Frühlings Erwachen
Im Garten sind die Birnbäume schon fast grün. Mir ist, als wäre der vergangene Winter gar nicht die trostlose Jahreszeit gewesen. Das heißt nicht, dass ich den Winter angenehm empfunden hätte. Aber er schien mir so belanglos, ohne besondere Eindrücke, genau wie davor der Herbst und vor dem der Sommer irgendwie grau und belanglos waren, nur unterbrochen von unwirklich anmutenden Ereignissen des Kampfes und von kurzen Begegnungen, welche den Alltag veränderten für Momente der Erregung und selten sich ausbreitendem Licht und Wärme.
Nun macht sich Unruhe breit in mir, während ich zweifelnd die Birnbäume betrachte. War die Zeit hinter mir wirklich so leer? War der Sommer nicht in Wahrheit glühend heiß, der Herbst angenehm lau und der Winter kalt und grau und leblos?
Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder –
den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter.
Der Frühling bringt Blumen, der Sommer den Klee,
der Herbst, der bringt Regen, der Winter den Schnee.
Aber wenn alles still ineinander übergeht - ? Wenn in meiner Erinnerung nur Rauschen ist? Vielleicht liegt es nur an mir? Vielleicht, weil ich das ganze Jahr die gleichen vielschichtigen Klamotten auf mir herumtrage.
Und gestern? Ich sah im Garten das erste Tagpfauenauge auf einem Beet. Ich hockte mich ins Gras, um den Falter genau betrachten zu können. Zum ersten mal sah ich, dass Schmetterlinge eine Art Rüssel haben. Mit diesem erstaunlich langen Körperteil untersuchte er intensiv seine Umgebung. Mit einem winzigen Zweig berührte ich den Rüssel mehrmals. Der Falter erschrak bei der ersten Berührung, reagierte aber auf die folgenden mit lebhaftem Abtasten des Zweiges mit Hilfe des Rüssels. Erst als ich mich nach einer Weile erhob, flog er aufgeschreckt fort.
Es war ein sehr schöner Schmetterling, der offenbar in seinem Winterversteck keinen Schaden an seinem zarten Körper genommen hatte.
Als ich später auf die Straße trete, werde ich von der berauschenden Frühlingsluft in ein trunkenes Gefühl versetzt. Diese Luft, warm, klar und voll verlockender Düfte nach brechenden Knospen und ersten Blüten, und der Anblick vieler sich in die Sonne reckender Menschengesichter brechen plötzlich in meinen Kopf ein.
Eine innere Regung bezichtigt mich, selbst Schuld zu tragen an der Tatsache, diese Genüsse so lange nicht wahrgenommen zu haben. Aber bis vor wenigen Tagen war Winter – kalt, dunkel und scheinbar ohne Gelegenheiten, irgendwo im Draußen Freude zu finden.
Mein Körper buchstabiert das Wort F-r-ü-h-l-i-n-g-s-g-e-f-ü-h-l-e. Sperren werden gleichzeitig von unsichtbaren Kräften durch Kopf und Brust und von Lende zu Lende geschoben. Ein Gesicht erscheint ernst und liebevoll vor meinen inneren Augen. Die aufkeimende Lebenslust will schlangenhaft an ihm vorbeischleichen, ihr ist nach Frühlingsgesängen, nach Turteln – und sie ist mit einer tierischen Paarungsbereitschaft gefüllt.
Ein Stöhnen klingt in meinem Kopf, glockendumpfe Moral. Mehr noch, Verständnis. Für mich selbst und für das Gesicht.
Ich wünsche mir den Winter zurück. Kalt und schneefeucht. Und die Sehnsucht,
abends unter IHREN Pullover zu kriechen.