Was ist neu

Friseure, Friseure

Seniors
Beitritt
12.02.2004
Beiträge
1.235
Zuletzt bearbeitet:

Friseure, Friseure

Der Beruf des Gesellschaftsreporters bringt es mit sich, dass man mit Menschen aus den verschiedensten sozialen Schichten in Kontakt kommt, und dabei Zeuge so mancher Entwicklung wird; obwohl man versucht, solche Gedanken zu meiden, und Teilnahmslosigkeit und Desinteresse hinter einem gleichbleibend professionellen Grinsen zu verbergen. Aber manche Entwicklungen drängen sich förmlich auf. So ist mir zum Beispiel aufgefallen, dass sich in Innsbruck in jedem dritten Haus ein Friseursalon befindet. Wie kann das sein? Läuft nicht ein Gemeinwesen, dessen Bevölkerung zur Hälfte aus Friseuren besteht, Gefahr, an wirtschaftlicher Dynamik zu verlieren?

Ich nehme auf dem Drehstuhl Platz, und ein eher dunkler Typ mit Haaren, gefärbt wie Vanilleeis, das Gesicht gepierct, den Hintern in engen Leggins, reicht mir seine weiche Hand und stellt sich vor: „Hallo, I bin da Rooobert.“
Er inspiziert meinen Kopf von allen Seiten, fährt mit einem harten Kamm fordernd durch mein Haar, und fragt noch, wie ich es haben will, ehe er mit affektierten Bewegungen beginnt, mir klipp-klapp, klipp-klapp, klipp-klapp die Haare zu schneiden. Und während seinen weichen Hände sich an meinem Kopf zu schaffen machen, frage ich, warum es in Innsbruck so viele Friseure gibt. Er hält kurz inne, blickt mich erstaunt durch den Spiegel an, und erzählt dann schicksalsergeben mit seiner lebhaften Plauderstimme, was er darüber weiß:

Noch 1950 gibt es in der ganzen Stadt keinen einzigen Friseur. Der typische Tiroler von damals schert sich das Haupthaar nicht. Er trägt stattdessen einen Tirolerhut, und über die speckige Lederhose hängt ihm ein urwüchsiger Bart. Die Frauen flechten sich Zöpfe. Nie würde es ihnen in den Sinn kommen, sich die Haare abzuschneiden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ändert sich das, weil die Franzosen von der Idee besessen sind, man müsse den Leuten erst einmal die Haare schneiden, bevor man mit Wiederaufbau und Demokratisierung beginnen könne. Die Überlegung ist natürlich grundfalsch: Nimm einem Menschen die Haare, und du bekommst einen Skinhead.

In den folgenden Jahrzehnten greifen die zornigen jungen Leute zur Schere. Der Friseurberuf wird zum Ausdruck des sozialen Protests. Wer Haare schneidet, zeigt damit den radikalen Bruch mit den Werten der Väter. Haareschneiden als progressiver Akt! Gesellschaftspolitik findet nicht nur in, sondern auch auf den Köpfen statt.
In dieser Zeit wird Haareschneiden erstmals zum ökonomischen Faktor. Die Friseure erobern sich ihren Platz in der Wirtschaftskammer, und damit die Achtung ihrer Mitmenschen („Achtung“ und „Ächtung“ sind ja praktisch dasselbe, was man schon daran sieht, dass sich die Worte nur durch zwei kleine Punkte unterscheiden).
Immer mehr junge Leute drängen in den Beruf. Das Geld beginnt zu fließen. Die Gesellschaft entdeckt den Friseurbesuch als Freizeitvergnügen, als Möglichkeit zu langen Gesprächen, als Ausdruck eines neuen Lebensgefühls...

„Deshalb also trifft man heute in dieser Stadt kaum jemanden mit Haaren auf dem Kopf,“ murmle ich. Robert lacht spitz auf und bürstet mir den Kragen ab. Nicht weit von hier liegt ein großer Busparkplatz. Die Leute kommen von weit her, um sich die Haare schneiden zu lassen. Kolonnen von Japanern reisen mit schwarzen Wuschelköpfen an, und fahren mit den neuesten Trendfrisuren wieder fort. Die besten Friseure der Welt treffen sich hier, und nirgendwo sonst bekommt man es so billig.

In der Erwachsenenbildung machen Kurse über Waschen, Schneiden, Legen, Dauerwellen, Färben, Biologie des Haares, Struktur des Haares, ... den größten Teil der Kurse aus, weil es ökonomisch keinen Sinn machen würde, ein anderes Gewerbe zu betreiben als das des Friseurs. Nur Sonderlinge beschäftigen sich noch mit Informatik und Betriebswirtschaft. Der gesellschaftliche Druck auf sie nimmt zu.

„Es macht fünf Euro,“ sagt Robert mit anzüglichem Blick. Nirgendwo sonst ist der Anteil der Schwulen an der Gesamtbevölkerung so hoch wie hier. Ob das etwas mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun hat? Das Wort „Tiroler“ ist ja mittlerweile fast ein Synonym für „Schwuchtel“.
„Sechs für dich, Süßer,“ sage ich, wie es dem guten Ton entspricht, schlüpfe in meine Jacke und trete auf die Straße hinaus, wo unbeteiligte Passanten mit grotesken Frisuren an mir vorübergehen. Schulmädchen mit neongelben Haaren laufen vorbei. Eine Studentin mit Glatze scheint sagen zu wollen: Seht mich an! Ich habe kein einziges Haar auf dem Kopf, und doch nichts von meiner Weiblichkeit verloren.

Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass ich mich beeilen muss, um rechtzeitig zur Pressekonferenz zu kommen: Bürgermeisterin Hilde Zach nimmt Stellung zu dem Gerücht, sie habe ein Verhältnis mit ihrem Friseur. In einer anderen Stadt als dieser würde man ihre hoch toupierte Frisur gelinde gesagt als gewagt empfinden...

 

Hallo Fritz,

super Geschichte, habe mich sehr amüsiert. Insbesondere verliert die Geschichte nicht den Faden, was bei diesem Stil sehr leicht passiert (wahrscheinlich, wenn man jede Pointe ausnützen will, die einem so durch den Kopf geht), sondern sie kommt auf den Punkt.

Gruß, Alli

 

DerGuteFritz sei gegrüsst.

Gute Geschichte, gute Länge, habe mich prima amüsiert.

Wortwahl und Satzstellungen verlangen ein aufmerksames Lesen.
(Im positiven Sinn zu verstehen.)

Könnte auch unter Satire stehen. (Gibt es in Innsbruck tatsächlich mehr Coiffeursalons als Hundekot auf den Trottoirs?)

Lieben Gruss
dotslash

 

Danke für Eure kompetenten Kommentare ;)

filechecker:
Über die unschönen Wortwiederholungen werde ich nachdenken.
Der Absatz, den Du lieber im Präteritum sehen würdest, steht im historischen Präsens.
"Vor sechzig Jahren gibt es in der ganzen Stadt keinen einzigen Friseur" würde seltsam klingen. Du hast Deine grammatikalischen Lektionen gut gelernt. :)

Euer ergebener

Fritz

 

Hallo Karlheinz,

mit der Grammatik verhält es sich wie mit den Regeln in der Kunst. Wenn viele etwas für richtig halten, gilt es als richtig und wird in den Duden aufgenommen. Grammatikregeln sind keine Naturgesetze. Man darf das nicht so eng sehen.
Bayerisch hat andere grammatikalische und stilistische Regeln als Hochdeutsch. Host me? ;)

Fritz

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom