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Endlich neu anfangen

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19.08.2004
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Endlich neu anfangen

Endlich neu anfangen
Den schlichten Sarg aus deutscher Eiche schmückt ein prächtiges Bukett aus gelben Rosen. Nennt man das nun Ironie des Schicksals? Dieselben Rosen trug ich vor elf Jahren in meinem Brautstrauß, denkt Lisa. Sie sitzt in der vordersten Kirchenbank und wartet darauf, dass der Gottesdienst endlich beginnt. Sie wendet ihren Blick ab und schaut erst zur Orgel empor und schließlich hinter sich in den vollen Kirchenraum. Viele starren sie an, mitleidvoll, wie man eben eine junge Witwe anschaut, also dreht sie sich wieder um und fixiert erneut den Sarg. Bilder kommen und gehen, sie vergisst, was um sie herum geschieht, ihre Gedanken tragen sie fort, zurück zu diesen letzten entsetzlichen Stunden ihrer Ehe.
Sie hatte es schon lange geahnt, zum Schluss beinahe gehofft - Gott möge ihr verzeihen - dass etwas Endgültiges, etwas Schreckliches passieren würde. Zu lange hatte Jörg den Alkohol in sich hineingeschüttet. Sein Körper war kaputt, sein Kopf funktionierte nicht mehr, und die Hölle ihrer Ehe hatte ständig neue, immer extremere Formen angenommen. Das Stadium, in dem sie noch zur Schadensbegrenzung fähig war, lag schon Monate hinter ihr. Ihre Liebe hatte sich zuerst in Angst, dann in Wut, schließlich in Hass gewandelt. Jörg war im vorletzten Stadium seiner Sucht gegen sie gewalttätig geworden, hatte sie bespitzelt und versucht, ihr Marie, die gemeinsame Tochter, zu entfremden. Und trotzdem hatte sie es nicht geschafft, ihn einfach fallen zu lassen, ihn rauszuwerfen. Keiner war da, der ihr wirklich helfen wollte, alle hatten sie immer nur weise Sprüche parat. Vor zwei Monaten dann war Jörg plötzlich still geworden und in sich gekehrt, ohne erkennbaren Auslöser. Es war wie die Ruhe vor dem letzten Sturm.
An jenem Mittwochmorgen Ende Juni endlich offenbarte sich, was schon lange unausweichlich schien: Jörgs Körper hörte gänzlich auf zu funktionieren, seine Organe kündigten ihm den Dienst auf. Nie zuvor war ihr aufgefallen, wie sehr seine Knöchel, seine Arme und Beine, überhaupt sein ganzer Körper aufgedunsen waren, wie aschfahl seine Haut war. Sein Blick war glasig und weit weg. Jörg lebte in seiner eigenen Welt, sein einziges Streben galt lange schon nur noch der Alkoholbeschaffung, seine Gedanken waren wirr und ohne jede Systematik.
An diesem Morgen entdeckte sie um die Toilette eine Lache aus Urin und Blut. Also ist es jetzt soweit, war ihr erster Gedanke.
„Was ist passiert, du blutest?“ fragte sie Jörg, obwohl ihr völlig klar war, was da geschehen war.
Er schaute kurz ins Bad, antwortete aber nicht auf ihre Frage, begriff scheinbar nicht einmal, was mit ihm vorging, oder wollte es auch nicht wissen. Wortlos verließ er das Bad, setzte sich in die Küche und starrte vor sich hin. Sie konnte nur ahnen, wie groß seine Schmerzen sein mussten.
„Ich hole einen Arzt, du musst unbedingt zum Arzt, du brauchst Hilfe! Lass dir endlich helfen!“ beschwor sie ihn nicht zum ersten Mal. Ihn aber wirklich zu etwas zwingen zu wollen, hatte sie aufgegeben, seit er ihr damals ein Stück Zahn aus dem Mund geschlagen hatte.
„Mir geht es gut“, log er. „Hol ja keinen Arzt!“ Sein Blick erinnerte sie an den eines tödlich verwundeten Raubtiers, bereit, sie in letzter aufbäumender Kraft anzufallen. Fröstelnd wich sie vor ihm zurück.
