelmäßigen Abständen unangemeldete Kontrollen durchführen. Wenn irgendetwas Verdächtiges gefunden wird, können sich die Kräuterweiblein eine neue Hütte suchen.« Er lachte wie über einen guten Witz.

Esta überlief es heiß und kalt. Heute Nacht schon die erste Kontrolle! Ihr wurde schwindelig, wenn sie an die unzähligen Gläser und Döschen mit Kräutern und Wässerchen in der Hütte dachte. Und die alte Marlena wusste nichts von diesem Erlass! Niemand würde es ihr sagen, außer ... Esta schluckte. Sie war die Einzige, die Marlena warnen konnte. Aber ihre Eltern! Nie würden sie ihr erlauben, um diese Zeit nochmal vor die Tür zu gehen. Und ahnen durften sie schon gar nichts. Esta schwante, dass es sehr schwierig sein konnte, mit einer Hexe befreundet zu sein.

Unter dem Vorwand sich nicht gut zu fühlen, legte sich Esta frühzeitig ins Bett. Die folgenden Stunden litt sie Höllenqualen. Sie musste lange genug warten, bis ihre Eltern selber schlafen gegangen waren, um unbemerkt aus dem Haus schleichen zu können. Die Angst erwischt zu werden zerriss ihr fast das Herz. Es war nicht auszudenken, was das für Folgen nach sich ziehen würde. Erst als die ferne Kirchturmuhr Mitternacht schlug, fuhr Esta in ihre Kleider und schlich sich auf Zehenspitzen zur Tür hinaus.

Mit hämmerndem Herzen rannte Esta durch die Nacht. Erst als Marlenas Hütte in ihr Blickfeld kam, verlangsamte sie ihr Tempo. Sie amtete auf. Niemand war zu sehen. Esta pochte gegen das Holz. Nichts rührte sich. Esta pochte lauter und rief Marlenas Namen. Ohne Erfolg. In seiner Verzweiflung stemmte sich das Mädchen gegen das Holz - und die unverschlossene Tür flog auf. Esta brauchte einen Moment, um ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Hütte war verlassen. Marlenas Bett war unberührt. Die vielen Flaschen und Gläser waren verschwunden.

»Diebesgesindel«, hörte sie ein müdes Krächzen hinter sich. Die beiden Raben kauerten nebeneinander auf der Stange. Esta trat zu ihnen.

»Ihr Armen, hat Marlena euch zurückgelasen? Wo ist sie?« Doch sie wusste, dass sie keine Antwort bekommen würde. Esta spürte einen Stich in ihrem Herz. Einerseits freute sie sich, dass Marlena den Häschern des Königs zuvorgekommen war. Sie hatte bestimmt einen sicheren Platz gefunden. Andererseits fühlte sich das Mädchen verraten. Hatte Marlena am Nachmittag schon von ihrer Flucht gewusst? Warum hatte sie Esta nichts gesagt?

Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Stimmen, Schritte! Die Männer des Königs! Gerade noch rechtzeitig, bevor die Männer um die Ecke bogen, huschte Esta aus der Hütte und versteckte sich hinter einem dichten Busch. Ein Trupp von etwa zehn Männern näherte sich. Sie trugen Fackeln und Schwerter. Auf ihrer Brust erkannte Esta das Zeichen des Königs. Einer von ihnen, offenbar der Anführer, klopfte an die Tür, wie schon Esta wenige Minuten zuvor. Als niemand öffnete, stießen zwei der Männer die Tür auf und stürmten in die Hütte. Esta konnte ihre enttäuschten Rufe bis zu ihrem Versteck hören. Die Männer rückten die Möbel umher, aber Esta wusste, dass sie nichts Wertvolles finden würden. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, verließen die Männer die Hütte wieder. Satzfetzen ihrer Unterhaltung drangen an Estas Ohr.

