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Examen des Grauens (edited version)

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03.11.2003
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Examen des Grauens (edited version)

Die Atmosphäre war gespannt. Studenten strömten unentwegt in den großen Hörsaal herein und nahmen Platz. Die Reihen füllten sich langsam. Das Stimmengewirr wurde mit jedem neuen Studienkollegen, der hereinkam, intensiver. Ich spürte richtiggehend die Anspannung, die in der Luft lag. Es war Klausurzeit. Ich saß bereits seit zwanzig Minuten im Auditorium und hatte es mir in der vierten Reihe bequem gemacht. Ich setze mich stets in die vierte Reihe. Von dort kann ich auf ihn herabschauen, das gefällt mir, und außerdem bleibe ich somit von den wachsamen Blicken der Assistenten verschont, die sich mit Vorliebe im hinteren Teil des Hörsaals postieren. Das ideale Arbeitsklima, um unbemerkt mit Hilfe verschiedener Utensilien und Gedächtnisstützen die Klausur zu meistern.

Leises "Scheiße, das habe ich jetzt gar nicht gelernt!"-Gemurmle begleiteten den Professor mit seinem Troß an Assistenten, alle mit einer Schachtel Klausurbögen unterm Arm, bei der Türe herein. Man schloß sie und von nun an gab es kein Entkommen mehr.

"Kollegen und Kolleginnen, ich darf Sie recht herzlich zu unserem kleinen Quiz begrüßen, der über Ihre Zukunft an unserer Institution und somit auch über ihr weiteres Leben entscheiden wird, begrüßen. Die Klausur habe ich ganz nach meinem Geschmack vorbereitet. Hart und ungerecht." Ein entsetztes kollegiales Raunen setzte unter den Studenten ein; der Professor quittierte dies mit einem süffisantem Lächeln. Um dem noch eins draufzusetzen, fuhr er fort " Ich möchte sie nicht unnötig beunruhigen, aber als ich gestern die Klausur vorbereitet habe, verließ mich meine Frau in Begleitung der Kinder in Richtung ihrer Eltern. Sie werden das besonders bei den Multiple-Choice Fragen bemerken. Der Teil mit den offenen Fragen, entstammt der Zeit vor dem ehelichen Streit." Das kollegiale Raunen wiederholte sich.
"Werte Kollegen, für alle, die ich jetzt nicht vollkommen demoralisieren konnte und die noch immer den Zwang verspüren diese Klausur mitschreiben zu wollen, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß Sie im Rahmen dieser Prüfung nun acht Blätter erhalten werden." An die Assistenten gewandt: "Bitte, teilen sie jetzt die Bögen aus.", und fuhr mit seinem niederschmetternden Prolog fort: "Auf den Seiten zwei und drei finden sie die offenen Fragen, die Ihnen keine allzu großen Problem bereiten sollten. Auf den darauffolgenden Blättern finden sie die berüchtigten Multiple-Choice Fragen. Auf das Anfangsblatt, das ihr Lösungsblatt ist, bitte ich sie, in der Tabelle Ihre Kreuze mit den womöglich richtigen Antwortalternativen zu übertragen. Ach ja, bevor ich es vergesse, bedenken Sie, daß Schummeln zwecklos ist. Erstens gibt es verschiedene Klausurgruppen, Gruppe A,B,C und D, und zweitens dürfen Sie nicht vergessen.....ich sehe alles." Hämisch grinsend ließ er sich auf seinen Stuhl nieder, und überließ uns verzweifelten Studenten unserem Schicksal. Viele griffen gierig nach den Fragebögen, die die Assistenten austeilten, um dann, nach kurzem Überblicken der Fragen, resignierend vornüber zu kippen und mit dem Kopf auf dem Tisch aufzuschlagen. Ein Kollege stand, kaum waren die Klausurbögen ausgeteilt, zwei Reihen vor mir, mit käseweißem Gesicht auf, packte seine sieben Schummelzettel ein und gab dem verdutzten Assistenten, der dabei war, nach abgeschlossenem Austeilen, wieder zum Rednertisch hinunterzugehen, seine Klausur in die Hand, und verschwand laut fluchend aus dem Auditorium. Der Professor, dem diese Situation nicht entgangen ist, wollte dies nicht unkommentiert lassen, und rief laut aus: "Eine Klausur weniger zu kontrollieren." Müdes Gelächter unter meinen Leidesgenossen.

Wie auf Befehl setzten sich in etwa dreihundert Stifte gleichzeitig in Bewegung und vereinten sich zu einem homogenen Kratzgeräusch. Auch ich nahm meinen Glückskugelschreiber in die Hand, und schloß mich dem Chor an. Die Minuten vergingen wie im Fluge, und ich versuchte mein in den letzten 10 Stunden angestautes Wissen zu Blatt zu bringen. Die offenen Fragen stellten für mich keine allzu große Herausforderung dar, aber das war mir nach den Worten des Professors auch klar, daß der verzwickte Teil des Examen erst in Gestalt der Multiple-Choice-Fragen auf mich wartete.

