Mitglied
- Beitritt
- 30.08.2004
- Beiträge
- 2
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Fuss voran
I.
Ein paar Ameisen kitzeln meine Füsse, während sie geschäftig über meinen Fuss krabbeln, auf der Suche nach Nahrung oder Baumaterial. Regelmässig stehe ich hier auf der Fussgängerbrücke, die über den sachte fliessenden Fluss führt. Am blauen Geländer lehnend und leicht erregt auf den Sprung ins Wasser wartend - in den Feierabend eintauchen.
Die Arbeit hinter mir lassen.
Den Alltag hinter mir lassen.
Andere trinken wohl ein Glas Wein, oder rauchen eine Zigarette auf ihrem Balkon. Für mich ist es der Sprung ins Wasser, der mir die Entspannung schenkt. Der meine Sinne reizt, mich leichter macht, den Lärm verschluckt.
Noch nie sind mir die Ameisen auf der Fussgängerbrücke aufgefallen. Heute scheint mir die Welt klarer zu sein. Die Umrisse sind schärfer. Die Geschäftigkeit meiner Umwelt verlangsamt. Links über mir hupen Autos, rechts bewegen sich die Blätter der Bäume, die sich entlang des Ufers ziehen. Ich liebe dieses Urban-ländliche in dieser Stadt. In meiner Nase richtet sich gemütlich der Duft nach gegrilltem Fleisch ein und in mir breitet sich dieses Gefühl der Leere aus, die gefüllt werden möchte. Habe ich nun Hunger, oder ist es nur die Lust nach der Befriedigung meiner gereizten Sinne?
Links und rechts neben mir klettern zwei junge Männer und ein noch jüngeres Mädchen auf das Geländer. Obwohl das Mädchen so nah ist, dass sie mich fast berührt, nimmt sie mich nicht wahr. Ich kann es ihr nicht verübeln, denn es ist schon einige Jahre her, als dass ich für die Jungs ein Rivale darstelle und definitiv zu lange her, als dass die junge Frau etwas anderes wahrnimmt, als einen hageren, verbitterten Mittdreissiger, der mehr Haare auf dem Rücken, als auf dem Kopf hat. Der sicher mal ganz attraktiv war, doch dessen Jagdtage gezählt sind.
Die junge Frau, deren Bikini für ihre üppige Oberweite viel zu klein ist, stürzt sich mit einem schrillen Schrei, der nur jungen Frauen eigen ist, ins Wasser. Der Schrei, der wohl symbolisieren soll, dass sie ängstlich ist und Hilfe braucht. Gerettet werden will. Nicht allein sein will. Einen starken Mann herrufen soll, der zu ihr schwimmt und sie in seine Arme nimmt. Geborgenheit vermittelt. Sie beschützt und der sie ans Ufer trägt.
Die jungen Männer verstehen den Schrei. Ihre Brust schwillt an und aus Freunden werden Rivalen. Sie stürzen sich, mit ritterlicher Miene, Kopf voran ins Wasser und schwimmen, wild um sich schlagend, der jungen Frau hinterher, um die holde Jungfrau vor dem Drachen zu retten.
Die Natur funktioniert doch immer wieder. Den Rest ihres Lebens versucht sie dann, ihrem Helden klar zu machen, dass sie eine unabhängige, starke Frau ist, die selbst über ihr Leben entscheiden kann.
Mir wird bewusst, dass ich schon lange am Geländer stehe und dass sich bereits die Leute am anderen Ufer tuschelnd über mich unterhalten. Das stört mich nicht, denn ich geniesse es hier zu stehen um mein Umfeld in mich aufzunehmen. Die Sonne, die meine Haut streichelt und sie aufheizt – ohne mich eingecremt zu haben. Das kümmert mich nicht mehr.
Mit einem schrillen Schrei spring ich ins Wasser. Fuss voran.
II.
Mein Körper verdrängt das Wasser. Das kalte Wasser schockt meine Haut, umschliesst meinen Körper und schliesst sich über mir. Ich halte die Augen geöffnet. Sehe nur trübes Wasser – dunkles grün. Der Lärm ist verschwunden und anstelle tritt ein angenehmes, gleichmässiges Rauschen. Instinktiv möchte ich nach Luft schnappen, doch dieser erste Reflex vergeht schnell. Das Wasser versucht mich nach oben zu treiben. Doch mit wenigen Armbewegungen fällt es mir leicht unter der Oberfläche zu bleiben.