Die Angst vor Jörg saß viel zu tief, als dass Lisa sich getraut hätte, ihm zu widersprechen, und im Grunde war ihr klar, dass es für jede Hilfe zu spät war. Sie putzte das Bad sauber so gut es ging. Dann musste sie raus, zur Arbeit, einfach weg. Es war wie eine Flucht. Doch ihre Gedanken kreisten ständig um Jörg und Marie und um ihr gemeinsames Leben, das völlig in Scherben lag. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu, krampfte ihr den Magen zusammen und ließ sie kaum atmen.
„Wie geht’s dir?“ ihr Chef streckte den Kopf zur Bürotüre herein.
„Jörg wird nicht mehr lange leben, ich weiß es. Er wird das Jahresende nicht mehr erleben“, platzte es aus ihr heraus.
„Mal den Teufel nicht an die Wand. Vielleicht lässt er sich ja endlich helfen. Du darfst nur nicht aufgeben. Und schau auch mal ein bisschen zu dir, du siehst schlecht aus.“ Sie hatte das alles schon zu oft gehört.
Als sie am Abend nach Hause kam, saßen Marie und Jörg auf dem Sofa. Während Marie fern sah, stierte Jörg nur vor sich hin ins Leere und schien weit weg zu sein.
„Was wollt ihr essen, soll ich Pizza aufbacken?“ fragte sie.
„Au fein, Mami!“ Marie fiel ihr um den Hals, und sie spürte, dass sich ihre Begeisterung mehr darauf bezog, dass sie endlich da war. Wie immer nahm sie alles hin, ohne zu jammern oder zu nörgeln, Hauptsache Jörg und Lisa stritten nicht schon wieder, Hauptsache es blieb ruhig, ohne Geschrei und ohne Handgreiflichkeiten. Mit flehendem Blick sah Marie Lisa an: Komm, wir spielen heile Welt, wie sonst auch. Bitte nicht streiten! Ihr Gesicht war gezeichnet von Angst, und der ständige Kampf, dieser Familie etwas Gleichgewicht zu geben, hatte auch sie gezeichnet. Jörgs Sucht hatte ihr einen Teil ihrer Kindheit geraubt. Wenigstens versuchte Jörg nicht mehr, sie gewaltsam von Lisa fern zu halten. Dazu fehlte ihm die Kraft.
„Willst du nicht essen?“ Jörg hatte seine Pizza kaum angerührt.
„Ich mag nichts essen.“ Seine Stimme war ungewöhnlich leise.
„Ich ruf jetzt einen Arzt an!“
„Ich will keinen Arzt!“ fuhr er sie an. „Hilf mir ins Bett!“
Lisa wollte ihn bei der Hand nehmen und ihn einfach nur führen, jeder körperliche Kontakt mit ihm war ihr längstens schon zuwider. Doch er stützte sich mit dem vollen Gewicht seines aufgedunsenen, schlaffen Körpers auf sie, und Lisa hatte alle Mühe, ihn die paar Meter ins Schlafzimmer und in sein Bett zu schleppen.
Von diesem Moment an war ihr ganzes Denken uns Handeln nur noch auf Notfall programmiert. Zuerst brachte sie Marie zu Bett. Obwohl es noch viel zu früh für sie war, kam keine Widerrede. Marie schlief sofort ein. Ihr Körper und ihr Geist waren ebenfalls auf die Situation eingestimmt und im Ausnahmezustand. Danach legte Lisa die Notarztnummer neben das Telefon und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Sie setzte sich zu Jörg ans Bett, er schien zu schlafen, doch unvermittelt öffnete er die Augen und sah mit leerem, unstetem Blick durch sie hindurch. Seine Hände zitterten und auf seiner Stirn stand kalter Schweiß. Er war sehr unruhig.
„Möchtest du etwas trinken?“ fragte Lisa, Jörg nickte hektisch.
„Ich habe Angst“, sagte er endlich und sah Lisa mit panisch aufgerissenen Augen flehend an. Für einen kurzen, flüchtigen Moment tat er ihr jetzt sogar Leid, doch sie hatte zu viel von der Hölle gesehen, als dass sie dieses Gefühl hätte halten können.
Schnell holte sie ein Glas Wasser in der Küche. Sie musste ihn beim Trinken stützen, er nahm nur einen Schluck, gab ihr das Glas zurück und legte sich wieder hin. Im nächsten Moment riss er plötzlich die Augen weit auf, fing an zu röcheln, bäumte sich auf und griff mit den Händen zuckend ins Leere.
„Jörg, was ist los?" schrie Lisa ihn an und rüttelte ihn an der Schulter, doch er war schon weit weg.
Sofort rannte sie zum Telefon und wählte die bereitgelegte Nummer. Wieder zurück im Schlafzimmer fand sie Jörg in der gleichen bizarren Körperhaltung wie zuvor. Doch er zitterte und röchelte nicht mehr. Und er atmete auch nicht mehr. Er war tot.
