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Gebetskreis

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24.08.2003
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Gebetskreis

Gewidmet gnoebel, ohne den ich diese Idee niemals aufgeschrieben hätte. Das hast du jetzt davon!​

Ein stickiger Raum im dritten Stock eines riesigen Gebäudes. Eine Fliege summte durch ein offenes Fenster. Wie sie dort hinaufgekommen war, wusste sie nicht. Auch nicht, warum sie dort war.
Aber auf einem Tisch lagen einige leckere Krümel. Die Fliege surrte hin, registrierte nebenbei, dass der Raum voller Menschen war – Unterhaltung beim Frühstück.
Die Fliege setzte sich, kratzte sich mit einem Hinterbein hinter dem Vorderbein und begann dann mit dem Verzehr eines der Krümel.
Was die Fliege nicht wusste, war, dass Mittwoch war. Fliegen interessieren sich nicht besonders für so etwas. Es hätte auch keine Bedeutung gehabt, wenn nicht außerdem noch die große Pause gewesen wäre.
So war der Raum voller Menschen. Die Veranstaltung nannte sich Gebetskreis, war aber eher so etwas wie Brot und Spiele für die unteren Jahrgänge des Theodor-Storm-Gymnasiums. Auch einige ältere Schüler saßen auf Stühlen, Tischen und Fensterbänken.
Die Fliege surrte interessiert näher und setzte sich auf etwas Großes, Schwarzes, das sich von Zeit zu Zeit bewegte. Sie wusste nicht, dass sie einen Logenplatz hatte.

Etwa zwanzig Schüler verschiedenster Altersstufen blickten verständnislos an die Tafel.
„Seht ihr diese Formel?“, fragte Isabella.
„Gebetskreis - Chemiekreis“, witzelte einer der Fünftklässler.
„Mit der Formel ist es genau so wie in der Bibel.“
Einige der Zuschauer kicherten ungläubig, aber noch war es relativ still im Raum.
„Was hat die Bibel mit Chemie zu tun?“, fragte ich. „Explodiert sie, wenn ich sie Herrn Pieters gebe?“
Jetzt lachten viele. Herr Pieters hatte keine Augenbrauen.
„Ja, das wollen wir euch ja erklären, aber ihr lasst uns ja nicht zu Wort kommen“, beschwerte sich Isabella. Ich schenkte ihr einen jener Blicke, die meine Klassenkameraden als „merkwürdig“ bezeichneten.
„Ja, a… also, mit dem Chemiebuch ist es genau wie mit der Bibel.“
„In der Bibel steht also, wie Kupfer mit Sauerstoff reagiert?“, wollte derselbe Fünftklässler wissen, der vom Chemiekreis gesprochen hatte. In meinen Gedanken hieß er längst Mister Witzig.
„Nein. Aber in der Bibel stehen Dinge, die man nur verstehen kann, wenn man die Grundlagen kennt…“
„Und wer bringt mir diese Grundlagen bei?“, fragte ein anderes Mädchen.
„Naja, es liegt doch auf der Hand. Wen fragst du, wenn du in Chemie etwas nicht verstehst?“
„Herrn Pieters…?“
„Genau. Und wer ist der Lehrer, den ihr fragen müsst, wenn es um die Bibel geht?“
„Herr Breiholt?“, schlug ich einen der meistgehasstesten Religionslehrer der Schule vor. Wieder brach Gelächter aus.
„Jesus!“ In Arabellas Stimme schwang ein unausgesprochenes „Amen“ mit. Als sie nervös am Reißverschluss ihrer Häkeljacke herumspielte, entblößte sie ein Shirt mit dem Schriftzug „Ich bin Gottes Bodenpersonal“.
„Also fragst du Jesus, wenn du etwas in Chemie nicht verstehst?“ Langsam begann es, Spaß zu machen.
„Ja.“
“Und das hilft?“, wollte ein kleiner, blasser Junge mit Harry-Potter-Brille wissen.
„Ja, weißt du, jedes Mal, wenn ich anfange, zu lernen, bete ich zu Gott.“
„Und Gott erklärt es dir, wenn du es nicht verstehst? Oder macht das Jesus?“
„Wenn Gott nicht will, dass ich etwas verstehe, dann kann ich es ja auch nicht verstehen. Irgendeinen Grund wird er schon haben“, erwiderte sie fromm.
„Ist eine gute Ausrede für eine verpatzte Mathearbeit“, rief jemand. Wieder lachten alle. Ich begann langsam, Isabellas Mut zu bewundern, mit dem sie sich den Massen stellte und ihren letzten Rest Menschenwürde ihrem Spott aussetzte.
Herr Schmidt saß in der Ecke und beobachtete die Debatte interessiert. Ich hatte kurz überlegt, heute einmal Isabellas Partei zu ergreifen, aber ich wollte meine fünfzehn Punkte in Philosophie nicht aufs Spiel setzen. „Wer an Gott glaubt, ist hier falsch“, pflegte Schmidt mit einem agnostischen Grinsen zu sagen, wenn er den armen Gläubigen mit seiner Rhetorik ans sprichwörtliche Kreuz nagelte.
„Wenn du also in einer Mathematik-Klausur sitzt und keine Ahnung hast, was tust du dann?“ Ich hatte sie.
„Dann bete ich zu Gott.“
„Und Gott hilft dir?“
„Ja!“
„Er sagt dir, was du schreiben sollst?“
„Ja!“
„Weißt du, Isabella“, es war totenstill im Raum, das Publikum hatte Lunte gerochen, „nur, weil du Stimmen hörst, muss es nicht Jesus sein.“
Der ganze Raum brüllte los. Herr Schmidt zeigte mir einen Doppeldaumen. Ich lächelte selbstzufrieden.
“Du solltest dich untersuchen lassen“, brüllte ein Unterstufler.
Sie wurde nicht einmal rot. Dann erlöste sie das Klingelzeichen.
Nachdem die Unterstufler wie eine Stampede aus dem Raum getrampelt waren, kam sie zu mir.
“Und Gott hilft dir in Mathe?“, hakte ich noch einmal nach.
Sie nickte.
„Dann muss ich das auch mal versuchen.“ Man hätte den Sarkasmus aus meiner Stimme wringen können.
Isabella strahlte. „Du bist auf dem richtigen Weg!“
Ich wollte beten, dass Herr Schmidt das nicht gehört hatte, aber ich wusste nicht, zu wem.