Hier habe ich in jungen Jahren schwimmen gelernt, als mich mein Vater nach tagelangem aber ergebnislosem Überreden mit seinen starken Armen einfach an sich drückte und mit mir ins Wasser sprang, mich dann losliess und ich um mein Leben strampelte und wild um mich schlug. Nicht nur aus Panik, sondern gepaart mit Wut auf meinen Vater und die Situation in die er mich brachte. Ich hasste es schon damals, wenn ich mich nicht genügend und sorgfältig genug auf eine Situation vorbereiten konnte. Diese Gefühle ebbten ab, als ich bemerkte, dass ich die ganze Zeit an der Oberfläche blieb – schwamm, und mein Vater mit strahlendem Gesicht hinter mir war – keine Armlänge von mir entfernt. Mit Stolz erst beim übernächsten Treppchen aus dem Wasser stieg und mit erhobenem Haupt befriedigend bemerkte, dass meine Mutter mich beobachtet hatte und jetzt mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck auf mich zulief und mich an ihren Busen drückte. Getrübt hat diesen Augenblick des Triumphes nur, dass sie anscheinend böse auf meinen Vater war, da sie fürchterlich mit ihm schimpfte. Auf eine Weise, wie sie es nur mit mir tat, wenn ich am Dachrand unseres Wohnblocks Papierflieger starten liess.
Hier presste sich mein Gesicht auch auf einen anderen Busen. Am Ufer dieses Flusses verlor ich meine Unschuld. Auf Gras, zwischen Sträuchern unter einer Birke. Brennnesseln und wilde Himbeeren von mir fein säuberlich befreit. Auf einer Decke, die ich für diesen Anlass gekauft hatte und die ich im Gebüsch in einer Plastiktasche bereitgelegt hatte. Ich war Student und teilte, wie meine Gefährtin auch, mein Zimmer mit Wohnpartnern. Also blieb uns nichts anderes, als uns im Mondlicht, umgeben von Mücken, zu vereinen. Unser Beischlaf war, wenn auch ein wenig verkrampft, sehr schön und wir wiederholten dies noch einige Male. Wir mochten uns sehr und es bestand eine starke, erotische Anziehungskraft zwischen uns. Wir genossen unsere Zeit. Uns war jedoch bewusst, dass wir nicht aus Liebe beieinander lagen. Das war gut so. Denn wir verstanden uns gut und uns war das Studium wichtig. Wir genossen einfach die Abwechslung zwischen Uni und Lernen.
Mit Freunden feierte ich hier auch ausgiebig den Abschluss meines Studiums und durch Alkohol befreit malten wir uns bis zum Morgengrauen ausgelassen unsere berufliche Zukunft und unsere privaten Pläne aus. Befreit von der Anstrengung des Studiums und noch genug entfernt vor den Sorgen des beruflichen Lebens, genoss ich die Freiheit und das Sein des Lebens. Nie zuvor, noch je danach, empfand ich wieder das gleiche Gefühl von Freiheit und Leichtigkeit.
An diesen Ort kam ich, als mich die Direktion meiner Bank zu einem Mitglied beförderte. Hier sass ich und schaute ins Wasser. Mit tiefster Zufriedenheit und ehrlichem Stolz war ich meinen Zielen näher als mein Plan es für möglich hielt. Natürlich habe ich hart an meinen Zielen gearbeitet. Natürlich hatte ich wenig Zeit für meine Familie, für meine Freunde oder gar für Zweisamkeit. Aber glücklich beobachtete ich die Reflexionen der Sterne und fühlte eine Befriedigung in mir, die ich nie zuvor gekannt hatte.
Hier traf ich auch Julie. Unplanmässig. Nicht, dass ich meine Pläne wegen ihr aufgegeben hätte. Aber sie brachte mich doch dazu, sie ein wenig zu modifizieren.
An einem Feierabend wie diesen trafen sich unsere Blicke. Sie hat mir zugelächelt. Ich habe auch gelächelt. Mehr nicht. Ich wusste, dass sie die nächsten Abende auch kommen wird und mich suchen würde. So war es auch. Das erste Mal in meinem Leben habe ich mich in ein Lächeln verliebt. Erst später dann in die Frau. Sie war schon damals krank. Nur wussten wir das nicht. Sie hätte mich gerne spontaner gehabt.
Jetzt bin ich es. Ich tauche im Anzug und mit Krawatte im Fluss. Ihr Gesicht sehe ich vor mir. Ich atme tief ein.
Das Wasser ist kalt und meine Lungen verkrampfen sich. Sie sind es nicht gewohnt eine solch schwere Last zu pumpen. Doch die Kälte hält nur einen Augenblick und Wärme breitet sich aus. Dunkelheit überkommt mich. Doch im letzten Schimmer sehe ich noch ihre Arme, die sich mir entgegenstrecken.