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Endstation Herbst
Er traute sich endlich, das Licht anzumachen. Die Lampe flackerte grell auf und ließ ihn die Augen kurz zusammenkneifen. Wie jeden Abend wenn er nach Hause kam. Der ganze Weg bis nach Hause war dunkel- die Straße, die Treppenhäuser, selbst sein Auto. Mehrmals hatte er sich gefragt warum er an solchen Tagen nicht wenigstens in seinem Auto das Licht einschaltete, wenn er schon an dunklen Treppenhäusern so einen Gefallen fand; erst vor Kurzem wurde ihm klar, dass er die Dunkelheit brauchte. In der Dunkelheit konnte man sich vor sich selbst verstecken, das Licht deckte die Persönlichkeit auf, mit all ihren Bestandteilen, mit Schwächen und Stärken, mit Ängsten und Hoffnungen. Er brauchte die Dunkelheit und doch fehlte ihm das Tagelicht. Der Herbst war wahrhaftig ein Fluch! Er wusste, dass der Herbst an allem Schuld war- oder zumindest wollte er das glauben... Er warf seinen Blazer auf das Sofa, befreite sich von der Krawatte; dunkles Wohnzimmer, und nur das Licht aus der Diele zeigte die ganze Fläche des Raumes, sehr groß, eigentlich viel zu groß für ihn allein. Allein. Einsame Menschen hatten Katzen, und er wusste genau, dass er auch eine Katze hätte wenn er sich nicht sicher sein würde, dass das Tier bei seinem Tagesablauf kläglich verhungert wäre. Und er war nicht einsam. Er wusste genau, dass er nicht einsam war; täglich brauchten ihn Menschen. Brauchten. Er aber brauchte sie nicht. Jedenfalls nicht so wie er einen Menschen brauchen wollte.
Er ging ins Bad und sah in den Spiegel. Und wieder offenbarte ihm das Licht die Wahrheit. Erste Lachfältchen um die blauen Augen, ebenfalls einige um den Mund herum, der fahle Teint nach einem langen Arbeitstag. Müde- die ganze Erscheinung war müde. Er sah kurz weg, dann wieder in den Spiegel und strich sich durch das dunkelblonde Haar. Wann eigentlich hatte ihm eine Frau das letzte Mal gesagt, dass sie ihn attraktiv findet? Er wusste es nicht mehr und ebenfalls wusste er nicht ob er so eine Aussage jetzt noch glauben würde. Er glaubte kaum noch etwas- zu viele Erfahrungen hatte er mit Lügen. Die Fältchen bestätigten das. Er fragte sich, ob sie unbedingt sein mussten- er war doch erst Anfang dreißig! So schnell verging sie, die allmächtige Zeit, dämmerte ihm ein- wie lange ist das her, dass er als Student die Tage auf dem Campus verbrachte, ganz woanders. Die allmächtige Zeit... Und nun das hier!
Die Küche war eiskalt. Ihm fiel auf, dass ein Pullover auf dem Boden lag, und er lächelte wahrscheinlich zum ersten Mal an diesem Tag. Wenigstens das hatte sich seit seiner Jugend nicht verändert. Er zog sich den Pullover über und hatte das Gefühl, dass genau dies das wahre Glück war- die kleinen Dinge im Leben. Im nächsten Moment seufzte er: Das alles hatte wohl keinen Sinn. Er holte eine Flasche Wein aus einem der Küchenschränke, entkorkte sie, goss die dunkelrote Flüssigkeit in ein Glas und betrachtete sich in der Fensterscheibe. Was er sah, war ein großer junger Mann mit jetzt unordentlich aussehendem dunkelblonden Haar und blauen Augen, in einem grauen Rippenpullover. Dahinter war die Dunkelheit. Die unendliche Dunkelheit der Großstadt, durchwachsen von Tausenden von Lichtern. Eine Stadt, die er kannte und liebte. Nur nicht jetzt. An allem war der Herbst schuld!
Er strich sich übers Gesicht und stütze sich mit einer Hand am Fenster ab. Das Einzige, was er jetzt konnte, war nachdenken. Und er dachte nach, krampfhaft versuchend sich selbst auf die Schliche zu kommen. Hatte er nicht Erfolg? War er nicht beliebt? Gebraucht? Gesehen? Gesehen... Er dachte an diese Begegnung und wusste nicht, ob man das, was ihm widerfahren war, überhaupt so bezeichnen konnte. Es war eine Vision, ein Traum, eine nebelhafte Erinnerung, obwohl es erst heute Nachmittag passiert war. Sie stand am Fenster, und ihr rotes Haar glänzte in der herbstlichen Sonne. Zuerst konnte er nur ihr Profil erkennen und er erstarrte, um die Vision zu erhalten, denn schon damals war ihm klar, dass es nur eine Vision war. Ihr Gesicht war gegen die Sonne gerichtet, aber der Kopf etwas nach unten geneigt, als ob sie nachdenken würde. Sie war wie ein Lichtstrahl in der Welt des grauen Granits und schwarzer Kleidung, und er vergaß sofort wo er war. Sie hielt den linken Arm etwas in die Höhe, und er vermutete, dass sie eine Zigarette in der Hand hielt; aber im nächsten Augenblick drehte sie sich um, und er sah, dass es ein Plastikbecher aus dem Kaffeeautomat war. Von irgendwo her tauchte auf einmal eine Menschenmenge auf und überfüllte alles. Er machte einen Schritt zu ihr, als wollte er ihre zierliche Gestalt vor der bedrohlichen Flut beschützen, aber die Flut erfasste sie, riss sie mit und trug sie in den Saal. Die Tür ging zu, und sie war verschwunden. Und dann bezweifelte er, dass sie tatsächlich da war, und nicht nur seiner fast eingefrorenen Fantasie entsprungen. Und nur der Name am Aushang ließ ihn wissen, dass sie aus Fleisch und Blut war. Aber an den Namen konnte er sich nicht mehr erinnern, er war ihm entglitten wie sie selbst. Doch das hatte keine Bedeutung; sie war nicht real, eine Illusion, eine Fata Morgana, die wie ein Blitzschlag in sein Leben getreten war und ebenso blitzartig wieder verschwunden. Für immer.
Erneut seufzte er- warum kamen ihm auf einmal solche Gedanken? Was war jetzt anders als früher? Als schon immer? Wenn die letzten vier Jahre als `schon immer` zu bezeichnen waren... Er spürte, dass sein Leben so wie es war nicht mehr ausreichte. Es war wie ein Vitaminmangel, den man im Frühling bekam. Und im Herbst. In diesem verdammten, sadistischen, tristen Herbst! Plötzlich sah er hoch und blickte sich wieder im spiegelwirkenden Fenster an. Herbst. Ihr Name war Herbst, und er fragte sich wie er das hatte vergessen können. Herbst! So deutlich und klar wie die kühle Sonne, der frische Wind und die bunten Blätter... Er stellte sein Glas auf dem Fensterbrett ab und ging zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lag das metallisch glänzende Telefon. Und dann wurde ihm klar, dass sein Leben an einem Tiefpunkt angelangt war, aus dem kein Tageslicht allein heraushalf. Er sah das Telefon an als wollte er es hypnotisieren. Es antwortete nicht, und er nahm den Hörer in die Hand. Herbst. Einfach nur Herbst!..