Die Fliege summte davon, als das Große Schwarze sich zu bewegen anfing. Die Show war interessant gewesen.
Ganz kurz bevor einer der Menschen das Fenster schloss, schwirrte sie hindurch. Hinaus, in die Freiheit. Es war Mittwoch. Aber das war der Fliege egal.

 

hi filechecker,

okay - wenn du meinst! ich hatte auch überlegt, ob ich die geschichte vielleicht unter "gesellschaft" poste, dachte mir dann aber, vielleicht kann jemand drüber lachen.

sie ist nämlich real...

gruss
vita

 

Moin vita,

juppiee... ich wurde bewidmet :bounce:

Davon abgesehen würde ich filechecker gerne in fast all seinen Punkte widersprechen. Ich fand die Geschichte nämlich durchaus witzig.
Die Einleitung mit der Fliege gefällt mir sehr gut (natürlich tut sie das...), sie könnte aber meiner Meinung nach noch ein paar mehr Auschmückungen erhalten. Ob die Fliege nun weiß, warum sie da ist oder, spielt für mich keine Rolle, ich fand sie gelungen. insbesondere, da du am Ende noch mal drauf zurückgekommen bist.
aber, und da stimme ich dem filechecker zu, das "große Schwarze" hab ich auch nicht so ganz verstanden. Irgendein Kopf vermutlich - aber wessen? Dre der Erzählerin? Da würde ich irgendwie für Klarheit sorgen. Laß doch die Erzählerin am Ende die Fliege verscheuchen oder so...

Textarbeit:

Was die Fliege nicht wusste, war, dass Mittwoch war.
Tolle Idee (hätte von mir sein können, verdammt...), aber der Satz holpert. Vorschlag: Die Fliege wußte natürlich nicht, daß Mittwoch war.
"Gebetskreis - Chemiekreis", witzelte einer der Fünftklässler.
Das ist das Problem, wenn man real erlebte Geschichten niederschreibt. Da ich als Leser keine Ahnung habe, wie das Tafelbild aussah, kann ich auch nicht nachvollziehen, wie der Kerl auf diese Bemerkung kommt. Somit ist diese Pointe bei mir verpufft. Beschreiben oder weglassen.
"Was hat die Bibel mit Chemie zu tun?", fragte ich. "Explodiert sie, wenn ich sie Herrn Pieters gebe?"
Jetzt lachten viele. Herr Pieters hatte keine Augenbrauen.
Der Gag gefällt mir nach wie vor. Aber du hattest ihn letztens noch als Dialog, wenn ich mich recht entsinne:
"was hat die Bibel mit Chemie zu tun?", fragte jemand.
"Sie explodiert, wenn ich sie Herrn Pieters gebe."

In dieser Form (die natürlich auch nur ein Vorschlag ist), würde der Gag mMn vom Timing her besser kommen. und den letzten Satz (jetzt lachten viele) würde ich auch weglassen.
"Dann muss ich das auch mal versuchen." Man hätte den Sarkasmus aus meiner Stimme wringen können.
Da fehlt mir eine Pointe. Der Satz wirkt so, als müßte da noch irgendwas kommen (weil es ja sarkastisch gemeint war). Weil da aber nichts mehr kommt, hängt der Satz irgendwie in der Luft.
Es war Mittwoch. Aber das war der Fliege egal.
:thumbsup: sehr schön.

Insgesamt eine handwerklich astreine Geschichte, die mich auch gut unterhalten hat. Wenn du noch ein bißchen am Timing deiner Pointen (die mir an sich gut gefallen haben) feilst, kannst du aber sicher noch mehr rausholen. Ein Beispiel habe ich ja mit der Augenbraue genannt.

 

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