Freunde
Max war acht Jahre alt und spielte täglich auf dem Hof, der von einem Rettungsdienst als Abstellplatz für seine Fahrzeuge genutzt wurde. Der Junge wohnte mit seiner Familie im Haus dahinter. Heinz, Zivildienstleistender, war 22 und fuhr für besagten Rettungsdienst kranke Leute durch die Gegend. Mehrmals am Tag traf er auf den spielenden Max, wenn er gerade mal wieder von einer Tour zurückkehrte. Die beiden verstanden sich prächtig. Heinz machte immer Scherze, über die sich der Kleine köstlich amüsierte. Das währte so lange, bis der junge Mann seinen Zivildienst beendete. Er verließ den Ort und zog in die Stadt.
Es vergingen einige Jahre. Heinz war nun schon Mitte dreißig, stattete hin und wieder aber noch seiner alten Heimat einen Wochenendbesuch ab. Gern ging er dann mit den Kumpels von früher in die Dorfdisko. Während seines letzten Besuchs traf er dort auf einen Glatzkopf in Bomberjacke und Springerstiefeln, der ihn am Eingang der Diskothek im alkoholisierten Zustand unsanft anrempelte. Anstelle einer Entschuldigung folgten ebenso unsanfte Worte:
„Hey, du Zecke! Pass gefälligst auf, wo du hinlatscht – Penner!“
Auf Glatzen reagierte Heinz äußerst sensibel. Angst hatte er keine, seine zehnjährige Kampfsporterfahrung verlieh ihm die nötige Selbstsicherheit für derartige Situationen. Nein, eher noch neigte er dann zur Provokation, insbesondere wenn er selbst Alkohol getrunken hatte, was an diesem Abend der Fall war.
„Sieh dich vor, Scheißnazi! Auf Typen wie dich habe ich heute Abend richtig Bock!“
Diese Sätze bildeten den Auftakt zu einem Handgemenge. Der Glatzkopf packte Heinz an den Kragen, der konnte sich jedoch blitzschnell befreien und wartete auf weitere Kampfhandlungen seines mehr als zehn Jahre jüngeren Gegners. Zu jedem Angriff hatte Heinz eine adäquate Verteidigung parat, die den Mann in Springerstiefeln stets ins Leere laufen ließ, ihn der Lächerlichkeit preisgab.
Natürlich hatte sich inzwischen Publikum angesammelt. Vor so vielen Leuten – darunter waren seine Freundin sowie die Kameraden aus der lokalen Neonaziszene – konnte sich der Skinhead nun wirklich nicht von einer um einiges schwächer als er anmutenden alten „Zecke“ herumschubsen lassen. Die Ausweglosigkeit aus dieser peinlichen Lage trieb ihn zu einer folgenschweren Entscheidung, die sich innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde unter seiner Glatze vollzog: kurzes Aufblitzen einer Klinge, ein gewaltiger Stoß mit derselben…
Heinz hatte einen Augenblick lang nicht aufgepasst. Er war sich seiner Sache zu sicher gewesen. Jetzt stöhnte er schwer. Das Stöhnen vermischte sich mit schmerzvollem Jammern. Er lag auf dem Boden und versuchte vergebens, das Blut zurückzuhalten, was da aus seinem Bauch heraustrat. Polizei und Rettungsdienst – übrigens derselbe, bei dem der Ex-Zivi früher gearbeitet hatte – waren schnell vor Ort. Die Sanitäter kamen für ihren ehemaligen Kollegen jedoch zu spät. Max indes wurde von der Polizei abgeführt. Wen er da auf dem Gewissen hatte, war ihm nicht klar. Auch Heinz wird den Namen seines Mörders nicht mehr erfahren. Dass die beiden einmal Freunde waren, weiß Gott allein.