Sie konnte den Anblick seines toten Körpers nicht ertragen. Fluchtartig rannte ich aus der Wohnung, ließ alle Türen offen, rannte die Treppe hinunter, aus dem Haus und auf die Straße. In der Wohnung unter ihnen öffnete ihre Vermieterin die Tür und kam hinter Lisa her. Sie hatte den Lärm gehört. Lisas Gesicht schien ihr genug zu sagen, ohne ein Wort ging sie einfach hoch in die Wohnung, setzte sich neben Jörgs Bett und schloss ihm die Augen. Lisa hätte es nicht gekonnt.
Nach wenigen Minuten war der Notarzt da, gleich darauf kamen der Krankenwagen und auch ein Lebensrettungswagen. Sie hoben Jörg aus dem Bett und legten ihn auf den Boden. Dann leiteten sie unverzüglich die Wiederbelebung ein, Lisa sah fassungslos zu.
Innert weniger Minuten war die Wohnung voller Menschen: der Arzt, die Sanitäter, die Vermieterin, Nachbarn, Lisas Eltern, ihre Schwester, ihr Schwager und noch andere mehr. Den Eltern hatte sie angerufen, die anderen waren wie aus dem Nichts aufgetaucht. Lisa ging ruhelos umher und war kurz davor, alle anzuschreien, dass sie Jörg endlich in Frieden lassen sollten, dass sie diesen Wahnsinn endlich beenden sollten, also zog ihr Vater sie in die Küche und schloss die Tür.
„Sag ihnen, dass sie den Unsinn lassen sollen“, flehte Lisa. „Ich ertrage diese Hölle nicht mehr! Es soll endlich Schluss sein.“
„Sei still, sie müssen das tun“, war alles, was ihr Vater entgegnete.
Tatsächlich holten sie Jörg zurück. Lisa war völlig geschockt. Die Aussicht auf die Fortsetzung ihres bisherigen Lebens oder auf eine noch grauenvollere Variante davon mit Jörg als Pflegefall schnürte ihr die Kehle zu. Sie weigerte sich, mit ins Krankenhaus zu fahren. Ihre Schwester und ihr Schwager übernahmen das für sie.
Irgendjemand half Lisas Mutter, die gröbsten Spuren des Geschehens weg zu putzen, sie wusste nicht wer. Plötzlich waren alle anderen wieder im Nichts verschwunden. Lisa packte ein paar Sachen für die Nacht ein und weckte Marie. Anstandslos begleitete sie Lisa heim zu den Großeltern.
Wieder wartete Lisa, eine Stunde, zwei Stunden. Dann endlich kamen ihre Schwester und ihr Schwager zurück und brachten ihr die Gewissheit: Es war vorbei, Jörg war doch gestorben.
Das helle Tönen der Totenglocke und ein Zupfen an ihrem rechten Ärmel bringen Lisa wieder zurück ins Jetzt und in die Kirche. Sie hat den Gottesdienst an sich vorbeigleiten lassen, ohne wirklich beteiligt gewesen zu sein. Sie muss aufstehen und wieder richtig zu sich kommen.
Der Sarg wird aus der Kirche auf den Friedhof gerollt. Wie eine Marionette, an Fäden geführt, folge sie ihm. Langsam wird der Sarg hinabgelassen, sie steht da und sieht ihm nach. Ich hätte Jörg kremieren lassen sollen, er hatte immer Angst, versehentlich lebendig verbrannt zu werden, denkt sie und schämt sich gleich deswegen. Tränen steigen ihr in die Augen, endlich kann sie weinen, die Tränen laufen ihr die Wangen hinunter und vermischen sich mit dem Regen, den sie erst jetzt bemerkt.
Lisa wirft Rosen auf den Sarg und tritt beiseite, zu einem wirklichen Abschied ist sie nicht fähig. Sollen alle anderen das für sie erledigen. Die wenigsten wissen Bescheid und am Liebsten würde sie ihnen ins Gesicht schreien, wie leicht und frei sie sich jetzt fühlt. Langsam wird der Sarg mehr und mehr zugedeckt mit Blumen und Erde und noch mehr Erde. Endlich ist es vorbei.
Lisa verlässt den Friedhof und schließt das schwere, schmiedeeiserne Tor hinter sich. Sie fragt sich, ob sie je richtige Trauer empfinden würde. Die Erleichterung und die Aussicht auf ein neues, selbstbestimmtes Leben scheinen ihr Flügel wachsen zu lassen. Sie nimmt Marie bei der Hand und macht sich auf in ihre eigene neue Welt.

