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Es kann der Stillste nicht in Frieden leben ...

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03.08.2003
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Es kann der Stillste nicht in Frieden leben ...

Was hier los war? Das wissen Sie nicht? Aber Sie haben doch bestimmt die Polizei und den Krankenwagen gesehen. Nicht? Ach, Sie waren gestern nicht im Garten. Na, da haben Sie was verpasst, kann ich Ihnen sagen. Sie kennen doch sicher Herrn Franke, hat den Garten neben mir.
Gestern, da hat er die Taube abgeschossen!
Aber ein bisschen wunderlich war der schon immer. Grüßt keinen aus dem Gartenverein. Tut immer so, als ob er die Leute nicht sieht. Nur, um mit keinem reden zu müssen. Ein richtiger Kiesel! Total maulfaul, kann ich Ihnen sagen. Kein Wunder, dass sich seine Frau hat scheiden lassen, wenn er nie den Mund aufkriegt. Na, mit mir redet er ja ab und zu. Aber Sie kennen mich ja. Ich gehe immer auf die Leute zu und irgendwie muss man doch mit seinen Nachbarn auskommen. Ja, und außer mit mir redet er nur noch mit seinen Blumen. Wie ich schon sagte, der ist nicht normal, eben ein komischer Uhu! Wie? Warum das nicht normal sein sollte? Aber ich bitte Sie. Ist das normal für einen Mann, wenn er so mit seinen Gladiolen redet? Meine kleinen Lieblinge. So, als wären sie ... äh ... heilige Schafe für ihn.
„Na, meine Schönen“, sagt er im Vorbeigehen zu ihnen. „Wie geht’s euch heute.“
Und dann bleibt er stehen, neigt den Kopf, wartet und nickt andächtig. Ich schwöre Ihnen, ich glaube fast, er hat mich mit seinem Tick schon angesteckt. Manchmal, wenn er so vor seinen Blumen steht, da höre ich direkt, wie sie ihm antworten, mit piepsigen Stimmchen:
„Danke der Nachfrage. Wir haben Durst. Und die Bienen kitzeln uns.“
Hi, hi. Ist das nicht verrückt. Und es kommt noch schlimmer, glauben Sie‘s oder glauben Sie‘s nicht. Er stellt sogar extra seinen Recorder vor das Beet und beschallt die Blumen mit klassischer Musik. Ja, ja. Ich sag‘s ja. Ist das nicht zum Spießen! Neulich hab ich ihn mal darauf angesprochen. Und da hat er mir so eine spinnerte Theorie aufgetischt. Er fing regelrecht an zu ... wie heißt das Wort gleich ... pol ... polemi ... polymerisieren, jetzt hab ich‘s! Blumen bräuchten zum Gedeihen eine harmonische Atmosphäre und jeder Missklang wirft sie in ihrer Entwicklung zurück, macht sie schwach und anfällig für Blattläuse und anderes Ungeziefer usw.
Ja, und hier kommt Herr Niemöller mit seiner Kreissäge ins Spiel.
Also die ... ja, Niemöller hat den Garten schräg gegenüber ... also die Kreissäge von Niemöller war Franke schon immer ein Dorn im Fuß. Warum? Na, wenn etwas Missklänge erzeugt, dann doch wohl eine Kreissäge, oder? Na, bisher hatte Niemöller die Säge nur ab und zu benutzt, und immer an Wochentagen, nie am Wochenende, da konnte Franke ja nichts sagen.
Aber gestern! Niemöller baut nämlich eine Pergola, wissen Sie. Und da hat er im Eifer des Geschlechts wohl etwas übertrieben und gestern – an einem Sonntag – den ganzen Vormittag gesägt. Sie kennen ja das Geräusch, schlimmer als beim Zahnarzt. Also, ich sage Ihnen, man konnte direkt sehen, wie es in Franke gebrodelt hat wie in einem Hexentopf. Hin und her ist er im Garten getigert, wie ein Wolf in seinem Käfig.
Ja und dann hat er‘s nicht mehr ausgehalten und ist rüber zu Niemöllers Garten. Ich stand zufällig am Weg und hab alles genau mitbekommen. Er also rüber und baut sich vor dem Tor auf. Niemöller mit Trainingshose, Turnhemd und Bauch steht vor seiner Kreissäge und tut so, als ob er Franke nicht sieht. Kein Wunder, den kann ja keiner leiden. Dann ruft Franke:
„He, Sie!“
Niemöller schaltet die Säge ab. Franke kommt mit seinem Spruch vonwegen Wochenende, und dass Kreissägen am Sonntag verboten sind, alles in der Gemeindeeordnung nachzulesen usw. Und wissen Sie, was Niemöller geantwortet hat?
„Sie können mich ja anzeigen“, hat er gesagt.
Ja, ja. Wirklich! Bei jedem anderen hätte Niemöller sicher ein Einsehen gehabt, aber nicht bei Franke. Hat seine Kreissäge wieder angemacht. Ich konnte sehen, wie Franke ganz blass geworden ist. Eine Weile hat er noch dagestanden, als ob er es nicht fassen kann.
Also eigentlich hat er mir ja leid getan, wie er da so stand. Seine Schrulligkeit tut ja keinem weh. Redet eben nur nicht gern. Aber Sie wissen ja, es kann der Stillste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
Ja, und irgendwie ging dann ein Ruck durch ihn hindurch. Er hat sich rumgedreht und ist wieder in seinen Garten marschiert. Ich hab gesehen, wie er in seinem Geräteschuppen verschwunden ist, dann hörte ich, wie er da rumorte. Nach einer Weile kam er wieder raus, und was glauben Sie, was er in der Hand hatte? Eine Axt! Ja, Sie haben richtig gehört, eine Axt. Dann ist er wieder rüber zu Niemöllers Garten. Aber diesmal ist er fast gerannt, mit knallrotem Gesicht.
„Herr Franke“, hab ich noch gerufen, „tun Sie nichts Unüberlegtes“, aber er hat mich überhaupt nicht gehört.
Hat das Tor zu Niemöllers Garten aufgerissen und die Grundstücksgrenze überschritten wie Alexander den Rubikon. Es ging alles so schnell, ich glaube, Niemöller wusste gar nicht, wie ihm geschah. Wie? Hoffentlich ist er nicht schwer verletzt? Wieso? Ach wegen dem Krankenwagen. Niemöller? Aber hören Sie doch erst mal zu Ende. Niemöller sägt also so vor sich hin, kriegt gar nichts mit und plötzlich – Ruhe. Direkt unheimlich die Stille. Franke hatte nämlich das Stromkabel durchgehauen als wär es der gotische Knoten. Und dann sagt er in die Stille hinein zu Niemöller:
„So, und jetzt können Sie mich anzeigen.“
Das Gesicht von Niemöller hätten Sie sehen sollen.
Aber wieso der Krankenwagen, wollen Sie wissen? Ganz einfach. Als das passiert ist, da kam plötzlich Niemöllers Frau, wie aus dem Nichts war sie auf einmal da. Und die kann Karate. Wie eine Vendetta hat die sich auf Franke gestürzt. Als die mit dem fertig war, lag er da auf dem Rasen und brüllte immer nur:
„Mein Arm, mein Arm!“
Krause hat dann den Krankenwagen gerufen.
Heute hab ich gehört, dass Franke mehrere angeknackste Rippen, einen gebrochenen Arm und eine Gehirnerschütterung haben soll.
Na, und jetzt hab ich Frankes Blumen am Hals. Total verwöhnt, die kleinen Biester, kann ich Ihnen sagen. Schreien immerzu nach Wasser. Und dauernd wollen sie, dass ich ihnen was vorsinge.