Plötzlich vernahm ich von meiner rechten Seite ein kurzes "Ach, scheiß drauf.". Ich blickte rüber, und sah wie mein unmittelbarer Sitznachbar im Begriff war auf ganz paradoxe Mittel zurückzugreifen, denn nachdem er bereits seit 10 Minuten, immer wieder kopfschüttelnd, die Multiple-Choice Fragen durchforstet hat, wollte er wohl nicht länger auf eine göttliche Eingebung warten und zauberte kurzerhand einen Würfel aus seiner Hosentasche, und fing zu würfeln an. Nach dem ersten Wurf, eine Drei, sagte er leise zu sich :"Mmmmh, könnte sogar stimmen!", und kreuzte ohne viel Nachzudenken die dritte Antwortalternative an. Seine Nerven möchte ich haben, und wand mich wieder meinem Bogen zu. Da hörte ich eine weibliche Stimme hinter mir, die zu ihrem Nachbar sagte:
"Psst...was hast Du bei der zweiten Frage angekreuzt?"
Ein entnervtes "Psch!" war die Folge.
"Bitte...Frage zwei!."
"Ich weiß es nicht."

Kurze Stille. Dann wieder ihre Stimme.

"Hey, was hast Du bei Frage zwei?"
Diesmal vernahm ich eine andere Stimme. Mußte ihr anderer Sitznachbar sein.
"Nicht dasselbe wie Du. Wir haben verschiedene Gruppen."
"Scheiße."

Ich wußte schon, was jetzt kommen würde, und stellte mich bereits mental darauf ein. Schon spürte ich ihren Atem an mein Ohr dringen, und mit hauchender Stimme flüsterte sie mir zu: "Hey, was hast Du bei Frage zwei?" Ich antwortete rasch: "Kreuz B an!" Ein gehauchtes "Merci" war ihr Dankeschön. Ich bin doch gerne hilfsbereit, auch wenn ich gar nicht wußte, worum es in der Frage überhaupt ging.

Nach meiner kleinen Gehässigkeit widmete ich mich wieder meinem Bogen zu, und ging die erste Kreuzerl - Frage durch. Immer wieder ging ich die Frage durch und untersuchte die Antwortalternativen, welche am ehesten in Betracht zu ziehen wäre. Erst nach circa fünf Minuten setzte ich mit zittriger Hand und unter dem ständigen Geflüsters meiner inneren Stimme, die mir andauernd rief "Tu das nicht!", mein erstes Kreuz auf das Blatt Aber anscheinend war ich nicht der einzige mit Problemen, denn von meiner rechten Seite hörte ich ein "Hmm, warum nicht?". Mein Sitznachbar hat sich mittlerweile vollkommen aufgegeben und überließ sich bedingungslos dem Schicksal des Würfels.

Ganz vorne in der ersten Sitzreihe kam Bewegung in die Reihe sitzender Studenten. Ein Mittzwanziger, schön geschniegelt mit feinem Anzug und zurückgegelten Haaren, ist in der Zwischenzeit aufgestanden, und drängt sich an seinen Kollegen, die etwas widerwillig aufstanden, vorbei. Wohl denkend, wieso der Anzugmann ausgerechnet in der Mitte hinsetzen mußte, wohlwissend, daß er die Klausur als erster abgeben wird - das Käse-weiß-Gesicht, das ganz am Anfang bereits das Handtuch geworfen und abgegeben hat, zähle ich aus verständlichen Gründen nicht mit. Nach ein paar mürrischen Grunzlauten der anderen, trat der Streber mit seinem Dr.Best-Lächeln zum Professor vor und drückte ihm, bewußt, daß er wieder eine hervorragende Arbeit geschrieben hat, seine Arbeit in dessen Hand. Der Anzugtyp ist mir schon in den Vorlesungen negativ aufgefallen. Dauernd seine Wortmeldungen und Fragen an den Professor, deren einziger Zweck nur sein konnte, seine Überlegenheit gegenüber mir und den anderen Durchschnittsstudenten hervorzustreichen. Irgendwie beneidete ich ihn.

Aber jetzt mußte ich mich wieder auf meinen Klausurbogen konzentrieren, zu viel Zeit ist schon vergangen. Um mich von nichts mehr ablenken zu lassen, brachte ich das Mädchen mit der schön hauchenden Stimme hinter mir, die mich seit der ersten Antwort, nun unentwegt nach den Lösungen fragte, zum Schweigen, indem ich auf ihre Frage, welche Alternative bei der achten Frage stimme, ihr lapidar antwortete "J!" Ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten:
"Was?"
"Antwort J!"
"J gibt es doch gar nicht!"
Ich konnte direkt hören, wie sie anfing sich an ihrem Kopf zu kratzen, nach einer Weile des nachdenklichen Kratzens entkam ihren Lippen ein gehauchtes "Scheiße"; von da an ließ sie mich mit ihrer Fragerei in Ruhe.

Meinem Nachbarn setzte die Klausur mehr als erwartet zu. Jetzt fing der Kerl nämlich schon an, seinem Würfel nach jedem Wurf beizupflichten "Ja, Du hast Recht." Langsam aber sicher machte ich mir Sorgen um ihn.

Es half nichts, ich musste wieder weitertun. Wie lange hatte ich denn noch Zeit? Anscheinend hatte ich laut gedacht, denn mit einem Ruck hat sich der Professor erhoben und ließ verlauten, daß wir nur noch 10 Minuten Zeit hätten und langsam ans Aufhören denken sollten. Augenblicklich ging mir durch den Kopf "Schluß machen? Ich habe doch erst gerade begonnen." Langsam kam Unruhe in den Hörsaal. Immer mehr Studenten standen auf und gaben ihre Arbeit ab. Mit zunehmender Höhe des Stoßes mit den abgegebenen Klausurbögen auf dem Tisch des Professors wurden die Sitzreihen immer lichter. Ich mußte mich beeilen, noch hatte ich gut ein Drittel der Multiple-Choice-Fragen vor mir.

"Herr Kollege in der vierten Reihe und eine Reihe davor, Frau Kollegin und Herr Kollege, bitte geben sie jetzt ihre Blätter ab!"

Wie? Was? Wann? Wo? Ganz unbemerkt hat sich der Saal bis zur Gänze geleert. Ich hatte mich schon gewundert, wieso ich die Durchhalteparolen meines würfelnden Sitznachbars nicht mehr im Ohr hatte. Übrig waren nur noch der sadistische Professor, eine Kollegin eine Reihe vor mir, die mit einem Heulkrampf zu kämpfen hatte, gleich daneben ein Bursche, der passend zur BWL-Klausur ein rotes T-Shirt mit dem Rückenaufdruck "Nieder mit dem Kapitalismus" trug, und natürlich meine Wenigkeit. Der Pseudo-Kommunist vor mir sagte laut zu sich "Das Glück hilft dem Mutigen", und setzte auf seinem Antwortblatt wahllos die restlichen Kreuze hin. Und ich war noch immer nicht fertig, drei knifflige Fragen hatte ich noch vor mir. Mittlerweile ist der Gegner der freien Marktwirtschaft aufgestanden und hat mit den Worten "Für mich zählt nur der olympische Gedanke!" dem lächelnden Professor seine Klausur gegeben.

Die Kollegin vor mir heulte noch immer, und nachdem der Lehrkörper verkündete, daß für uns die Galgenfrist verstrichen ist und er keine Klausuren mehr annehmen wird, löste sie sich vollkommen auf. Ich mußte, als ich nach vorne zum Professor sprintete und an meine Mitstreiterin vorbeikam, an ein zusammengebrochenen Staudamm, der nicht mehr länger den Wassermassen Standhalten konnte, denken. Hatte aber jetzt keine Zeit mich mit diesem Gedanken weiter auseinanderzusetzen. Ich rief im Laufen noch dem Vorstand zu: "Warten Sie bitte. Sie haben meine Klausur noch nicht!" Er unterbrach das Zusammenschichten der abgesammelten Klausurbögen und schaute auf.
"Das tut mir sehr leid, Herr Kollege, aber ich nehme keine weiteren Klausuren an."
Ich beließ es nicht dabei, und versuchte es noch einmal:
"Kommen Sie, ausnahmsweise."
Aha, ich habe es anscheinend geschafft, er fing nämlich zum Überlegen an, aber Pustekuche, er antwortete bloß: "Nö, Herr Kollege, Zu spät ist zu spät."
Ich war verloren. Diese Klausur war für mich lebenswichtig. Ich brauchte unbedingt diese Note, koste es was es wolle. Kurz spielte ich sogar mit dem Gedanken, meine Kontonummer noch auf meinen Klausurbogen mit den Worten "Nehmen Sie, was Ihnen was zusteht." Hinaufzukritzeln, aber ich verwarf den Gedanken sofort. Ich mußte es auf die Mitleidstour versuchen.
"Herr Professor, wieso nicht?"
"Sehr geehrter Herr Kollege, Regeln sind dazu da, um sich auch daran zu halten. Sie haben sich ganz simpel, nicht an das gegebene Zeitlimit gehalten. Sie sollten ihr Zeitmanagement verbessern. Sie müssen also verstehen, dass ich nicht einfach bei irgendeinem dahergelaufenen Studenten eine Ausnahme machen kann." "Dahergelaufen? Soll das etwa heißen, Sie kennen mich gar nicht, obwohl ich in der Vorlesung seit Monaten Ihnen, quasi im Blickkontakt, gegenübersitze?" Seine lapidare Antwort ließ nicht lange auf sich warten: "Genau, das soll es heißen, sehr geehrter Herr Kollege."

Darauf habe ich nur gewartet, und schob, mit den Worten "Vielleicht wäre es besser, wenn Sie sich mal die Namen der Studenten merken würden.", meine Klausur zwischen die anderen Klausuren und verschwand, so schnell wie nur möglich, aus dem Auditorium.

 

Moin Stille Feder,

Ja, besser. Ich hab ja damals auch die alte Version kommentiert und fand sie schon lustig, aber die Überarbeitung hat dem Ganzen noch mal sehr gut getan.

Seltsamerweise hat mir die Rede des Professors, die ich in der ersten Version noch kritisiert habe, jetzt sehr gut gefallen - liegt vielleicht daran, daß ich inzwischen auch wieder ein paar Klausuren geschrieben und Professoren kennengelernt habe ;)
Ansonsten hat sich nichts an meiner Meinung geändert - lustig bleibt lustig.

Kleinigkeit:

Ich, irgendein dahergelaufener Student? Soll das heißen, er weiß gar nicht, wer ich bin, obwohl ich das ganze Jahr über in der ersten Reihe, direkt vor seinen Augen saß. Kann er sich gar nicht mehr an meine geistreichen Wortmeldungen erinnern? Er kennt mich nicht. Er kennt mich nicht?
Diese Sequenz würde ich ersatzlos streichen, da sie den Text sehr in die Länge zieht. Vorschlag:
Sie müssen also verstehen, daß ich nicht einfach bei irgendeinem dahergelaufenen Studenten eine Ausnahme machen kann."
"Dahergelaufen? Soll das etwa heißen, Sie kennen mich gar nicht, obwohl ich in der Vorlesung seit Monaten Ihnen, quasi im Blickkontakt, gegenübersitze?"

 

Grüß Euch,

Zunächst einmal ein großes Dankeschön fürs Lesen.

@Gnoebel:

Dein Kommentar war sehr aufbauend, genau das, was ich nach dem Lesen von Filecheckers Zeilen dringend gebraucht habe. Dein Änderungsvorschlag fürs Ende hat mir sehr gut gefallen. Ich habe diese Passage bereits geändert und deinen Vorschlag umgesetzt. Danke.

@Filechecker:

Ich bin Dir sehr dankbar, dass Du Dich derart kritisch mit meinem Text beschäftigt hast und mir meine Fehler aufgezeigt hast. So weiß ich zumindest, wo meine Schwachpunkte sind.

Deine Verbesserungsvorschläge habe ich größtenteils übernommen. Mit einigen habe ich mich aber nicht anfreunden können.

Leises "Scheiße, das habe ich jetzt gar nicht gelernt!"-Gemurmle begleiteten ..... Den Übergang zum nächsten Satz finde ich auch icht gelungen: "Man ..... "

Mir ist nicht ganz klar, was Du mit dem "Man-Übergang" meinst, da ich den nächsten Satz gar nicht mit "Man" eingeleitet habe.

verließ mich meine Frau in Begleitung der Kinder in Richtung ihrer Eltern.
Warum nicht einfach: .....verließ mich gerade meine Frau. Mit den Kindern fuhr sie zu ihren Eltern.

Ich finde meine Formulierung besser, da sie eher der Ausrducksweise des Professors entspricht, der nichts mehr liebt als in verschachtelten Sätze, vollgepackt mit viersilbrigen Worten zu reden. Ich habe daher diesen Änderungsvorschlag ignoriert.

Danke für deine harte, aber konstruktiv-kritische Wortspende. Ich werde versuchen mich zu bessern.

mfg stille Feder

 

Hallo, Stille Feder!

Ich fand die Geschichte gar nicht schlecht!
Der liebe Professor hat mich an eine meiner Lehrerinnen erinnert und wenn ich auch sonst nicht gut auf sie zu sprechen bin, konnte ich mich so gut in die armen Prüflinge hineinversetzen ;)

Teilweise war der Text fast etwas lang und im Punkt Multiple-Choice-Fragen hätte ich - wie filechecker - vielleicht auch gerne eine gelesen.
Aber auch so ist es eine schöne Geschichte, die ich gerne gelesen habe :)

Gruß,
Nanine

 

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