»... scheint ausgeflogen ... wohl irgendwie Wind bekommen.«

»... dem König jetzt sagen?«

»... kein Problem. Weg ist weg ... alles, was er wollte.«

»... bei Gelegenheit ... nochmal nachsehen ... glaube aber ... nicht wiederkommt.«

Die Stimmen entfernten sich. Esta wagte es, hinter ihrem Busch hervorzuschauen. Die Männer entschwanden ihrem Blickfeld. Das Mädchen lief zur Hütte.

Die Stühle lagen umgekippt auf dem Boden, der Tisch war verschoben, das Regal hing schräg an der Wand, das Bett war durchwühlt. Die Raben kauerten sich auf ihrer Stange so eng zusammen wie noch nie. Esta ballte die Hände zu Fäusten. Ohne zu zögern stellte sie die Möbel wieder an ihren Platz und strich die Bettdecke glatt. Einer der Raben flog von der Stange und ließ sich auf der Decke neben Estas Hand nieder.

»Na, du?«, fragte sie.

Ausnahmsweise gab der Vogel nichts zurück. Stattdessen pickte er ihr mit einer schnellen Bewegung in die Haut. Esta zog die Hand zurück.

»Was soll ...« Sie brach ab. Der Rabe war auf den Boden gehüpft und flatterte mit den Flügeln. Dabei waren seine Augen unentwegt auf das Mädchen gerichtet. Esta begriff, dass er ihr etwas mitteilen wollte und sank auf die Knie nieder. Gleich darauf hüpfte der Rabe unter das Bett. Esta legte sich auf den Boden, um ihn nicht aus dem Blick zu verlieren. Der Vogel pickte gegen ein Holzbrett. Esta stand auf und schob das Bett unter großer Anstrengung einen halben Meter zur Seite. Das Brett, auf das der Rabe gepickt hatte, war dunkler als die anderen. Estas Hand zitterte leicht, als sie danach fasste und es zurückbog. Unter dem Brett lag ein Hohlraum. Esta griff hinein. Ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Ein Buch! Sofort zog sie es heraus und hielt es ins Mondlicht. Ihre Augen wurden groß. Marlenas Zauberbuch! Beinah ehrfürchtig strich das Mädchen über den Ledereinband. Nur selten hatte die alte Marlena ihr erlaubt, einen Blick hineinzuwerfen. »Zauberbücher sind nichts für Anfänger«, hörte sie die mahnende Stimme in ihrem Kopf. Und jetzt lag dieses Buch vor ihr. Marlena konnte es unmöglich vergessen haben. Esta fühlte eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Mit einem Mal war es nicht mehr so schlimm, dass Marlena sich nicht von ihr verabschiedet hatte. Dass sie ihr Zauberbuch zurückgelassen hatte, musste bedeuten, dass sie nicht für immer fortbliebe. Und bis dahin würde Esta das Buch in Gewahrsam nehmen. Sie stand auf und klemmte es sich unter den Arm.

»Diebesgesindel!«, schimpfte der eine Rabe. Esta schüttelte den Kopf.

»Ich leihe es mir nur. Es ist bei mir besser aufgehoben als hier in der Hütte. Und ich ... ich werde es sicher mal zu etwas gebrauchen können.«

Der andere Rabe legte den Kopf schief.

»Aufhängen?«, schlug er vor.

Estas Augen glänzten. Sie lächelte.

»Da gibt's bestimmt noch Besseres.«

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey, Ginny!

Eine sehr nette kleine Geschichte - unspektakulär, aber sehr solide erzählt. Sprachlich wie immer auf sehr hohem Niveau. Die Charaktere wirken sehr lebendig, wenngleich ich Marlena noch etwas mehr Tiefe und ein wenig mehr "Screen-Time" wünschen würde.

Die Story hat also einen gewissen Charme, kommt sehr leichtfüßig daher und wirkt absolut rund. Saubere Arbeit! :)

Einziges Manko in meinen Augen: Der leider sehr verbrauchte Plot- ähnliche Geschichten habe ich alleine hier schon mehr als häufig gelesen, weshalb diese hier für mich leider keine großen Überraschungen mehr bereit hielt. Und die gängigen Klischees - junge Schülerin wird in neue Welt eingeführt, alte Hexe ist gar nicht so böse usw. - werden doch recht unverblümt verbraten. Naja, gelangweilt hab ich mich dank des ausgesuchten Stils trotzdem nicht. ;)

Fazit: Gut geschrieben, aber inhaltlich zu "traditionell". Dennoch als Musterbeispiel für sauberes Erzählen lesenswert!

Gruß,
Markus

---------------------------------

Ein paar Detail-Anmerkungen:

eines Tages verschwunden sei, wie all die

»sein«

»Das weiß ich«, sagte die alte Frau trocken. »Denn wenn dem so wäre, würden wir jetzt bestimmt nicht so gemütlich miteinander plaudern.«

Der Einschub mit »sagte...trocken« kann weg (ich ertappe mich selbst auch immer wieder bei sowas... ;)). Und im Satz danach fehlt ein »nicht«: »Wäre dem nicht so, würden wir...«

»Der Zauberer Stellus Scabos, einer der Urväter unserer Zunft, sagte einmal: Magie an sich ist neutral - genauso wie ein Messer weder gut noch böse ist. Es ist nicht das Messer, das Brot schneidet oder einen Menschen verletzt, es ist der Mensch, der das Messer hält.«

Für gewöhnlich sind solche überlieferten Spruchweisheiten sehr viel knapper und pointierter. Irgendwas wie »...sagte einst: Es ist nicht das Messer, das Unheil bringt, sondern die Hand, die es führt.« oder sowas.

trübseligen Fragen«, fuhr sie dann mit fröhlicher Stimme fort, »willst du nicht lieber mal einen meiner Tränke sehen?«

Passagen mit »sagte er/sie/es mit [beliebiges Adjektiv einfügen] Stimme...« lesen sich für mich immer ganz fürchterlich. (Ich nenne es mittlerweile die »Harry Potter-Krankheit« - Rowling betreibt das bis zum Exzess...). Ich denke, der Satz funktioniert auch ohne den Einschub einwandfrei!

An diesem Nachmittag lernte Esta mehr über die Verwendung von Kräutern in Liebestränken, als in den vielen, endlosen Erzählstunden ihrer Großmutter über den letzten Krieg.

Der Satz verwirrt mich? Hat ihre Großmutter ihr auch über die Verwendung von Kräutern in Liebestränken erzählt? Zumindest sagt der Satz das aus. ;)

 

Hi Ginny, schön, dich hier zu lesen!

Wie bei mir (der Faulheit halber) üblich, erstmal Textzeugs:

Ehe Esta zuende sprechen konnte, hatte die alte Frau ihr die Tasse an den Mund geschoben und die Flüssigkeit hineingekippt.
"an den Mund gehoben" würde mMn besser klingen

Esta war sich nicht sicher, ob sie ihrer Mutter bei einer direkten Frage die Wahrheit gesagt hätte. Eine innere Stimme sagt ihr, dass sie es nicht getan hätte.
Diese "hätte"-Dopplung lässt sich doch sicher umgehen?

Am nächsten Tag sagte Esta ihrer Mutter, sie wolle nach dem Korb im Wald sehen und schlich sich zur Hexenhütte.
Klingt, als würde er da irgendwo wachsen oder so :D Besser: "Den Korb im Wald suchen"

Diesmal jedoch blieb Esta nicht in der Entfernung stehen, sondern ging zur Haustür.
In der Entfernung klingt wie in der Tür, kannst du sicher besser formulieren.

An diesem Nachmittag lernte Esta mehr über die Verwendung von Kräutern in Liebestränken, als in den vielen, endlosen Erzählstunden ihrer Großmutter über den letzten Krieg.
Vor Vergleichen muss kein Komma stehen, das hier ist mMn falsch. Außerdem das, was Horni bereits angemerkt hat.

Sobald es sich grün verfärbt, noch eine Prise Baldrian dazu«
Temporalnebensatz wird mMn abgetrennt

Ansonsten muss ich mich dem Nörgelhorn anschließen. Die Geschichte ist solide, gut erzählt, schön geschrieben. :)

Den Plot finde ich zwar traditionell, aber nicht zu traditionell, schöne Geschichte!

Gruß
vita
:bounce:

 

Hallo ginny

Ja, da muss ich meinen Vorredner rundweg zustimmen. Sehr schöne Geschichte, sauberer, klarer Stil, an dem es nichts zu rütteln gibt. Der Text ist zwar lang, doch zu keinem Zeitpunkt langweilig.
Wirklich aufregend und vielschichtig innovativ hab ich ihn zwar ebenfalls nicht empfunden, aber das müssen/können ja auch nicht alle Sachen sein ;)

Also: Insgesamt wirklich lesenswert :)

mfg Hagen

 

Hi Ginny!

Schon nach dem ersten Schluck fiel Esta in einen tiefen Schlaf.
Und beim zweiten Schluck hat sie dann schon geschlafen?

Mädchen in diesem Alter interessierten sich langsam für andere Dinge als für ihre Puppen. Estas Mutter lächelte versonnen.
Den ganzen Absatz finde ich sehr gelungen.

Und ich muss sagen: sehr schöne, kleine Geschichte, der Stil sehr gut, da habe ich gar nichts daran auszusetzten.

In diesem Sinne
c

 

Hallo Ginny,

eine sehr schöne, mystische Geschichte. Vom ersten Absatz an war ich sofort "mittendrin" und wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Eigentlich war die Geschichte für mich schon zu schnell zu Ende. Ich hätte gerne noch eine ganze Weile weitergelesen - einfach, weil es mir so gut gefallen hat. Im Grunde könntest Du aus dieser Geschichte prima eine Serie machen. Sicherlich warten nun zahlreiche Abenteuer auf Esta - nun, da sie das Zauberbuch hat. Und wer weiß, vielleicht sieht sie ja auch Marlena eines Tages wieder? Ich jedenfalls würde gerne mehr von Esta, Marlena und den beiden Raben lesen. :)
:deal:

Zum Stil wurde eigentlich schon alles gesagt. Sehr rund, sehr lebendig und sehr spannend.

Ein paar Kleinigkeiten sind mir noch aufgefallen (ich kann es einfach nicht lassen :) ).

Die alte Frau bedeutete ihr auf einem Stuhl Platz zu nehmen.
ihr, auf (teilt den Satz sinnvoll und hilft so dem Leser)

Beinah sah so aus, als tanzten sie miteinander in der Luft.
Beinahe ("beinah" ist umgangssprachlich und passt nicht so recht zum Rest der Sprache)

».. noch drei Basilikumblätter und einen Tropfen Lavendelöl.
… noch (ein Punkt fehlt oder hier einfach den Satz beginnen: Noch drei …)

Zum Abschluss gab ihr die alte Marlena ihr noch eine Tabelle mit Kräuternamen mit.
ein "ihr" ist zuviel

Ansonsten waren mir ein bisschen zu viele Leerzeilen im Text. Da der Mensch (also ich) ein Gewohnheitstier ist, geht man nach jeder Leerzeile irgendwie immer von einem neuen Ansatz aus - und damit von einem Sprung im Text / Inhalt. Hier aber sind sie häufig auch da, wo es eigentlich nahtlos in der Geschichte weitergeht. Fürs Lesen am Bildschirm sind viele Absätze und Leerzeilen natürlich aber auch angenehm. Hmmm, mach, wie Du meinst.

Alles in allem aber: tolle Geschichte, die Lust auf mehr macht. :thumbsup:

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom