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Frau Helenes Papierkopf (oder ihr einziges Gedicht)

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30.12.2001
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Frau Helenes Papierkopf (oder ihr einziges Gedicht)

Helene steigt die Treppe hinunter, in ihrer Hand hält sie ein Stück Papier. Das Licht im Hausflur macht sie nicht an, sie kennt sich hier aus, wie auswändig gelernt. Vor Adolf Schwalfenbergs Tür bleibt sie stehen und lauscht und hört nichts. Ihr nackter Fuß tastet nach den Schuhen. Sie passen ihr nicht, aber sie hebt sie auf und riecht an ihnen, wie jede Nacht.
Die Tür geht auf, Schwalfenberg steht im Dunkeln vor ihr. Er atmet hörbar, sie sagt, rote Milch, und lässt die Schuhe vor seine Füße fallen. Gehen Sie schlafen, Frau Helene, sagt Schwalfenberg. Helene geht an ihm vorbei, sie zählt die Schritte bis zur Küche und setzt sich auf einen Stuhl. Schwalfenberg folgt ihr und knipst das Licht an. Sie schreien, sagt sie und wackelt mit dem Kopf. Sie sind tot, sagt Schwalfenberg müde, schon lange. Butterblumen sind rot, antwortet sie und steht auf. Ich weiß, sagt der Alte leise und schiebt Helene zur Tür hinaus.

Helene ist noch nicht fertig, sie setzt ihren Abgang fort. Das Licht im Hausflur lässt sie aus und bleibt vor einer anderen Türe stehen. Ihr Fuß tastet, findet die Schuhe. Mit dem Papier in der Hand beugt sie sich hinunter und steckt es in den rechten Schuh. Sie drückt es bis in die Spitzen. Beruhigt wackelt sie mit dem Kopf und lehnt sich an den Türrahmen. Hier schnalzt sie mit der Zunge. Sie schnalzt, bis ihr der Mund trocken wird. Dann sagt sie den Stimmen heiser, die Milch schreit, wie jede Nacht. Schließlich hält sie sich die Ohren zu und stößt sich vom Holzrahmen ab. Bevor sie weiter geht, geht sie in die Knie, fummelt den Zettel aus dem Schuh und riecht an ihm. Lange bleibt sie so stehen.

Dann steigt sie hinunter in das Erdgeschoss und lauscht vor Frau Meyers Tür. Nichts, wie jede Nacht. Ihr Fuß tastet, findet einen Karton, sie stutzt und ihr Kopf hört auf zu wackeln. Nichts. Ihr Fuß tastet wie irrsinnig umher. Keine Schuhe. Helene jammert, bis die Tür vor ihr aufgeht. Das Licht aus der Wohnung strahlt sie an und ist neu.

Frau Meyer steht nicht vor ihr. Nicht Frau Meyer. Jemand schreit sie an und sie schreit zurück.

***

Immer noch krampft sich Helenes Hand um das Papier. Der Arzt gibt nicht auf, er wendet Gewalt an. Schwalfenberg steht neben ihm und schüttelt den Kopf. Vorsichtig nimmt er Helenes Hand, streichelt über die Pergamenthaut und nimmt den Zettel an sich. Er geht die Stufen hinauf.
In seiner Wohnung angekommen, setzt er sich in die Küche und faltet das Papier auseinander.

Schreie Milch
auf diesem Feld
rote Milch
färbt Butterblumen
Milch
wie Stahl
im Körper
Milch schreit
schieß endlich.

Die Kühe sind tot, schon lange, murmelt er vor sich hin.

 

Wunderbare Sprache. Großartige Geschichte. Surreal befremdlich, wie ein Gedicht von Poe wohl klingen würde, das in unsere Zeit und Sprache übertragen wurde. Immer weiter so!!!

 

Wäre sicher für einige Leser interessant, die metaphorische Bedeutung des Textes erklärt zu bekommen. Ich könnte mir vorstellen, dass die meisten nicht dahinter kommen.

Ich jedenfalls nicht.

 

Frau Helenes Paperkorb

Hi Alessandra,

tja, ich denke, hier geht es um eine alte verwirrte Frau, die ihre toten Kühe nicht vergessen kann.
Die schreiende Milch: Kühe wollen gemolken werden.
Die rote Milch: Das Blut der Kühe, als sie erschossen wurden.

Nur mit dem schnüffeln an den Schuhen komme ich nicht ganz klar.
Erkennt sie daran die Bewohner im Haus? Oder was? :hmm:
Oder erinnert der Geruch sie an etwas?

Von der Sprache her nicht schlecht.
Würde mich interessieren, was du mit deiner KG aussagen wolltest. :shy:

Lieben Gruß, coleratio

 

@ S.Cooley, Uwe Post, coleratio

Erstmal danke für euer feedback.

@ coleratio
So falsch liegst du nicht.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich im Text genügend Hinweise eingebaut habe. Aber wahrscheinlich nicht, oder?

Auf der einen Seite stehen:

Adolf Schwalfenberg
Helene
Schreie
Feld
rot
Milch
Stahl
schieß

Es geht um Kriegserlebnisse.
Auf der anderen Seite stehen Helenes Handlungen, die immer wieder kehren.
Das Erlebnis, das Helene vielleicht in jungen Jahren verdrängt hat, kehrt mit zunehmendem Alter zurück. Sie hört Stimmen, die sie nicht schlafen lassen, weshalb sie immer wieder durch das Treppenhaus schleicht. Diese Wiederholungen beruhigen sie, zumindest solange sich nichts ändert. Das Riechen ist hier zweitrangig, nur eine weitere scheinbar absurde Handlung, die sie aber beruhigt.
Die Nachbarn, allen voran Adolf Schwalfenberg, kennen Helene, wohnen schon lange Tür an Tür mit ihr und haben sich an ihre "Marotten" gewöhnt. Einzig Schwalfenberg ahnt, welches Erlebnis Helene so zugesetzt hatte.

Das Gedicht hat sie vor vielen Jahren aufgeschrieben, um das Erlebnis zu "verarbeiten". Seitdem begleitet es sie, einmal in Form eines Zettels und einmal in ihrem Kopf (Stimmen).

Auf einmal ist etwas anders, jemand ist im Haus neu eingezogen. Diese Störung bringt sie aus dem Konzept, lässt sie "verrückt" werden.

Das Ende ist symbolisch gemeint, Schwalfenberg hält ihren Zettel/ihr Gedicht und somit ihr Erlebnis in den Händen und die Gewissheit, was er bisher nur ahnte.

---

Das Erlebnis, das ich Helene andichtete:
Mir hat vor langer Zeit ein älterer Herr von seinen Kriegserlebnissen erzählt. Auf meine Frage, was das Schlimmste für ihn war, antwortete er:
"Die Schreie der Kühe."
Ich: "Was war mit den Kühen?"
Er: "Wir sollten in einem abgelegenen Dorf die Stellung halten. Die Umgebung sichern. Wir schliefen auf einem verlassenen Bauernhof, die Kühe standen aber noch auf der Weide. Wo sollten sie auch sonst hin? Es war kalt, so kalt, dass alle Soldaten im Stall schliefen. Wir schliefen übereinander, weil nicht genügend Platz für alle da war. Nach einer gewissen Zeit fingen die Kühe an zu schreien, weil niemand sie gemolken hatte. Sie wurden rasend, wild. Keiner von uns traute sich hin. Was sollten wir machen? Sie erschießen und somit verraten, wo wir sind? Wir brachten es auch nicht übers Herz, sie abzustechen. Aber die Schreie, sie schrien wie Menschen in höchster Not. Die Schreie haben uns verrückt gemacht."

 

Frau Helenes Papierkorb

Mann, das wäre doch eine gute Geschichte, in der du auch noch richtig Spannung reinbringen könntest. ;)

Nach deiner Erklärung kann man deinen Plot nachvollziehen.
Aber auf den Krieg wäre ich nie gekommen.
Eher, dass deine Prot mal auf einem Bauernhof gelebt hat.
(hat sie ja wohl auch)

Also, man liest sich :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Alessandra,

manche Geschichten sind "nur" deshalb gut, weil sie der Auslöser für einen Film im Kopf des Lesers sind. In diesem Sinne ist Frau Helenes Papierkopf eine sehr gute Geschichte. Ich bin mir sicher, dass jeder Leser dieser Geschichte einen anderen Film sieht. Kriegserlebnisse kamen in meinem Film auch nicht vor. Aber die Geschichte ist nicht aus dem o.g. Grund eine gute Geschichte. Sie ist vor allen Dingen gut geschrieben. Eine adäquate Sprache, geheimnisvolle Andeutungen, die für mich den Spannungsbogen hoch halten.

Ach Gott, die arme Frau Helene hat mir beim Lesen schon leid getan. Schön, wie Du mit wenigen Worten dargestellt hast, dass sich die Bewohner des Hauses schon so an diese Frau und ihre Verrücktheiten gewöhnt haben. Da schwingt sehr viel Liebe der Autorin für ihre Protagonisten mit.

Einen kleinen Vertipper hab ich noch gefunden.

Mit dem Papier in der Hand, beugt sie sich hinunter und steckt es in den rechten Schuh.
Das Komma kannst Du streichen.

Diese Geschichte erinnert tatsächlich ein wenig an Poe. Am meisten fasziniert hat mich der Satz

Helene ist noch nicht fertig, sie setzt ihren Abgang fort.
Das ist im Sinne der Geschichte so doppeldeutig, dass es schon fast genial ist.

Freue mich schon auf mehr...

Liebe Grüße
George

 
Zuletzt bearbeitet:

@coleratio
Ja, die Geschichte hat Stoff für mehrere Geschichten.

Hi George Goodnight,

hach, ein herzliches Dankeschön. So ein Lob ist wohltuend. :)
Das überflüssige Komma werde ich jetzt löschen.

Lieber Gruß

Alessa

 

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