 

Hi Lieschen,
Deine Geschichte lässt mich einen kleinen Blick in die geheime Welt einer gescheiterten Ehe werfen. Das Leid und die Grausamkeit, die Lisa ertragen musste, scheint sie paralisiert in eine andere Realität gleiten zu lassen. Bleibt die Frage : Warum?
Warum hat ihr Mann getrunken? Warum lässt Lisa dies mit sich und ihrer Tochter geschehen? Warum darf oder kann sich Lisa anderen nicht mitteilen? Angst? Beschämtheit?
Leider passiert etwas Derartiges viel zu oft und meist schweigen die Betroffenen. :(
Du hast diese Problematik sehr gut eingefangen.
Die Gefühle, die Lisa empfindet und jene, die sie nicht empfinden will sind sehr gut beschrieben.
Hat mir sehr gut gefallen. :thumbsup:
Kleinkram:

Den Eltern hatte sie angerufen,
Die Eltern

Liebe Grüße, die Kürbiselfe Susie :)

 

Hallo Kürbiselfe

Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich freue mich, dass die Geschichte so bei Dir angekommen ist, vor allem, da es mein erster Versuch war.

Ja, die Fragen sind berechtigt: Warum lässt Lisa das mit sich geschehen? Warum hat ihr Mann getrunken? Auf beides gibt es viele verschiedene Antworten.

Denkbar wäre zum Beispiel:
Er hat es nie geschafft, ein verantwortungsvolles Leben zu führen, in dem er nicht nur nimmt, sondern auch gibt. Sein Vater hat ihm das schon vorgelebt. Und sie hat sich immer vorgemacht, dass er anders wäre als sein Vater.

Sie hat immer für den Lebensunterhalt gesort und den Haushalt versorgt und alles am Laufen gehalten. Ihn rauszuwerfen hat sie physisch schon nicht gepackt, sie wusste nicht, wie alles organisieren, weiter arbeiten gehen und ihn aus der Wohnung und von der Tochter fernhalten. Und sie hat sich geschämt, wirklich Hilfe zu holen und sich viel zu lange etwas vorgemacht.

So in etwa könnte es wohl gelaufen sein.

Viele Grüße,
Lieschen

 

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