 

hallo sturek,
auch ich fand deine gescichte gelungen...witzig, ironisch,einfach gut:-)
und wer kennt solche nachbarn nicht?!
*lob*

liebe grüße
frotte

 

Hallo ihr beiden und Danke für euer positives Feedback. :)

Ja, hier sind tatsächlich eigene Beobachtungen eingeflossen. Und ich habe eine Arbeitskollegin, die haargenau so redet wie die Erzählstimme.
Bin immer versucht, da ein Diktiergerät hin zu halten. :D

@ Joh_oder_so:
Alle Fehler in diesem Text sind beabsichtigt. ;) Damit bin ich doch fein raus, oder?

Viele Grüße von Sturek

 

Moin Sturek,

Ja, hat mir gut gefallen. Ich mag Geschichten, die sich mit der Spiessigkeit auseinandersetzen und diese karikieren (schreibe ich selbst auch oft). Deine ist gut geschrieben, pointiert und hat mich daher echt gut unterhalten.
Nicht so gefallen hat mir die direkte Anrede des Lesers am Anfang. Okay, der Ich-Erzähler ist wichtig (und ansonsten auch gut getroffen), aber am Anfang wars für meinen Geschmack ein wenig zu übertrieben. Liegt sicher daran, daß ich sowas generell nicht mag.

Aber ansonsten hats mir wie gesagt gefallen.

 

Hallo gbwolf und Gnoebel,

Danke für euer Feedback.

@ gbwolf:
Ja, mit der Sonntags-ZDF-Expedition hast du sicher recht. Womit bewiesen wäre, dass Fernsehen bildet. :)

@ gnoebel:
Von mir war der Anfang so gedacht, dass der Erzähler den Leser nicht direkt anspricht, sondern sich an einen Zuhörer wendet, sozusagen ein Gespräch über den Gartenzaun. Der Leser schlüpft in die Rolle dieses Zuhörers. Das ist sicher gewöhnungsbedürftig und nicht jedermanns Geschmack.
Freut mich, dass es dir trotzdem gefallen hat.

Viele Grüße von Sturek

 

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